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III. Kontexte 1. Vom Minderwertigkeitskomplex zu neuem Selbstbewusstsein

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Tunnel unter der Themse und „Tunnel über der Spree“

1827 wurde in Berlin von dem satirischen Schriftsteller und Journalisten Moritz Saphir (1795–1858) der literarische Sonntagsverein „Tunnel über der Spree“ gegründet. Der demonstrative Spott dieses Namens auf den seit 1825 im Bau befindlichen Tunnel unter der Themse in London kaschierte kaum das Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der erneut demonstrierten technischen Überlegenheit Englands. Als der Londoner Tunnel sich Anfang der 40er Jahre der Fertigstellung näherte, wich der Spott auch offener Bewunderung und die Berliner Tunnel-Mitglieder ernannten den Londoner Ingenieur zu ihrem Ehrenmitglied. Etwa zu dieser Zeit wurde auch Theodor Fontane Mitglied des „Tunnels“. Er trug im Dezember 1844 seine Ballade Der Tower-Brand vor: „England war für Fontane das ‚gelobte Land‘. Tief beeindruckten ihn die Überlegenheit der englischen Rechtsordnung und die englische Polizei.“ (Fontane und sein Jahrhundert, 46)

Deutsches Bewusstsein der Rückständigkeit

Das Bewusstsein der Rückständigkeit gegenüber England wie auch Frankreich auf nahezu sämtlichen wissenschaftlichen und technischen, aber auch politischen Gebieten war in den deutschen Ländern auch vom erwachenden Nationalismus seit Ende des 18. Jahrhunderts nicht verdeckt worden und überstand sogar chauvinistische Tendenzen nach 1815 – z.B. die antifranzösischen Affekte des Wartburgfestes, auf dem u.a. ein Exemplar des Code Civil verbrannt wurde – oder 1840 (die „Rheinkrise“). Insgesamt erlebte man das West-Ost-Gefälle als Ansporn und auch als Herausforderung, stand es doch so offensichtlich im Widerspruch zum gern zitierten und zum Klischee geronnenen Wort der Madame de Staël (1766–1817) von den Deutschen als dem „Volk der Dichter und Denker“.

Geschichtskritik und zukunftsweisende Entschlossenheit

Die 48er Revolution bot mehrfach Anlass für entsprechende Resümees: So beschrieb Gustav Freytag in seiner Biografie des badischen Politikers und Bankiers Karl Mathy (1806–1868) dessen Lagebeurteilung:

Mathy hatte aus den Ereignissen der letzen Jahre sich vor allem die Lehre gezogen, daß die große Bewegung des Jahres 1848 die Nation nicht auf der Höhe der bürgerlichen und wirtschaftlichen Entwickelung gefunden habe (…). Was warmes Gemüt Theorie und kluge Lehre schaffen konnte, war vorläufig ins Bewußtsein gekommen, jetzt galt es, die beharrliche Arbeit auf allen Gebieten des Verkehrslebens wiederaufzunehmen, durch Banken, Eisenbahnen, große Aktiengesellschaften das Bedürfnis einheitlicher Gesetzgebung und eines nationalen Schutzes wichtiger Unternehmen zu steigern (Freytag, 370f.).

Deutschlands „Macht und Größe“ als Ziel

Charakteristisch ist dabei die Verbindung von retrospektiver Kritik und zukunftsgerichteter Entschlossenheit. Dies ist noch deutlicher in einem Brief, den Emanuel Geibel (1815–1884) schon im März 1848, unmittelbar nach den Ereignissen in Berlin, an Paul Heyse (1830–1914) schrieb, in dem er einerseits vor den Gefahren einer sozialen Revolution warnte, auf der anderen Seite aber die Möglichkeit sah, „mit raschen kühnen Schritten in geordnetem unblutigen Gang Deutschland auf den Gipfel seiner Macht und Größe zu führen; die Grundlagen dazu sind jetzt gegeben, vollständig gegeben“. (Petzet, 5f.)

„Macht und Größe“ – das hieß natürlich nationalstaatliche Einheit, wirtschaftliche Unabhängigkeit und Stärke und, als Wert durchaus gleichrangig betrachtet, auch geistiges und kulturelles Ansehen und Ausstrahlungskraft.

Macht, Besitz und Bildung – soziale Aufgabenteilung

Macht, Besitz und Bildung – mit diesen drei Begriffen werden die Perspektiven deutlich, die sich dem Bürgertum politisch wie kulturell für eine Entwicklung nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution dennoch boten, und denen es sich überwiegend durchaus mit Optimismus zuwandte. Mit Macht, Besitz und Bildung wird zugleich auch die soziale Koalition benannt, die nach 1848 bestimmend wurde, sowie die Schnittlinie ihrer Arbeitsteilung. Die politische Macht erhielt, genauer: behielt, die Feudalaristokratie – sie hatte sie auch zu Zeiten des Paulskirchenparlamentes und des Reichsverwesers nie wirklich abgegeben – die ökonomische wie auch die geistige Führung reklamierte das Bürgertum für sich.

Wirtschaftlicher und industrieller Aufschwung

Und anders als zu Beginn der Industrialisierung in den 30er Jahren – als Monarchen und Fürsten sich den Ambitionen des Bürgertums entgegenstellten, es immer wieder behinderten –, sorgte nun staatliche Förderung der kapitalistischen Wirtschaft für einen raschen wirtschaftlichen, vor allem industriellen Aufschwung, der z.B. auf der Londoner Weltausstellung von 1851 zum erstenmal deutlich sichtbar wurde.

