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3.5 Schuld und Würde
ОглавлениеIn Unternehmen können also nicht nur Führungskräfte, sondern alle Arbeitnehmer Verantwortung für die Minderung von Symbioseaspekten übernehmen. Der Widerstand gegen ausbeuterische Verhältnisse wird allerdings oft durch Bestechung, Nötigung oder Bedrohung gemindert. Auch Verwöhnungsdynamiken können in Unternehmen zum Problem werden. Nicht weil es den Arbeitnehmern gut geht, sondern weil sie ihre Motivation und ihre Kraft verlieren, symbiotische Abhängigkeiten zu konfrontieren. Sie sind nicht bereit, die symbiotischen Gewinne für die eigene Würde und Autonomie aufzugeben.
Um die eigene Autonomie zu wahren oder zurückzugewinnen, muss man bereit sein, Symbiosegewinne aufs Spiel zu setzen. Viele Menschen machen sich da ein selbstgezimmertes Gefängnis. Sie sagen: »Ich kann nicht anders«, obwohl sie eigentlich sagen müssten: »Natürlich kann ich anders, aber ich bin nicht bereit, den Preis zu zahlen.« Ein solches Eingeständnis gibt ein Gefühl von Würde, denn schon das Anerkennen von Mitschuld kann ein wesentlicher Schritt zu persönlicher Verantwortung und Würde sein.
Wenn jemand an etwas nicht schuld sein möchte, was er zu verantworten hätte, ist das ein erbärmlicher Vorgang. Auch hier gibt es Verzweiflungsfallen: Je mehr jemand weiß, dass er etwas schuldig bleibt, um so mehr sucht er danach, was andere ihm schulden und kämpft darum. Manche Menschen fühlen sich dann regelrecht erlöst, wenn sie irgendwann sagen:
»Das wäre meine Verantwortung gewesen. Das war meine Sache und ich habe es nicht getan.«
Manche Mächtige halten symbiotische Verhältnisse aus Berechnung aufrecht. Das führt dann zu sozialer Ungerechtigkeit und Schuld. Auf irgendeine Weise wissen sie aber im Inneren, dass sie ihre Verantwortung nicht tragen. Was die meisten allerdings nicht wissen ist, dass sie es büßen müssen. Es stiehlt ihnen die Würde. Sie versuchen dann die verlorene Würde durch noch mehr Einfluss, den sie wieder nicht verantworten und durch noch mehr Gratifikationen und Größenvorstellungen zu kompensieren; sie bleiben dabei aber kläglich. Häufig ist das Einzige, womit man diese Menschen erreichen kann, ihnen zu sagen: »Seine Verantwortung wahrzunehmen ist eine Sache der Würde. Man bekommt nicht später die Bestrafung – die Bestrafung liegt unmittelbar in einem schleichenden Verlust der Würde. Es zehrt am eigenen Stolz und am eigenen Selbstverständnis.« Ähnliches gilt analog für die schwächer erscheinenden Positionen in symbiotischen Beziehungen.
Vieles was in unseren Organisationen im Argen liegt, hat mit einer weitreichenden Erosion von Verantwortung zu tun und damit, dass die Inanspruchnahme von Verantwortlichkeit unterbleibt oder Unverantwortlichkeit nur mangelhaft konfrontiert wird. Diesbezüglich herrscht in vielen Unternehmen eine marode Kultur. Deshalb ist es so wichtig, in Unternehmen kommunikative, wie institutionelle Figuren einzuführen, über die eine Verantwortungskultur sinnvoll etabliert werden kann.
Aber natürlich hat das auch seine Grenzen. Unsere Gesellschaft ist ausbeuterisch angelegt. Und jeder von uns tut etwas dazu, ausbeuterische Beziehungen anzulegen oder sie zu akzeptieren, weil sie uns in eine relativ privilegierte Position bringen. Das sollten wir bei allem realistisch sehen und keinen Unschuldsmythos entwickeln.
1 Unter Mitarbeit von Sabine Caspari