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5. Entmythologisierung: Strauß, Schopenhauer, Feuerbach und die Positivisten
ОглавлениеAufklärung und Religion
Mit dem Anspruch der Aufklärung war logisch notwendig Distanz gegenüber der Glaubensforderung der Religion verbunden. Kants Forderung, habe den Mut, Dich Deines Verstandes zu bedienen, implizierte die Infragestellung auch der christlichen Dogmen. Freilich verhinderten die tatsächlichen Machtverhältnisse in den deutschen Staaten, das im Gottesgnadentum der Herrscher wirksam werdende Zusammenspiel von Kirche und weltlicher Macht, dass dieser Widerspruch im 17. und 18. Jahrhundert öffentlich wurde.
Reimarus-Fragmente
Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) verzichtete sicherheitshalber auch auf die Veröffentlichung seiner Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, und als Lessing Teile davon 1774, sechs Jahre nach dem Tod des Verfassers ohne Nennung seines Namens herausgab, kam es zu einem Sturm der Entrüstung, der vor allem auch Lessing selbst traf. Und noch 1835, beim Verbotsbeschluss des Bundestages zu Lasten des „Jungen Deutschland“, wurde sichtbar, dass der Schutz der Kirche als unverzichtbares Element der Staatsraison erkannt wurde: Man warf den jungen Autoren vor allem vor, „die christliche Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden sozialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sitte zu zerstören“ (Houben, 63).
Gutzkows „Wally“ als Skandalon
Anlass dieses Beschlusses war Karl Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin (1835), dessen religionskritischer Appendix (Geständnisse über Religion und Christentum) den größten Anstoß erregte, war doch dort Jesus ein junger Mann, „unehelichen Ursprungs, Stiefsohn eines braven Zimmermanns“ genannt worden, dem war, „als müßte er einen Auftrag erfüllen, über den er zeit seines Lebens nicht im klaren war“ (Gutzkow, 272). Thema, inhaltliche Tendenz und Sprache verraten die Quelle:
Von David Friedrich Strauß zu Ludwig Feuerbach
David Friedrich Strauß (1808–1874). Dessen Buch, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, (2 Bde. 1835/36) beschrieb das Neue Testament als mythische Erzählungen, Produkt der innerhalb der primitiven orientalischen Urgemeinde „absichtslos dichtenden Sage“ (Graf, 249). In Strauß’ Absicht lag nicht etwa die Destruktion des Christentums, sondern er wollte den vernunftgemäßen Kern der Religion von den Überwucherungen mythischer Einkleidung befreien. Diesen Kern meinte er in der Versöhnung von Gott und Mensch zu erkennen. Das war ein Konzept, das dem von Reimarus ähnelte, teilweise wohl auch auf dessen Vorbild beruhte, ein Akt der Entmythologisierung, der weiterreichende Implikationen hatte, als Strauß beabsichtigte oder auch nur erkannte. Während er selbst in seinem weiteren theologischen Werk eine Vernunftreligion im pantheistischen Konzept eines allgegenwärtigen Gottes zu begründen suchte, wurde in der von ihm angestoßenen Debatte vor allem sein Argument wirksam, dass sich nicht in der mythisch überhöhten historischen Figur Jesus das göttliche Prinzip verkörpere, sondern im Menschen schlechthin.
Religionskritische Hauptwerke Feuerbachs
Den entscheidenden Schritt weiter ging in dieser Frage der Philosoph und Religionskritiker Ludwig Feuerbach (1804–1872). Seine Schrift Über das Wesen des Christentums (1841), seine Heidelberger Vorlesungen Über das Wesen der Religion (1848) und das Buch über die Theogonie (die Entstehung der Götter) von 1857 erfassten Gott (oder die Götter) als Projektion des menschlichen Wesens in eine imaginäre jenseitige Welt. Was der Mensch nicht ist, aber zu sein wünscht, das stelle er sich in den Göttern als verwirklicht vor: Götter sind also die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen. Das war die entschiedene Absage an jeglichen Idealismus und ersetzte ihn durch einen „Anthropologischen Materialismus“ (Schmidt 1967). Der Mensch als sinnliches, als „bekörpertes“ Wesen in seinem Handeln steht im Zentrum der Überlegung; ein diesseitiger Mensch, denn schon in den Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) hatte Feuerbach den Unsterblichkeitsglauben verworfen. „Gegen Hegels Begriffsdenken stellte Feuerbach die Sinnlichkeit des natürlichen Menschen, seines konkreten Wahrnehmungsvermögens in der diesseitigen natürlich-sinnlichen Welt“ (FM. 30), und schon 1843 fasste er die Grundsätze einer Philosophie der Zukunft in dem Satz zusammen: „Der Geist der Zeit oder Zukunft ist der Geist des Realismus“, seine Aufgabe sei „die Vergötterung des Wirklichen, des materiell existierenden“ (Feuerbach, 114).
