Читать книгу Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus - Bernd Balzer - Страница 7
I. Epochenbegriff 1. Zur Problematik der Epoche
Оглавление„Epochen“ – ebenso fragwürdig wie notwendig
Dass die Verwendung von Epochenbegriffen grundsätzlich ebenso notwendig wie zweifelhaft ist, gilt inzwischen als ein Gemeinplatz, für den nur noch die Formulierungen variieren: Ob man mit Kant (1724–1804) von „regulativer Idee“ spricht, mit René Wellek (1903–1995) und Austin Warren (1899–1986) von „heuristischen Konstrukten“ (Wellek/Warren, 288) oder etwas salopper von „begrifflichen Krücken“, das verweist jeweils auf den gleichen Sachverhalt. Und selbstverständlich gilt das auch für den Bürgerlichen Realismus.
Bürgerlicher Realismus – die letzte „Großepoche“
Dabei erschien dieser lange (und erscheint dem ersten Blick noch heute) als die letzte klar abgegrenzte „große“ Epoche – eine Fermate gleichsam nach dem „Epochenproblem Vormärz“ (Stein) und vor der Hektik der zahlreichen -Ismen des Fin de siècle. Zudem schien sich hier nach den zahlreichen deutschen Besonderheiten zwischen dem ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die deutsche mit der europäischen Literaturgeschichte zu synchronisieren. Zwar: Der Naturalismus der 80er Jahre vermochte im Unterschied zu Frankreich den deutschen Realismus weder zu verdrängen, noch zu beenden, und ein Realist wie Wilhelm Raabe (*1831) lebte bis 1910. Aber Theodor Fontanes (*1819) Tod (1898) ergibt immerhin ein plausibles Datum ante quem.
Zeitliche Abgrenzung
Und für den Beginn der Periode erübrigte sich für ein gutes Jahrhundert Realismusrezeption ohnehin jeder Zweifel: Die 1849 endgültig gescheiterte Märzrevolution wurde und wird geradezu als Voraussetzung, wenn nicht sogar Bedingung des deutschen Realismus gesehen, denn schließlich gilt die „Revolution von 1848 (als) der große Wendepunkt der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert“ (Goette, 478).
1849 als „Wende“ des 19. Jahrhunderts
Eine Passage aus der Dissertation des Kunsthistorikers Anton Springer (1825–1891) scheint die Situation an jenem Zeitpunkt auf den Begriff zu bringen und wird darum gern zur Charakterisierung und Begründung des Epocheneinschnitts zitiert:
Das deutsche Volk hat auf seinen spekulativen Rausch einen tüchtigen Katzenjammer bekommen, und es dürfte wohl eine Zeitlang währen, bis sich der Ekel legt und die Lust zum Philosophieren uns wieder anwandelt. Ich kann diese Änderung der Volksstimmung nicht tadeln; sie war geboten durch das Auftauchen der realen Interessen der Politik, geboten durch den schiefen Weg, den die deutsche Wissenschaft zu nehmen begann. Wir haben durch diese Bemühungen der deutschen Philosophenschulen eine theoretisch freie Weltanschauung gewonnen, nun gilt es auf einem anderen Wege uns die praktische Freiheit zu erwerben und unsere bisherigen Bestrebungen zu ergänzen. Bis dahin mag das Denken ruhen und das Wollen seine Stelle vertreten (RuG. 1/36).
Tatsächlich wäre diese Passage über den ohnehin bedeutsamen Schritt zum tragenden Begriff der Epoche (die „realen Interessen der Politik“) hinaus ein entscheidendes Indiz für den „geistige(n) Klimawechsel nach dem traumatischen Erlebnis der gescheiterten Revolution“, (RuG. 1/36) – wenn dem nicht das Fertigstellungsdatum der Dissertation entgegenstünde: „Anfang März 1848 erhielt ich das Doktordiplom“, berichtet Springer in seiner Autobiografie (Springer, 115) und betont rückblickend, dass er in „den nächstfolgenden Monaten (…) sie schwerlich fortgesetzt“ hätte und charakterisiert auch die Vorrede, die „bereits in burschikosem Tone den Beginn einer neuen Periode, in welcher nicht philosophiert, sondern Geschichte gemacht wird“ (Springer, 116), gefeiert habe.
