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aa) Allgemeines Regulativ
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Auch bei Fahrlässigkeitsdelikten hat die Unzumutbarkeit die Funktion eines allgemeinen Regulativs. Abgesehen davon, dass Zumutbarkeitserwägungen schon die objektive Sorgfaltspflicht begrenzen können,[1120] gilt hier der Grundsatz, dass den Täter ein Fahrlässigkeitsschuldvorwurf nicht trifft, wenn ihm die Erfüllung der objektiven Sorgfaltspflicht unzumutbar war.[1121] Zwar ist umstritten, ob dies daraus folgt, dass hier das Maß der vom Täter persönlich zu verlangenden Sorgfalt entsprechend begrenzt ist[1122] oder ob die Unzumutbarkeit bei Fahrlässigkeitsdelikten einen allgemeinen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund darstellt.[1123] Dem Zumutbarkeitsgedanken dürfte in diesem Zusammenhang eine doppelte Funktion zukommen:[1124] Geht es darum, was gerade dieser Täter hätte erkennen bzw. voraussehen können, so können auch, wenn kein Fall des individuellen Unvermögens vorliegt, Zumutbarkeitserwägungen schon die den Täter persönlich treffende Sorgfaltspflicht begrenzen und insoweit dem Fahrlässigkeitsschuldvorwurf bereits die Grundlage entziehen, so etwa dann, wenn er sich zwar durch Ausschöpfung aller ihm zugänglichen Erkenntnismittel das erforderliche Wissen hätte verschaffen können, von ihm aber billigerweise nicht mehr, als er tatsächlich getan hat, verlangt werden konnte.[1125] Dies kann für die ärztliche Fahrlässigkeitsstrafbarkeit dann belangvoll sein, wenn ihm – objektiv zu Recht – vorgehalten wird, er habe sich nicht hinreichend weitergebildet[1126] oder hochentwickelte technische Geräte nicht hinreichend kontrolliert.[1127] Insoweit kann insbesondere Arbeitsüberlastung im Einzelfall den Vorwurf individueller Sorgfaltswidrigkeit entfallen lassen. In seiner zweiten Bedeutung tritt der Zumutbarkeitsgedanke bei fahrlässigen Erfolgsdelikten dann in Erscheinung, wenn der Täter zwar wusste oder (in für ihn zumutbarer Weise) hätte erkennen können, dass er die objektiv gebotene Sorgfalt verletzt, ihm die Unterlassung des unsorgfältigen Tuns aber mit Rücksicht auf sonst eintretende Nachteile nicht zumutbar war.[1128] In dieser Funktion stellt die Unzumutbarkeit einen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund dar, der wegen des geringeren Unwertgehalts der Fahrlässigkeit nicht auf den engen Bereich des § 35 StGB beschränkt ist. Hier ist der Täter grundsätzlich umso eher entschuldigt, je erheblicher bei objektiver Wertung[1129] der ihm drohende Nachteil und je geringer die Gefahr nach Art, Umfang und Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts (mithin auch der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Rettungserfolges)[1130] ist.[1131] Angesichts der hochrangigen Rechtsgüter, die bei fahrlässigem ärztlichem Verhalten verletzt werden können (Leben oder Gesundheit), dürfte Unzumutbarkeit in Form dieses übergesetzlichen Entschuldigungsgrundes allerdings regelmäßig entfallen. So kann sich bspw. ein in der Ausbildung befindlicher Arzt nicht durchschlagend darauf berufen, der ihm gegenüber weisungsberechtigte Facharzt habe ihn für eine selbständig durchzuführende Operation eingeteilt, der er fachlich möglicherweise nicht gewachsen war. Ihm ist vielmehr „zuzumuten, dagegen seine Bedenken zu äußern und notfalls eine Operation ohne Aufsicht abzulehnen. Das muss auch dann gelten, wenn er, was sicher nicht fern liegt, sich dadurch möglicherweise Schwierigkeiten für sein Fortkommen aussetzen sollte. Gegenüber einem solchen Konflikt des Assistenzarztes wiegt die Sorge um die Gesundheit und das Leben des Patienten, der mit Recht die bestmögliche ärztliche Betreuung erwartet, stets schwerer.“[1132] Die Unzumutbarkeit richtet sich also nicht nach dem subjektiven Empfinden des Betroffenen. Sie ist vielmehr nach einem objektivierten, an den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen orientierten Maßstab zu bestimmen.[1133]