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2. Was heißt „Realismus“?

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„Realismus“ in Umgangs- und Wissenschaftssprache

Das Wort (und die übrigen Worte des entsprechenden Wortfeldes, also „Realist“ „realistisch“, etc.) teilt mit vielen anderen den Doppelcharakter als zugleich alltagssprachlicher und wissenschaftlich-terminologischer Begriff, und der gute Vorsatz einer säuberlichen Trennung beider Verwendungsweisen ist ebenso richtig wie zwecklos: Was bei anderen Begriffen problemlos gelingt – im Kontext des Redens über das Theater hat z.B.

Unschärfe des umgangssprachlichen Begriffs

„Akt“ eine andere Bedeutung als im lebenspraktischen Bereich, und die Trennung beider Bedeutungen ist bei einiger Aufmerksamkeit einfach –, funktioniert hier nicht, weil die alltagssprachliche Bedeutung sich immer wieder auf den Gebrauch des Wortes in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Diskursen auswirkt.

In der Alltagssprache bezeichnet ‚Realismus‘ eine Haltung, die durch besonderen Sinn für das Wirkliche, Sachliche, Maßvolle, Angemessene und Machbare charakterisiert ist; es handelt sich um eine positiv bewertete Haltung, d.h. der Wortgebrauch offenbart eine autoritäre Geste.

Unterschiedliche wissenschaftliche Definitionen

So definiert einer der gegenwärtig gründlichsten Kenner der wissenschaftlichen Realismusdiskussion die alltagssprachliche Bedeutung (HA. 6). Diese Definition enthält ganz sicher nur zutreffende Bestandteile, lässt dabei aber auch erkennen, dass sich diese nicht, oder zumindest nicht immer, zu einer einheitlichen „Haltung“ addieren. Das probate Mittel der sprachlichen Oppositionsbildung macht das deutlich: Wenn „Realismus“ als Gegensatz zu „Phantastik“ verwendet wird, unterscheidet es sich von einem „Realismus“ der dem „Idealismus“ gegenübergestellt wird und noch einmal von dem Gegenteil von „Utopismus“, etc., und das gilt für den alltagssprachlichen Gebrauch ebenso wie für die wissenschaftliche Fachsprache. Dort aber wird das Problem noch vervielfältigt, da der Begriff in den unterschiedlichsten Disziplinen – von der Philosophie über Geschichts- und Sprachwissenschaft, Ästhetik bis hin natürlich zur Literaturwissenschaft – eine jeweils eigene Bedeutungsgeschichte aufweist, die dazu noch in den meisten Fällen kontrovers rezipiert wird.

„Wahrscheinlichkeit“ in der Novellendiskussion

Die Debatte um die Gattung Novelle hat die Kategorie der „Wahrscheinlichkeit“ etabliert seit Wielands (1733–1813) Forderung, dass sich ihre Handlung „weder im Dschinnistan der Perser, noch im Arkadien der Gräfin Pembroke (…) noch in einem andern idealischen oder utopischen Lande, sondern in unserer wirklichen Welt“ abspielen müsse, „wo alles natürlich und begreiflich zugeht, und die Begebenheiten zwar nicht alltäglich sind, aber sich doch, unter denselben Umständen, alle Tage allenthalben zutragen könnten“ (Wieland, 61). Dies, oder Goethes (1749–1832) Formulierung einer „sich ereigneten“ (s.S. 65) Begebenheit, erscheint als mögliche Grundlage eines literaturwissenschaftlichen Realismusbegriffes, ohne doch – wie allein schon Storms Schimmelreiter demonstriert – wirklich dafür zu taugen; denn auch der Bereich des Wahrscheinlichen verschiebt und verändert sich.

„Realismus“ als „relationaler Begriff“

Die Einsicht, dass es sich im Falle von „Realismus“ um einen „relationalen Begriff“ handelt, versprach, die Konfusion zu beenden, mindestens stark zu reduzieren: „Realismus ist im Grund überhaupt kein ‚Begriff’, vielmehr ein Bewegungsvorgang, ein ständiger, sich selbst variierender Annäherungsprozeß“ (Braun, 67), woraus sich logisch begründet, dass die eine Zeit als realistisch erklären kann, was von der anderen als unrealistisch verworfen wird. So wird man Mühe haben, Autoren zu benennen, die nicht irgendwann von irgendjemandem als „Realist“ bezeichnet worden sind, und jedes Mal mit gutem Recht: Denn selbst das phantastische Atlantis, in dem schließlich E. T. H. Hoffmanns (1776–1822) Held Anselmus (Der goldene Topf, 1814) sein Glück mit der lieblichen Serpentina findet, erweist sich aus der Sicht des Autors selbst als eigentliche‘ oder ‚wahre‘ Wirklichkeit.

Auflösung der Definitionsqualität von „Realismus“

Verschärft wird die Problematik noch durch die zahlreichen Bemühungen, den Realismusbegriff durch Epitheta zu differenzieren, um ihn unterhalb einer universalen Ebene doch wieder zu einer normativen Kategorie zu machen:

Vergleichbare „Realismus- Debatte“ nach 1945

In den Jahren nach Ende des zweiten Weltkrieges etwa konkurrierten in der literarischen und literaturkritischen Debatte Positionen – manchmal auch nur Bezeichnungen – wie „nackter Realismus“, „Realismus der Unmittelbarkeit“, „sozialistischer Realismus“, „magischer Realismus“, ergänzt durch Alternativbegriffe wie „Kahlschlag“, „Verismus“, „Neorealismus“. Und in der Diskussion um Heinrich Böll (1917–1985) entwickelte sich geradezu ein grotesker Reigen von Attributen, die den spezifischen „Realismus“ präzisieren sollten: „begnadeter“, kritischer, phantastischer, „überhöhter“, „sakramentaler“ Realismus, Milieurealismus, „Realismus gesellschaftlicher Erfahrung“ (Balzer, 38).

Konsequente Historisierung als Problemlösung

Eine konsequente Historisierung ist deshalb das einzig methodische Verfahren, der Begriffsverwirrung zu entgehen. Es ist hier, angesichts einer wie wenig genau auch immer abzugrenzenden historischen Epoche, ohnehin geboten.

Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus

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