Die „Sackgasse“ der Naturphilosophie
„Spekulativer Rausch“ und „Katzenjammer“ beziehen sich also ganz und gar nicht auf die politischen Konzepte des Vormärz’. Hegel (1770–1831) und die idealistische Philosophie waren gemeint und, wenn man das alles überhaupt auf die Literatur beziehen kann, die Romantik. Der „schiefe (…) Weg, den die deutsche Wissenschaft zu nehmen begann“, war das Verharren in der Sackgasse der Naturphilosophie und das Zurückfallen hinter den naturwissenschaftlichen Fortschritt der westeuropäischen Nationen, und auch dafür stand Hegel: Dieser schrieb zum Beispiel in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse in dem Teil, der der Naturphilosophie gewidmet ist, den folgenden kompliziert formulierten Unsinn:
Die Wärme ist das Sichwiederherstellen der Materie in ihre Formlosigkeit, ihre Flüssigkeit, der Triumph ihrer abstrakten Homogenität über die spezifischen Bestimmtheiten; ihre abstrakte, nur an sich seiende Kontinuität als Negation der Negation ist hier als Aktivität gesetzt. Formell, d. i. in Beziehung auf Raumbestimmung überhaupt, erscheint die Wärme daher als ausdehnend, als aufhebend die Beschränkung, welche das Spezifizieren des gleichgültigen Einnehmens des Raums ist (§ 303).
Wissenschaftliche Rückständigkeit in Deutschland
Das erschien 1830, im gleichen Jahr, als z.B. die Eisenbahnlinie Liverpool-Manchester eröffnet wurde, auf der die schon 1814 entwickelte Lokomotive Stephensons mit 45 km/h die Konsequenz der naturwissenschaftlichen Erkenntnis von Wesen und Wirkung der Wärmeenergie eindrucksvoll unter Beweis stellte.
Aufholprozess in der Naturwissenschaft
Die Korrektur dieses Obskurantismus erfolgte aber auch in Deutschland schon vor der Mitte des Jahrhunderts. Sie war völlig unabhängig von den politischen Revolutionsbewegungen, und sie war selbst ein revolutionäres Ereignis. Julius Robert Mayers (1814–1878) Erkenntnis des Gesetzes von der Erhaltung der Energie (1842) und die fünf Jahre später erschienene Schrift Über die Erhaltung der Kraft von Hermann Helmholtz (1821–1894) formulierten eine der wichtigsten Grundlagen für die Naturwissenschaften und die durch sie angetriebene technische Revolution seit dem 19. Jahrhundert.
„Realismus“ vor 1849
Gegen das Spekulative der idealistischen Philosophie hatten sich schon vorher die Jungdeutschen verwahrt und nach Alternativen gesucht. Noch während die Schriftsteller der Romantik das „eigentliche“ Leben in den Glücksräuschen – aber auch den Nachtseiten – der Phantasie zu finden dachten, plädierten zahlreiche ihrer Zeitgenossen für den Bezug zur Realitat. Und der schon seit den 20er Jahren aufkeimende und über 1830 bis 1848 immer vehementer grassierende politische Konflikt zwischen „Fortschritt“ und „Restauration“, „Legitimen“ und „Liberalen“, der die Parteien während der 1848er Revolutionen sortierte, zog bei dieser Differenz keineswegs die Grenzlinien: Der konservative Lützelflüher Pfarrer Albert Bitzius, der seit 1834 unter dem Namen Jeremias Gotthelf (1797–1854) Dorfgeschichten und Romane veröffentlichte, erfasste mit dem gleichen Blick für das realistische Detail seine Lebenswelt wie es der progressive Frankfurter jüdischer Herkunft, Ludwig Börne (1786–1837) seit 1818 in seinen Kritiken, Berichten oder Satiren tat. Karl Gutzkow (1811–1878) oder Willibald Alexis (1798–1871), Karl Leberecht Immermann (1796–1840) oder Adalbert Stifter (1805–1868) – sie alle erschrieben sich ihre Fiktionen auf der soliden Grundlage ihrer Wirklichkeitserfahrungen. Und selbst die Protagonisten einer bürgerkritischen Linken von Georg Büchner (1813–1837) bis zur Ikone der frühesten kommunistischen Literatur, Georg Weerth (1822–1856), gehören zu den Wegbereitern eines literarischen Konzepts, das für den Bürgerlichen Realismus prägend wurde.
