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6. Das Beispiel: Fotografie und Bildende Kunst

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Erfindung und Entwicklung der Fotografie

Gerade dieser Anspruch hat ein zunächst vorgängiges, dann auch weiterhin immer präsentes Exempel, in dem sich das Verhältnis einer auf Naturwissenschaft basierenden Technik zur Kunst in besonderer Zuspitzung zeigte: Die Fotografie hatte sich, seit 1839 der französische Maler Louis Daguerre (1789–1851) und der Engländer Henry Fox Talbot (1800–1877) fast gleichzeitig ihre Verfahren der Lichtbildherstellung ihren nationalen Akademien der Wissenschaften vorgelegt hatten, technisch bis zur Möglichkeit des Porträts entwickelt, nachdem anfangs die langen Belichtungszeiten nur unbelebte Objekte zuließen.

Fotografie als Herausforderung der Bildenden Kunst

Gerade die Porträtmalerei, deren Leistung zumindest vom breiten Publikum an der wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe, der „Ähnlichkeit“, gemessen wurde, fürchtete die Konkurrenz, war es doch nicht zu bestreiten, dass die „Zartheit der Umrisse, die Reinheit der Formen, die Genauigkeit und Harmonie der Töne, der Luftperspektive, die Ausführlichkeit der allergeringsten Details“, sich schon bei der Daguerreotypie „in höchster Vollendung ausgedrückt“ fand, so eine der ersten Reaktionen auf die neue Erfindung (Pl. 161). Sehr rasch aber dominierte die Ansicht, dass nur „die Handwerker unter den Künstlern (…) das Lichtbild zu fürchten haben“ (Pl. 171):

Die Künstler werden es müde werden, mit (dem Lichtbild) zu konkurrieren, wo sie stets durch eine rein mechanische Operation zu überwinden sind. Sie werden sich seiner als Hülfmittel bedienen“ (Pl. 171).

„Absoluter Realismus“ als „Handwerk“

Die in eine rhetorische Frage gekleidete Feststellung im gleichen Text, „was kann realistischer sein, als das Lichtbild?“, wurde generell nicht bestritten, gerade damit aber die Unterlegenheit der Fotografie gegenüber der Malerei begründet. Den „absoluten Realisten“ (Pl. 177) wurde die angemessene Wiedergabe der Realität abgesprochen. Dieses Zitat stammte aus Ludwig Pfaus (1821–1894) Studien Kunst und Gewerbe (1877), und es waren überhaupt die Schriftsteller, die sich nahezu einhellig ablehnend zur Fotografie äußerten. Referenzen auf die neue Technik wurden alsbald als abwertende Metaphern verwendet.

Ablehnung der Fotografie durch die Schriftsteller

Gerhard Plumpes Textsammlung enthält eine Reihe entsprechender Beispiele: Für Gutzkow sind Menschen „keineswegs Daguerreotypen einer alltäglichen Wirklichkeit“; Fontane sieht in „daguerreotypisch treuer Abschilderung“, die den „letzten Knopf (…) und die verborgenste Empfindung des Herzens (…) mit gleicher Treue“ wiedergibt, in der Tat nur „gewisse Vorzüge“ (Pl. 17);

„Poetische Wahrheit“ gegen „Fotografie der Wirklichkeit“

Hebbel beschimpft Ifflands (1759–1814) Figuren als „Menschen-Daguerrotypie“ (Pl. 181). Das Motiv für diese ablehnenden Meinungen erwächst nicht in erster Linie aus den gelegentlich auch bemängelten technischen Problemen der Fotografie – Verzerrung der Perspektive, geringer Tiefenschärfebereich, etc. –, sie gründet vielmehr auf einem Abbildverständnis, das gerade nicht die „Abbildung der unmittelbaren Oberfläche“ (Pl. 174) oder die „realistische Äußerlichkeit der Naturkopie“ (Pl. 175) meint und deshalb „die dichterische Durchdringung des Stoffes“ über eine „nur (…) geschickte gut gruppierte Photographie“ (Pl. 180) stellt. Gegen „die Daguerreotypen der Wirklichkeit“ stellt daher nicht nur Gustav Freytag „die poetische Wahrheit des Dichters“ (Pl. 182). Von der Verwendung als pejorative Metapher abgesehen spielt die Fotografie in der Literatur so gut wie keine Rolle, nur in der sogenannten „Unterhaltungsliteratur“ findet sich – so Ferdinand Stamm (1813–1880) – „mehr Material, in dem das neue Medium durchweg als komisches Phänomen auftaucht“ (Plumpe, 165).