Wie überzeugend sich das auch als philosophische Fundierung der literarischen Epoche präsentiert und in seiner zeitlichen Vorausschau programmatischen Charakter zu haben scheint, so ist es gerade in dieser Hinsicht zu relativieren.
Fritz Martinis Charakterisierung des Verhältnisses der Epoche zur Philosophie ist bislang noch nicht wirksam widersprochen worden:
Die Literatur nach 1848 ist der Philosophie entfremdet; die Führungsansprüche im öffentlichen Leben übernahmen die Politik, die Wirtschaft und die positivistischen Wissenschaften, die als Naturwissenschaften und Geschichtswissenschaft für das zeitgenössische Bewußtsein das geistige Leben repräsentierten (FM. 26).
Mangelnder Einfluss der Philosophie nach 1849
Der schon zitierte Satz Anton Springers, „Bis dahin mag das Denken ruhen und das Wollen seine Stelle vertreten“ (s.S. 7), bestätigt die Einschätzung, und ein direkter Einfluss Feuerbachs auf die Literatur ist, obwohl auch Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) und Berthold Auerbach seinen Heidelberger Vorlesungen beiwohnten, nur für den dritten Dichter seiner Zuhörerschaft, Gottfried Keller, zu konstatieren. Für den allerdings war dies ein einschneidendes Erlebnis, das die Gestalt des Romans Der grüne Heinrich ganz erheblich bestimmte (s.S. 98). Ein vergleichbarer Einfluss ist bei anderen Autoren nicht zu erkennen, auch nicht der durch andere Philosophen. Insofern bewahrheitete sich hier das berühmte Diktum von Karl Marx in seiner 11. Feuerbachthese über die Wirkungslosigkeit der Philosophie, die die Welt „nur verschieden interpretiert“ habe.
Das gilt im wesentlichen auch für einen philosophischen Zeitgenossen Feuerbachs, Arthur Schopenhauer (1788–1860).
Schopenhauer als Gegenpol zu Feuerbach
Sieht man die realistische Literatur und Kunst nach 1848 als Indiz bürgerlicher Resignation nach gescheiterten politischen Wunschvorstellungen, dann liegt es nahe, in Schopenhauers pessimistischer Philosophie eine Parallele oder gar eine geistige Grundlage zu sehen. Für ihn ist ausweislich der Thesen seines Hauptwerkes (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819), wirkliche Erkenntnis nicht möglich, und Welterfahrung deshalb Produkt subjektiver Vorstellung. Der gegenüber stehe das „Ding an sich“, das Schopenhauer den „Willen“ nennt, eine blinde, sinnlose Lebenskraft, die hinter allen Naturkräften steht, also auch dem Handeln der menschlichen Individuen. Als Konsequenz daraus sieht er die Menschen als „gequälte und geängstigte Wesen, welche nur dadurch bestehn, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist“ (Schopenhauer, 680). Seinen eigentlichen Ruhm begründete Schopenhauers Spätschrift Parerga und Paralipomena (1851), eine Lebenslehre, die lebenspraktische Konsequenzen aus der pessimistischen Weltsicht zieht, Selbstbescheidung, Askese, „Halbdistanz“ zum Leben empfiehlt. Mit diesem „letzten Werk hebt die große Wirkungsgeschichte S.s im 19. Jh. an. S. trifft das skept(ische) Lebensgefühl der von Fortschrittshoffnungen u. Vernunftidealismus ernüchterten bürgerlichen Welt nach 1848“ (Safranski, 371). Dies wäre erst noch zu beweisen, was bislang nicht geschehen ist.
