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a) Eigennützige Forschung im Rahmen einer Notfallsituation
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In Rahmen von Notfallsituationen, die durch „Elemente der Überraschung, der Plötzlichkeit, des Unvorbereitetseins und der Unvorhersehbarkeit“[265] geprägt sind, kann eine umfassende Aufklärung des Probanden, wie sie das Gesetz in § 40 Abs. 2, 2a AMG für klinische Prüfungen mit Arzneimitteln (und in § 20 Abs. 1 S. 4 Nr. 2 MPG a.F. sowie nunmehr in Art. 62 Abs. 4 lit. f, 63 der Medizinprodukte-VO [EU] 2017/745 für solche mit Medizinprodukten) vorsieht, aufgrund des bestehenden Zeitdruckes schwierig oder sogar ausgeschlossen sein.[266] Überdies können Notfallpatienten durch Bewusstseinseintrübungen oder starke Schmerzen an der Abgabe einer (wirksamen) Einwilligung in die Behandlungsmaßnahme gehindert sein.[267] Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob für die Erprobung eines neuen Arzneimittels im Rahmen einer Notfallsituation auf die Einwilligung einer anderen Person zurückgegriffen oder die versuchsweise Behandlung gar ohne aktuelle Einwilligung des Betroffenen durchgeführt werden kann.[268]
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Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass Notfallmaßnahmen häufig nicht den Charakter einer klinischen Prüfung i.S.d. § 4 Abs. 23 S. 1 AMG aufweisen, sondern (ausschließlich) als individueller Heilversuch einzuordnen sein werden, dessen Bewertung sich nach den allgemeinen Vorschriften des BGB und des StGB richtet (Rn. 31 ff.).[269] Im Anwendungsbereich des AMG besteht bislang mit § 41 Abs. 1 S. 2 AMG eine Sonderregelung, die bestimmt, dass eine Behandlung, die ohne Aufschub erforderlich ist, um das Leben der betroffenen Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern, umgehend erfolgen darf, wenn die Einwilligung wegen einer Notfallsituation nicht eingeholt werden kann. In diesem Fall ist die Einwilligung zur weiteren Teilnahme gemäß § 41 Abs. 1 S. 3 AMG einzuholen, sobald dies möglich und zumutbar ist (zu der in Art. 35 der VO (EU) 536/2014 vorgesehenen Neuregelung vgl. Rn. 75). Aufgrund ihrer systematischen Stellung im Absatz 1 des § 41 AMG, der einschlägig erkrankte Einwilligungsfähige betrifft, erfasst die Regelung unzweifelhaft den Fall, dass die Zustimmung des (einwilligungsfähigen) Probanden zwar eingeholt werden kann, angesichts der Eilbedürftigkeit der Behandlung jedoch keine den Anforderungen des § 40 Abs. 2 AMG genügende Aufklärung möglich erscheint.[270] Nach zutreffender Ansicht ist sie darüber hinaus jedoch auch auf einwilligungsunfähige (etwa bewusstlose) Notfallpatienten anwendbar, bei denen aufgrund des Zeitdruckes die von § 41 Abs. 3 Nr. 2 AMG verlangte Einwilligung eines gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten nicht rechtzeitig eingeholt werden kann (für die klinische Prüfung mit Medizinprodukten vgl. insofern § 21 Abs. 4 S. 2 MPG a.F.).[271] Die übrigen in § 41 Abs. 3 AMG normierten Kautelen bleiben hiervon selbstverständlich unberührt, und soweit § 41 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 i.V.m. § 40 Abs. 4 Nr. 3 S. 3 AMG für Einwilligungsunfähige die grundsätzliche Beachtlichkeit eines entgegenstehenden natürlichen Willens postuliert, wird man dies in ergänzender Auslegung auch auf Fälle im originären Anwendungsbereich des § 41 Abs. 1 S. 2 AMG zu übertragen haben.[272] Gleiches gilt im Grundsatz auch für eine Patientenverfügung i.S.d. § 1901a Abs. 1 BGB, welche die Teilnahme an Arzneimittelstudien ausschließt.[273] Abgesehen von der Frage, ob die Vorausverfügung die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation des Betroffenen hinreichend konkret umschreibt, wird hier in Notfallsituationen allerdings häufig das Problem bestehen, dass die für eine Prüfung der Validität einer vorgefundenen oder von Dritten beigebrachten Patientenverfügung benötigte Zeit nicht zur Verfügung steht.[274]
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Der Verzicht des § 41 Abs. 1 S. 2 AMG auf eine aktuelle Einwilligung des Probanden ist auch bei der Beurteilung möglicher strafrechtlicher Konsequenzen der Behandlung gemäß §§ 223 ff. StGB, § 96 Nr. 10 AMG zu beachten. Außerhalb der spezialgesetzlich im AMG geregelten klinischen Prüfungen ist beim einwilligungsunfähigen Notfallpatienten auf die allgemeinen Grundsätze der mutmaßlichen Einwilligung zurückzugreifen.[275] Dabei ist davon auszugehen, dass der mutmaßliche Wille des Betroffenen regelmäßig auf die Anwendung der etablierten Standardtherapie gerichtet sein wird. Der Einsatz einer neuen, vom Standard abweichenden Methode bedarf deshalb der besonderen Legitimation, die nur durch eine deutlich überlegene Risiko-Nutzen-Relation erbracht werden kann.[276] Ausgeschlossen ist vor diesem Hintergrund die Gabe von Placebos[277] sowie eine Randomisierung, die kaum vom mutmaßlichen Willen des Betroffenen gedeckt sein dürfte.[278] Zu beachten ist, dass Ehegatten sowie andere Angehörige des Betroffenen nicht zu dessen Stellvertretung befugt sind. Sie können lediglich Anhaltspunkte zur Ermittlung seines mutmaßlichen Willens liefern. Auch ein Betreuer kann sich dem Willen des Betreuten gemäß § 1901 BGB nicht entgegenstellen.[279]
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Zukünftig werden die Voraussetzungen für klinische Prüfungen in Notfällen Art. 35 der VO (EU) Nr. 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln zu entnehmen sein, auf den auch § 40b Abs. 5 AMG n.F. Bezug nimmt (dessen Verletzung wiederum § 96 Nr. 11 AMG n.F. mit Strafe bedroht). Dort wird auf die Dringlichkeit der klinischen Prüfung abgestellt, die im Vergleich zur Standardbehandlung der Krankheit nur ein minimales Risiko und eine minimale Belastung für den Prüfungsteilnehmer aufweisen darf und einen direkten klinisch relevanten Nutzen für diesen versprechen muss (Erreichung einer gesundheitsbezogenen Verbesserung und/oder Linderung des Leidens des Prüfungsteilnehmers, Ermöglichung der Diagnose seiner Krankheit). Die Dringlichkeit ist auch der Grund, der es nicht ermöglicht, im Vorfeld dem gesetzlichen Vertreter alle Informationen bereitzustellen und eine vorherige Einwilligung nach Aufklärung von diesem einzuholen. Ungeachtet dessen muss der Prüfer bescheinigen, dass der Prüfungsteilnehmer nach seiner Kenntnis zuvor keine Einwände gegen die Teilnahme an der klinischen Prüfung geäußert hat.[280] Eine ähnliche Regelung für klinische Prüfungen von Medizinprodukten findet sich seit der Ablösung des MPG zum 26. Mai 2021[281] in Art. 68 der Medizinprodukte-VO (EU) 2017/745, auf den § 28 Abs. 5 MPDG Bezug nimmt.