Literatur und Bildende Kunst

Um so häufiger ist in der literaturkritischen und -theoretischen Essayistik nach 1849 von Malern, Gemälden und Skulpturen die Rede. Das kann nicht überraschen, waren doch die maßgeblichen Persönlichkeiten der wissenschaftlichen Ästhetik, Friedrich Theodor Vischer und Hermann Hettner (1821–1882), zugleich Literatur- und Kunsthistoriker. Aber auch in der Literatur stellte die Bildende Kunst ein wesentliches Thema dar. Neben Keller und seinem Künstlerroman Der grüne Heinrich ist dafür Fontane an erster Stelle zu nennen, und der nach einem Bild Tintorettos (1519–1594) gebildete Romantitel L’Adultera ist da nur das auffälligste Beispiel:

Fontane als Kunstkritiker

Man könnte tatsächlich „fast sagen, daß Fontanes literarische Laufbahn überhaupt als Kunstkritiker begonnen hat“ (Keisch, 11). Schon 1852 berichteter von einer Kunstausstellung in Gent, später immer wieder von entsprechenden Ereignissen in England. Und auch seine ersten literaturtheoretischen Überlegungen in dem Aufsatz Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853) gehen von aktuellen Beispielen aus der Bildenden Kunst aus – in diesem Fall der Bildhauerei:

Dieser Realismus unserer Zeit findet in der Kunst nicht nur sein entschiedenstes Echo, sondern äußert sich vielleicht auf keinem Gebiet unsers Lebens so augenscheinlich wie gerade in ihr. Die bildende Kunst, vor allem die Skulptur, ging hier mit gutem Beispiel voran. Als Gottfried Schadow die Kühnheit hatte, den Zopf in die Kunst einzuführen, nahm er ihr zugleich den Zopf. So wurde der „Alte Dessauer“, an dessen Dreimaster und Gamaschen wir jetzt gleichgültig vorübergehen, zu einer Tat von unberechenbarer Wirkung. (…) und es war ein Triumphtag für jene neue Richtung, von der wir uns eine höchste Blüte moderner Kunst versprechen, als die Hülle vom Standbild Friedrich’s des Großen fiel (…) „Dieser Alte Fritz“ des genialen Rauch (…). Was uns zunächst nottut ist ein Meister Rauch unter den Poeten (Font.Lit. 8).

Das war nicht nur die Ansicht Fontanes; für Anton Gubitz (1821–1857) etwa war Rauch der „eigentliche Begründer des realistisch gesunden Stils“ (RuG. 2/39).

Fontane und die Schule der Präraffaeliten

Der Ausruf „Bilder und immer wieder Bilder“ aus Fontanes Roman Cécile (GBA-E. 9/55) könnte sein gesamtes Œuvre charakterisieren, und die wiederholten Kunstdiskurse – manchmal auch nur kurze Hinweise und Bemerkungen – beinhalten häufig mehr, als beim ersten Anschein erkennbar wird. In einem Gespräch des Stechlin-Romans zwischen Woldemar und dem „Malerprofessor Cujacius“ über die „Schule der Präraffaeliten“ verwechselt Woldemar den englischen Maler John Everett Millais (1829–1896) mit dem Franzosen Jean François Millet (1814–1875). Was hier als für Fontanes Stil typische mittelbare Charakterisierung einer Person erscheint – Woldemar demonstriert seine Bildungsmängel –, stellt tatsächlich auch dieses letzte vollendete Werk des alten Fontane in ein ästhetisches Kontinuum: War es doch der gleiche Fontane, der als junger Mann die englischen Präraffaeliten, unter Ihnen John Everett Millais, als den „Vater der ganzen Bewegung“ (Font.Kunst, 143), in Deutschland bekannt machte.

Fontanes „Briefe aus Manchester“

Von der Manchester Art Treasures Exhibition berichtete er 1857 in elf Briefen, deren zehnter den Präraffaeliten gewidmet war. Er erläuterte dort zunächst den missverständlichen Namen, indem er auf die Ablehnung nicht etwa Raffaels durch diese neue Kunstbewegung, sondern des „Mal- und Kunstreglements, das in Akademien gelehrt wird“ (Font.Kunst, 139), verweist:

Vorstellung der Präraffaeliten: Der 10. Manchester-Brief

Was sie der hergebrachten Art zu malen vorwerfen, ist zweierlei: Unwahrheit und Ungenauigkeit. Sie sagen: „Eure Menschen sind unwahr und eure Staffage ist ungenau; eure Unwahrheit wurzelt in einem falschen Prinzip und eure Ungenauigkeit in mangelhafter Beobachtung (Font.Kunst, 140).