Jedenfalls ist auch Schopenhauers Philosophie ein weiterer Teil des Entmythologisierungsprozesses zur Zeit des Bürgerlichen Realismus; denn religiösen, insbesondere christlichen Vorstellungen widersprach seine Weltsicht ganz entschieden.
Schopenhauer als „Ideologe“ des Pessimismus?
Wenn man Schopenhauer schon nicht als Vordenker einer generell resignativen Grundstimmung des Bürgertums nach 1848 reklamieren kann, so gibt es dennoch Überlegungen, die der gerade in Deutschland liebgewordenen idealistischen Vorstellung von der Vorbild-, oder gar Vorreiterrolle der Philosophie auf einem Umweg gerecht zu werden versuchen: Im „Anschluß an solche philosophischen Erklärungsmodelle“, so lautet die These, „begründete das Bürgertum seinen Rückzug in die Innerlichkeit, ausgelöst durch den erzwungenen Rückzug aus dem politischen Leben nach 1848“, nicht mit den politischen Machtverhältnissen, sondern mit „auf Schopenhauer zurückgehenden Denkmustern. Die Rezeption der Schopenhauerschen Philosophie bedeutete somit auch eine Legitimation für den freiwilligen, kampflosen Verzicht auf die politische Macht“ (SB. 85).
Distanz der Dichter auch zu Schopenhauer
Dass ausgerechnet in einer Zeit, die den „Rückzug aus der Philosophie“ (HW. 42) proklamierte, in nennenswerter Intensität nach philosophischer Legitimation gesucht worden sein soll, scheint auch im Hinblick auf Schopenhauer wenig plausibel. Für die Literatur lässt sich das auch wenigstens punktuell überprüfen, was Roy C. Cowen (*1930) getan hat:
Obwohl Raabe Schopenhauer gelesen hatte, stritt er eine Abhängigkeit vom Philosophen bei der Gestaltung seiner Charaktere ab. (…) Auch Fontane beschäftigte sich intensiv mit Schopenhauer spätestens seit 1873, nahm an „Schopenhauerabenden“ teil und besuchte 1874 Karl Ferdinand Wiesike, den Schopenhauer-Forscher (Cowen, 46f.).
Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung hat Fontane 1884 beschrieben:
Geistvoll und interessant und anregend ist alles (…) In originellen, anschaulichen, wirklich glänzenden und dabei meist amüsanten Vergleichen ist er ein Meister, aber trotz alledem kann ich nicht sagen, daß mich durchgehends das Gefühl begleitete: Du sitzt hier an den Quellen der Erkenntnis. Dies Gefühl habe ich, wenn ich Goethe oder Shakespeare oder Scott lese, unendlich mehr… (Font.Lit. 2/174).
Noch knapper und entschiedener formulierte er sechs Jahre später: „Hegel war ein Unglück, Schopenhauer ein Malheur“ (Font.Lit. 485).
Mit den logischen Schwierigkeiten der behaupteten gleichrangigen Wirkung Feuerbachs und Schopenhauers trotz gegensätzlicher Position hat man einerseits geographisch oder aber durch Hinweis auf die Zeitachse fertig zu werden versucht. Der Aufbruchselan der 50er Jahre wäre nach der zweiten Denkweise dem Einfluss Feuerbachs, der Pessimismus 20 Jahre später dem Schopenhauers zuzuschreiben. Die Binnenzäsur der Epoche – in den 60er Jahre ebenso verortet wie im Jahre 1871 – gewinnt so gewissermaßen „geistige“ Dimensionen.
Schopenhauers Wirkung in Österreich
Die unübersehbaren Unterschiede der österreichischen gegenüber der klein-, später dann reichsdeutschen Entwicklung bieten die andere Möglichkeit, nämlich die Gegensätze auf zwei Regionen zu verteilen. Daran besticht, dass tatsächlich „eine erstaunliche Häufung von Schopenhauer-Anleihen in der österreichischen Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte“ (PS. 60) zu finden ist. Und der Zusammenhang mit den „innen- und außenpolitischen Krisen des Landes (…) vor allem mit den verlorenen Kriegen von 1859 (gegen Italien) und 1866 (gegen Preußen)“ (SB. 82) ist nicht von der Hand zu weisen. Doch trotz der unbestreitbar großen Bedeutung, die Schopenhauer z.B. für das Werk Ferdinand von Saars (1833–1906) und anderer österreichischer Schriftsteller (Sacher-Masoch, Anzengruber, etc.) hatte, geht die geographische Aufteilung nicht auf. Und so bleibt eigentlich nur der Rückzug auf die generelle Widersprüchlichkeit bürgerlichen Bewusstseins:
Die Rezeption der Erkenntnisse Feuerbachs einerseits und der Thesen Schopenhauers andererseits spiegeln genau jenen Widerspruch, den auch das Bürgertum selbst kennzeichnete: (…) Die Haltung des Bürgertums, wenn nicht gar die gesamte bürgerliche Mentalität, ist genau durch diese beiden, einander widersprechenden Grundhaltungen gekennzeichnet (SB. 85).