Das Jahr 1849 ist für die Literatur keine zeitliche Bruchlinie.
Wir sind durchaus nicht der Meinung, daß die Vorgänge des Jahres 1848 richtunggebend auf unsere schönwissenschaftliche Literatur eingewirkt haben, und können uns höchstens zu der Ansicht bequemen, daß sie der Gewitterregen waren, der die Entfaltung dieser oder jener Knospe zeitigte. Aber die Knospen waren da. (Font.Lit. 14)
Die Wendung zu den „realen Interessen der Politik“ hatten z.B. lange vor Springer schon Jungdeutsche und Vormärzler gefordert und vollzogen. Als „Realpolitik“ hat das allerdings erst 1853 Ludwig August von Rochau (1810–1873) auf den Begriff gebracht und damit das Verständnis von „Realismus“ ebenso stark mitbestimmt wie die parallel dazu geführte philosophische und ästhetische Debatte.
„Trilaterale Betrachtungsweise“
Die Epoche des Bürgerlichen Realismus ist also nichts weniger als zeitlich klar abgegrenzt. Das hat sie mit allen anderen gemeinsam; zusätzlich jedoch wird die Kohärenz in Frage gestellt durch regionale, und dann bald nationale Differenzierungen, die zuvor keine Rolle spielten und deshalb auch für die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts lange Zeit übersehen wurde: Erst in den letzten Jahren erkennt man die Notwendigkeit einer „trilateralen Realismus“-Betrachtung (HA. VIII), der sich für jegliche auf Geschichte reflektierende Literaturwissenschaft schon immer hätte stellen müssen: Auch und gerade die Verfechter des „epochalen Einschnitts“ der gescheiterten Märzrevolution hätten z.B. die Romane Stifters, Kellers und Fontanes oder Raabes nicht über den gleichen „bürgerlich-realistischen“ Leisten schlagen dürfen, da doch die Märzrevolution in der Schweiz erfolgreich war.
Deutsche, Schweizer und österreichische Verhältnisse
Und die Verhältnisse in Österreich und dem Deutschland der „kleindeutschen Lösung“ Bismarcks (1815–1898) hatten sich nicht erst nach dem Deutschen Krieg von 1866 auseinander zu entwickeln begonnen: Während die nationale Einheit das Ziel der Deutschen spätestens seit den „Befreiungskriegen“ von 1812–1815 gewesen war, galt diese im Vielvölkerstaat der Habsburger als Schreckensvision. Franz Grillparzer (1791–1872) reimte am 15. März 1848 in einem Epigramm:
Der Weg der neueren Bildung geht
Von Humanität
Durch Nationalität
Zur Bestialität.
Ein einheitliches Epochenbewusstsein
Diese Unterschiede und die weiteren Binnendifferenzierungen von „Programmrealismus“ „poetischem Realismus“, „Gründerzeit“, etc. sind zu berücksichtigen, sie lösen das darum sich legende Band eines gemeinsamen Epochenbewusstseins aber nicht auf. Dieses Bewusstsein wurde von den Ereignissen der Jahre 1848/49 nachhaltig geprägt: Das galt natürlich für die Zeitgenossen, für die der „große Wendepunkt der deutschen Geschichte“ (s.S. 7) allemal einen biographischen Einschnitt bedeutete, aber auch bei der späteren Literaturgeschichtsschreibung, die, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, an diesem Geschichtsbild festhielt, auch wenn es genügend Anlässe gab, dieses auf den Prüfstand zu stellen.
Abgrenzung von der „Herweghzeit“
Schon 1854 distanzierte sich Fontane von seiner vormärzlichen Periode mit den Worten, „es kam die Herweghzeit. Ich machte den Schwindel tüchtig mit“ (an Theodor Storm, 14.2.54). Und das ist nur ein Beispiel für das verbreitete Gefühl, eine Epochenwende mitzuerleben. Und dessen Bindungskraft gilt es zu analysieren.