Das macht sie für Fontane zu einer „Abzweigung der großen realistischen Schule“, und er fügt diesem Urteil eine wichtige Differenzierung hinzu:

Präraffaeliten als Gegensatz zum „plumpen Realismus“

Das aber sei schon hier bemerkt, daß wir es innerhalb des Präraffaelitentums keineswegs mit jenem plumpen Realismus zu tun haben, der da glaubt, das Seine getan zu haben, wenn sich irgendeine Apellesfliege auf seine Natürlichkeiten setzt; nein, es fehlt den Bestrebungen dieser Schule keineswegs an Idealität, nur fordern ihre Anhänger diese Idealität innerhalb der Wahrheit (ebd.).

Die Präraffaeliten verließen das Atelier, malten „nach der Natur“; „im besten Fall sollte das präraffaelitische Bild so wirken, als sei es von der Natur mit eigener Hand auf die Leinwand gebracht“ (Wullen, 12).

Der „neue Silberblick der Kunst“

Fontane erkennt „Fehler“ in den Bildern dieser Kunstrichtung, hält es für wahrscheinlich, dass man beim ersten Anschauen erschrickt, aber bei der „dritten oder vierten Begegnung hören diese buttergelben Wiesen, diese Pilze, an denen man die Lamellen zählen kann, allgemach auf, uns zu frappieren“ (Font.Kunst, 141) und er resümiert: „Hier haben wir Keime für die Zukunft und, nach bestandenem Läuterungsprozess, vielleicht einen neuen Silberblick der Kunst“ (Font.Kunst, 142). Im Stechlin lässt er den Professor Cujacius an diese frühen Überlegungen mit der Bemerkung anschließen, „(…) das Präraffaelitentum, als dessen Begründer und Vertreter ich (Millais) ansehe, trug damals einen Zukunftskeim in sich; eine große Revolution schien sich anbahnen zu wollen“ (GBA-E. 17/281).

„Präraffaelitische“ Vorstellungen bei Gottfried Keller

Wenn Fontane auch – abgesehen von einer Publikation des Kunsthistorikers Gustav Waagen (1794–1868), der ihn nach Manchester begleitet hatte – mit seiner Ansicht und seinen Kenntnissen ziemlich allein blieb in Deutschland, so bietet die hier reklamierte Geistesverwandtschaft doch eine Möglichkeit, die nicht immer ganz eindeutigen kunst- und literaturtheoretischen Bemühungen der deutschen Realisten besser zu durchschauen. Das liegt um so näher, als auch Gottfried Keller in seinem Roman Der grüne Heinrich (1855) eine Vorstellung von Landschaftsmalerei entwickelt, die trotz mangelnder Kenntnis der Präraffaeliten doch deren Konzept – von der Vorliebe zum Malen nach und in der Natur bis zur Forderung nach möglichst völliger Detailtreue – nahezu exakt entspricht, obwohl Keller in seiner eigenen Malerei diese Forderungen auch nicht annähernd zu verwirklichen vermochte, was eine inzwischen vorliegende komplette Sammlung seiner Bilder unschwer überprüfen lässt. (Weber)

Charakteristika der präraffaelitischen Malerei

Was Fontane als „Fehler“ charakterisiert, ist der extreme, auf Auswahl oder Gewichtung bewusst verzichtende Detailrealismus, den der Kunstkritiker John Ruskin (1819–1900) auf die Formel brachte „rejecting nothing, selecting nothing and scorning nothing“ (Wullen, 23), jedes Element eines Bildinhaltes ist damit gleich wichtig und verlangt die gleiche Naturtreue der Abbildung.

Fotografische Elemente bei den Präraffaeliten

Das ergab Bilder, „in denen jedes einzelne Blatt in seiner unverwechselbaren Vielgliederigkeit wiedergegeben wurde“ (Wullen, 27). Fontane weist darauf hin, dass gerade dies „spöttisch als die ‚Botanik in der Kunst‘ bezeichnet worden ist“ (Font.Kunst, 146). Tatsächlich ist diese Technik aber der Fotografie abgelernt:

Das Vergrößerungsglas macht (…) den unermeßlichen Vorzug dieser von den Strahlen des Tagslichts gestochenen Kupferstiche noch einleuchtender; wir entdecken mit jedem Schritt immer neue, immer köstlichere Einzelheiten und unendlich viele Feinheiten und Nüancierungen, welche dem unbewaffneten Auge in der Wirklichkeit entschlüpfen (Pl. 161).