Schweizer Schriftsteller und die Philosophie der Zeit
Damit wäre dann sogleich auch die Schweiz mit einbezogen; war es doch Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898), der seinen literarischen Erstling Huttens letzte Tage 1871 mit dem Motto versah: „ich bin kein ausgeklügelt Buch,/Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch“.
Die Stelle Schopenhauers als „Modephilosoph des Bürgertums“ (SB. 85) nahm zum Ende des Jahrhunderts Friedrich Nietzsche (1844–1900) ein.
Zeitlich parallel zu dem wie hoch auch immer bewerteten Einfluss der Antipoden Feuerbach und Schopenhauer erwartet man auch ganz andere Konzepte als maßstabgebend, wenn der neben der Entmythologisierung zweite wichtige Aspekt realisierter Aufklärung, die Verwissenschaftlichung des Denkens, ins Blickfeld rückt. Dabei hieß Verwissenschaftlichung Ausrichtung an naturwissenschaftlichen Denkweisen und Standards. Dass dies jedoch erst durch den Naturalismus verwirklicht wurde, ist bekannt und nicht nur an der berühmten Formel von Arno Holz (1863–1929) „Kunst = Natur – x“ ablesbar.
Wissenschaftliche Positivismus und realistische Literatur
Die entscheidenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und auch die darauf aufbauenden Theorien sind aber in der ersten Jahrhunderthälfte entstanden oder werden während der zweiten formuliert: Darwins (1809–1882) Erkenntnisse der Abstammungslehre waren 1860 in der deutschen Fassung erschienen, der Positivismus Auguste Comtes (1798–1857) und seines Schülers Hippolyte Taine (1828–1893), entwickelte sich in den 40er und 60er Jahren – aufgenommen wurde das erst von den Naturalisten, etwa durch Wilhelm Bölsches (1861–1939) Programmschrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887). Die Realisten orientierten sich wohl an der Exaktheit der Naturwissenschaften, an der intersubjektiven Gültigkeit ihrer Erkenntnisse, ihrer Abweisung der Metaphysik; die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden kam für sie nur in seltenen Fällen in Frage, sahen sie doch in ihrer Kunst einen alternativen, durch die Naturwissenschaft nicht ersetzbaren Modus der Erkenntnis. Zwar gibt es im Hinblick auf Adalbert Stifter die These, er stehe für „Poesie aus dem Geiste der Naturwissenschaften“ (Selge, 76), sie hält jedoch näherer Betrachtung kaum Stand (s.S. 54f.). Und wenn Storm erkennbar auf die Vererbungslehre rekurriert, wie z.B. in der Novelle Carsten Curator (1877), dann mischen sich dort Naturwissenschaft und Religion in einer dem naturwissenschaftlichen Prinzip ebenso widersprechenden Weise wie im Schimmelreiter mit seinem Mit- und Gegeneinander von moderner Ingenieursleistung und Spuk.
Selbständiger Erkenntnisanspruch der Literatur
Dabei verstand sich Literatur, wie Kunst überhaupt, auch und gerade nach den Erfahrungen mit naturwissenschaftlichen Erkenntnisleistungen, durchaus nicht als überholt, ihr eigenes Werkzeug nicht als ein Defizit wie das „x“ in der Formel der Naturalisten, das diese möglichst gegen Null zu reduzieren trachteten, vielmehr sah man sich zu Erkenntnissen im Bereich der Kunst in der Lage, die als denen der Naturwissenschaften durchaus ebenbürtig, wenn nicht sogar als diesen überlegen eingeschätzt wurden.