Читать книгу Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus - Bernd Balzer - Страница 9
3. Der Bürgerliche Realismus
ОглавлениеBegriffsverwirrung auch für das 19. Jahrhundert
Nicht ohne weiteres reduziert das jedoch die Unsicherheiten in der Benennung, da sich in ihnen nicht ein Sprach-, sondern ein Einschätzungsproblem zeigt. Und so begegnet in der wissenschaftlichen Diskussion über die Literatur zwischen der Jahrhundertmitte und dem Fin de siècle das gleiche Phänomen der Komposita und Epitheta – „Realidealismus“, „Idealrealismus“ (HA. 23), „psychologischer, politischer und irrealer Realismus“, „empiristischer“, „kritischer, neokritischer, kämpferischer und kritisch-kämpferischer“, „vorindustrieller Realismus“ (HA. 26). Mit jeweils sehr guten Gründen wurden diese Benennungsvorschläge gemacht, und sie sind auch geeignet, jeweils einen bestimmten Sektor oder eine spezifische Sicht auf die in Rede stehende Literatur plausibel abzugrenzen – was ihre Tauglichkeit als übergeordnete Epochenbezeichnung aber in Frage stellt.
Plädoyer für „Bürgerlicher Realismus“
Das lässt sich auch gegen die Bezeichnung „Bürgerlicher Realismus“ einwenden, zu der ich hier zurückkehre:
Nimmt man (…) den Zusatz „bürgerlich“ rein als standesspezifische Kategorisierung des Seins und Bewußtseins der Schriftsteller im Zeitalter des Realismus, so müssen sich berechtigte Einwände einstellen; Stifter, Freytag, Spielhagen, Hebbel, Storm, Meyer, Fontane, von François, von Saar, von Ebner-Eschenbach lassen sich weder in ihrem Selbstverständnis und Lebensstandard noch in ihrem sozialen Sein (gemessen an Beruf und Einkommen) auf den Begriff des Bürgerlichen reduzieren. (HA. 25)
„Bürgerliches Trauerspiel“ als Parallele
Der Einwand ist berechtigt – ähnliche könnten aber auch z.B. gegen den Zusatz „bürgerlich“ im Falle der Gattungsbezeichnung „Bürgerliches Trauerspiel“ (vor allem im Blick auf die dramatis personae in den bekannten Stücken) erhoben werden. In diesem Fall hat aber die Verbindung einer moralisch-weltanschaulichen Position mit einer standesspezifischen Kategorie im Begriff des „Bürgerlichen“ so viel Plausibilität aufgenommen, dass die Einwände die substanzielle Gültigkeit der Gattungsbezeichnung nicht aufzuheben vermochten. Für den „Bürgerlichen Realismus“ zeichnet sich eine vergleichbare Resistenz ab:
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von den Zeitgenossen und wird im Rückblick als „Das bürgerliche Zeitalter“ (Palmade) angesehen:
Das practische Leben verdrängt das ästhetische; nicht mehr die Literatur, sondern der Staat und die bürgerliche Gesellschaft mit ihren unentbehrlichen praktischen Voraussetzungen, mit Handel, Gewerbe etc. bildet die wahre historische Aufgabe unserer Zeit. Auch diese Epoche, wir zweifeln nicht, wird dereinst ebenfalls ihre poetische Verklärung finden und eine neue klassische Poesie erzeugen, eine Poesie der Wirklichkeit, des Kampfes, der Arbeit (…).
Robert Prutz’ (1816–1872) Einschätzung in seiner Zeitschrift Deutsches Museum (II/177f.), formuliert 1852 als Erwartung eines ursprünglich am Jungen Deutschland orientierten Autors, hebt sowohl auf soziale („bürgerliche Gesellschaft“) als auch auf mentale und schließlich auf poetologische Kategorien ab mit dem für den Realismus zentralen Begriff der „Verklärung“.
Entmythologisierung das „Projekt Aufklärung“
Das ist natürlich schon mehr als eine „rein standesspezifische Kategorisierung“ (s.S. 12), lässt aber noch nicht die Verbindung mit einer moralisch-weltanschaulichen Position erkennen, was die Bezeichnung „bürgerlich“ für das „Bürgerliche Trauerspiel“ selbst bei adligen Protagonisten („Sir William“ in Lessings Miss Sara Sampson z.B.) rechtfertigte. Eine spezifische und unübersehbare „Interessenvertretung“ war dabei im Spiel, und ist es auch in diesem Fall. Und es ist auch nicht so bloßer Zufall, dass Konzepte eines Bürgerlichen Realismus exakt zu dem Zeitpunkt zu entstehen beginnen, als die Entwicklung des Bürgerlichen Trauerspiels mit Hebbels (1813–1863) Versuch seiner Erneuerung an ihr Ende gelangte, nämlich 1844. Der Zusammenhang ergibt sich natürlich aus dem Projekt Aufklärung, dessen Prinzip von Beginn an „Entzauberung der Welt“ (Adorno/Horkheimer, 7ff.) hieß und auf Verwissenschaftlichung des Denkens und Entmythologisierung setzte. Damit stand Aufklärung in Opposition zum Gottesgnadentum der Fürsten und Könige ebenso wie zu den Welterklärungsmythen der Religion, entsprach bürgerlichen Interessen und definierte vor allem bürgerliche Haltung und bürgerliches Bewusstsein.
Reaktionen auf die Französische Revolution
Die Hoffnung, dass aufklärerische Vernunft von selbst zur Rationalisierung der Macht in einem „Gesellschaftsvertrag“ und zur Humanisierung der Welt führen würde, hatte sich durch die Erfahrung der Französischen Revolution von 1789, und vor allem der darauf folgenden Schreckensherrschaft in Frankreich, zerschlagen: Die Herrschaft der Vernunft hatte in der Revolution nicht nur das Gottesgnadentum der Könige und Fürsten abgeschafft, sondern auch gleich die Vernunft mit und hatte sie durch Gewalt und Schrecken ersetzt. Die Wendung zur „Realpolitik“ nach 1848 war gleichsam ein neuer Anlauf, und in der Literatur zeigen sich die Parallelen: Das „Bürgerliche Trauerspiel“ hatte das Schicksal in der antiken Tragödie und im heroischen barocken Trauerspiel ersetzt durch menschliches Handeln in Gestalt des Intriganten. Die Debatte über die Literatur ab den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts und diese Literatur selbst zeigen, dass es in vergleichbarer Weise um Entmythologisierung und in noch viel stärkerem Maße um Verwissenschaftlichung ging. Nicht jeder hat dabei in standesspezifischem (schon gar nicht „rein“ standesspezifischem) Selbstverständnis gehandelt, gleichwohl hatten auch diese Autoren Teil an einem bürgerlichen Entwicklungsprozess.
Bürgerliche „Entzauberung der Welt“
Und alle wirkten mit an der aufklärerischen „Entzauberung der Welt“ in der Literatur mit dem Anspruch,
(…) es solle im Literaturwerk eine Welt dargestellt werden, die der Erfahrungswirklichkeit analog konstruiert und derart fähig ist, die Illusion einer ihr kommensurablen Wirklichkeit fiktiv herzustellen (FM. 347).