Das erleichterte den Liberalen des Vormärz, den wirtschaftsliberalen Bankiers, Versicherungsgründern und Industriellen, den Verzicht auf politische Macht, um die sie im März 1848 zunächst noch gekämpft hatten.

Rolle der Bildung

Das Bewusstsein, mit der Rolle der ökonomischen zugleich auch die der geistigen Führung zu besitzen, machte den Verzicht noch erträglicher, kompensierte ihn fast, da viele den Aufstand von unten nicht als eine Erhebung der Besitzlosen, sondern als eine Revolution der Ungebildeten kennen und fürchten gelernt hatten. In der Ausweitung der Freiheit „über den Kreis der Bildung hinaus“ sah nicht nur Hebbel den Fehler der Märzrevolution: Dies habe „der Bestialität Raum verschaffen (…), sich auszutoben“ (Žmegač, 2).

Macht, Besitz und Bildung – das verband Adel und Bürgertum und ließ keinen Raum für die Klasse oder Klassen darunter; es schloss sie aus.

Bürgertum als Fortschrittsträger und Vorbild der Nation

Dabei standen hinter dieser Auffassung nicht etwa Zyniker: Das Bürgertum sah sich als Fortschrittsträger der ganzen Nation. Man wollte sich nicht abgrenzen oder abschotten nach unten, sondern das Bildungsniveau insgesamt auf das bürgerliche anheben – z.B. durch Arbeiter-Bildungsvereine und – denn auch im Blick auf den Adel erkannte man Bildungsmängel – durch Fürstenerziehung.

Freiheit, Einheit und Fürstenmacht

Die wichtigsten Ziele wenigstens der bürgerlichen Revolutionsbewegung des Vormärz blieben nach 1849 auf der Tagesordnung. Die liberalen Forderungen nach Freiheit und Einheit zum Beispiel. Hatte es jedoch im Vormärz geheißen „Durch Freiheit zur Einheit“, so formulierte man nun, dass diese Losung umständehalber eine Umkehrung – jedoch lediglich eine zeitliche – erfahren habe: „Die späte Lehre der grausamen Wirklichkeit, daß, wenn man die Freiheit gründen will, man zuerst für eine Macht sorgen muß, die sie hält und schirmt, – wir haben sie mit blutigem Gelde bezahlt.“ (F. Th. Vischer, nach Žmegač, 3)

Die Macht, auch die Fürstenmacht, wurde gesehen als notwendiger Schutz einer liberalen Entwicklung. Das war sozusagen eine pragmatische Akzeptanz vorhandener Macht – fernab von der Akzeptierung des Gottesgnadentums der Fürsten: Machthinnahme nicht im Sinne der „Legitimität“, wie das Restaurationsschlagwort vor 1848 hieß, sondern eher der Funktionalität.

Ohnmacht der „Ideen“ – Macht der Fürsten

Was Vischer (1807–1887) als schmerzvolle Einsicht in eine „grausame Wirklichkeit“ formuliert, beschreibt Ludwig August von Rochau als kritischen Vorwurf gegen den vormärzlichen Liberalismus: Dessen Erfolglosigkeit habe im Zusammenhang gestanden „mit dem sonderbaren Glauben an eine selbständige Macht von Ideen und Principien, die doch alle ihre Macht nur von Menschen leihen und die vollkommen ohnmächtig sind einem Parlament oder einem Volk gegenüber, welches ihnen, gleichviel ob aus richtiger Erkenntniß oder aus Irrthum, die Anerkennung verweigert.“ „Nur als Macht“, fährt er fort, „ist das Recht zur Herrschaft berufen, d.h. zur Herrschaft fähig“ (HW. 43f.).

Das macht den Erfolg zum Maßstab für die Rechtmäßigkeit – nicht in dem Sinne, dass der Zweck die Mittel heiligte, sondern das ist formuliert als Konsequenz aus der politischen Niederlage. Die Macht – und die darin womöglich verborgene Resignation erscheint dem Verfasser selbst als Einsicht – wird als gegeben angesehen und akzeptiert: „Mag, wer will, sich den Sturz des Königtums zur Aufgabe machen, so kann doch, bis auf weiteres kein verständiger Politiker die handgreiflichen Konsequenzen der einstweiligen Existenz desselben verleugnen.“

Wer da verloren hat, ist für Rochau „Die Studentenpolitik der zwanziger und dreißiger Jahre“, die „aus der Schule stammt, und nicht aus dem Leben“. Dagegen stellt er das Selbstbewusstsein des „Mittelstandes“, wie er das Bürgertum nennt:

Vermöge seiner Bildung, seines Wohlstandes, seines Unternehmungsgeistes, seiner Arbeitslust und Arbeitskraft ist der Mittelstand in der Neuzeit der eigentliche Träger der gesellschaftlichen Kultur, des wirtschaftlichen Gedeihens und des politischen Fortschritts geworden. (Pl. 65)

Bürgerlicher Optimismus nach 1849

Was sich hier äußert, ist nicht Resignation, sondern Selbstbewusstsein und Optimismus: „Realismus und Pessimismus sind für das nachrevolutionäre Jahrzehnt zwei miteinander nicht vereinbare Begriffe“ (RuG. 1/34). Nicht „Katzenjammer“, sondern Optimismus und Aufbruchstimmung kennzeichneten die fünfziger Jahre.

Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus

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