Das könnte die Lobeshymne auf einen perfekten präraffaelitischen Stich sein; es ist aber die Beschreibung des Eindrucks, den 1839 der Kunstkritiker Eduard Kolloff (1811–1879) bei der Betrachtung einer Daguerreotypie gewann! Und die Präraffaeliten nutzen die neue Technik auch weidlich, nahmen Fotografien als Vorlagen, die sie teilweise sogar übermalten:

Doch selbst bei jenen Aquarellen, Zeichnungen und Gemälden, die ohne diese Hilfsmittel entstanden, weist bereits die Wahl von Perspektive und Motiv auf die große Begeisterung der Präraffaeliten für das neue Medium: Eine ähnlich manische Fixierung auf jeden Grashalm, jedes Efeublatt und jedes Lämmerhaar hatte es vor Daguerre in der Kunst noch nie gegeben (Wullen, 13).

Künstlerische „Wahrheit“ im realistischen Bild

Und wenn John Ruskin „zur angemessenen Betrachtung“ zweier Bilder „den Gebrauch sowohl einer Lupe als auch den eines kleinen Opernglases“ (Wullen, 27) empfahl, so scheint die Übernahme fotografischer Techniken und Prinzipien total – und damit die Tatsache verständlich, dass das deutsche Publikum angesichts der verbreiteten Ablehnung der Fotografie als Kunstform trotz Fontanes Bemühungen kein Interesse für die Präraffaeliten aufbrachte. Doch Fontane wird hier keineswegs ins Unrecht gestellt; denn er hebt ja gerade nicht auf die „Anarchie der unendlichen Details“ (Wullen, 12) ab – das wäre in seinen Worten „plumper Realismus“ – sondern auf „Wahrheit“, die sich mit der weiterhin geforderten „Idealität“ zum „Realismus“ verbindet. Dieses Vokabular spiegelt die deutsche ästhetische Debatte der 50er Jahre, die nach dem ‚goldenen Schnitt‘ zwischen Idealismus und Realismus suchte (s.S. 43), und es nimmt sie zum Teil vorweg. Fontane aber entdeckte diese Verbindung etwa in Millais’ Bild Herbstblätter (Autumn-Leaves), in dessen „fotografischer“ Detailbesessenheit er jene reizvolle „Vieldeutigkeit“ wiederfindet, „die man an schönen Liedern mit Recht zu preisen und zu bewundern pflegt:

Es ist jene Unbestimmtheit, die immer da waltet, wo ein reiches inneres Leben sich in seiner Ganzheit vor uns erschließt und, statt einseitiger Befriedigung, eine vielfache und fruchtbare Anregung gibt (Font.Kunst, 145).

Dass dieses Urteil kein subjektives Missverständnis ist, bestätigt John Ruskin, der „einflussreichste Verteidiger der ‚Pre-Raphaelite Brotherhood‘“:

Während der tumbe Tor die Natur in Nachäffung des modernen bildtechnischen Instrumentariums sich bis zum letzten Sandkorn verzettelt, lässt der präraffaelitische Künstler sich nur insoweit auf die Verführungen des Mikrokosmos ein, als es den Notwendigkeiten und Möglichkeiten des jeweiligen Bildes entspricht (Wullen, 16).

Der Autor dieses Katalog-Artikels fasst die Relevanz solcher Beobachtungen in einer Weise zusammen, die sie auch zum vorweggenommenen Resümee der deutschen Theoriedebatte nach 1849 tauglich macht:

Wahrnehmung der Natur in der „Vision der Kunst“

Die von der Wissenschaft atomisierte Welt wird somit von der Kunst gleichsam wieder eingefangen und zumindest metaphorisch in die Einheit des Mannigfaltigen zurückgeführt. Daraus ergibt sich eine geradezu metaphysische Einsicht: Auch in einer Welt unendlicher visueller Möglichkeiten wird die Natur als Natur für das menschliche Bewusstsein niemals fassbar sein, es sei denn als Vision der Kunst (Wullen, 16).

Erfassung von Wirklichkeit und „Wesen“ in der Kunst

Dem Betrachter der präraffaelitischen Bilder, etwa der „Ophelia“ von Millais oder „Ailsa Crag“ (Wullen Nr. 2 u. 4) von William Bell Scott (1811–1890) wird über die vielen Parallelen der konzeptuellen Äußerungen dieser Maler zu den theoretischen Konzepten des Bürgerlichen Realismus hinaus unmittelbar das gemeinsame Kunstverständnis sichtbar: „Fernblick“ und „Nahblick“ (Wullen, 27) sind gleichzeitig in einem Bild gestaltet, was der Fotografie unmöglich wäre. Es ist deutlich der Versuch erkennbar, mit der Wirklichkeit zugleich ihr Wesen zu erfassen.

Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus

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