Читать книгу Dürnsteiner Puppentanz - Bernhard Görg - Страница 9
Freitag, 16. April 17 Uhr 09
ОглавлениеWas für ein Kaff. Gföhl. Der Ort genauso nichtssagend wie sein Name. Noch gestern um diese Zeit hätte ihn das gar nicht gestört. Weil er zu dieser Zeit noch überzeugt gewesen war, hier seine Abschiedsvorstellung als niederösterreichischer Polizeidirektor zu geben. Die hätte von ihm aus auch in Alt-Nagelberg oder Großmugl stattfinden können. Alles Orte, die er ohnehin kein zweites Mal in seinem Leben sehen würde.
Heute stand die Eröffnung der neuen Polizeistation auf dem Programm. In Wahrheit nur ein Umbau. Er hatte sich alle Mühe gegeben, aus der Veranstaltung ein großes Fest zu machen. Nicht nur dem Image der Polizei, sondern auch dem Landeshauptmann zuliebe, der schon vor sechs Wochen sein Kommen zugesagt hatte. Ihn würde er ja auch in seiner neuen Funktion gut brauchen.
Wenigstens war das Wetter hervorragend. Blauer Himmel. Die Frühlingssonne spendete ausreichende Wärme. Kein Wind, allenfalls ein Lüftchen, schwer beladen mit dem aufdringlich süßen Duft des Flieders an der Mauer da drüben. Dazu allerlei Blütenpollen, die ihn in der Nase juckten. Im wahrsten Sinne des Wortes reizend war es hier im Freien. Auf dem Hauptplatz. Eine Festveranstaltung mit allem Drum und Dran. Örtliche Blasmusikkapelle. Glanzpolierter Spritzenwagen der Freiwilligen Feuerwehr. Mit Frühlingsblumen bekränzte Weinkönigin im Dirndl. Die Gföhler Gemeinderäte und sonstigen Honoratioren vollständig angetreten. Und gut hundert Personen als Publikum. Begrüßung durch den Bürgermeister, dessen Nase eine innige Beziehung zu alkoholischen Getränken aller Art verriet. Selbstverständlich mit dem Herrn Landeshauptmann als erstem Adressaten der Grußbotschaft. Dann hatte der Gemeindevorsteher aber als zweiten Ehrengast nicht ihn, sondern die neue Sicherheitssprecherin der Volkspartei begrüßt. Landtagsabgeordnete Katharina Krenn. Sie saß neben ihm, zog die Blicke auf sich und stahl ihm, Wolfgang Marbolt, dem obersten Sicherheitsverantwortlichen des Landes, die Show. Das tat weh. Aber lang nicht so weh wie der Telefonanruf eines guten Freundes gestern Abend.
Jetzt saß er in der ersten der vor dem Gemeindeamt aufgestellten sechs Reihen und tat so, als würde er den salbungsvollen Worten des Landeshauptmanns aufmerksam lauschen. Die ölige Stimme schien ihm heute den falschen Zungenschlag, den er bei Reden des Landesfürsten immer zu hören glaubte, besonders deutlich zu unterstreichen. Neben sich die Sicherheitssprecherin. Zugegeben attraktiv, aber in Sicherheitsfragen völlig unbeleckt. Eigentlich hatte er erwartet, vor der Besetzung dieser Position vom Landeshauptmann zumindest konsultiert zu werden. Wozu war er denn der oberste Sicherheitsbeamte des Landes? Aber nichts dergleichen. Als ob er Luft wäre.
Aber der Landeshauptmann und seine Abgeordnete konnten ihm heute so oder so gestohlen bleiben. Seine Gedanken kreisten um ein viel dringenderes Problem. Wie sollte er das Desaster seiner Frau erklären? Warum war er auch so dumm gewesen? Vor drei Wochen hatte er ihr gegenüber geprahlt, dass die öffentliche Ausschreibung eine reine Formsache sei. Weil er den Posten ohnehin schon so gut wie in der Tasche habe. Und dann vor knapp 24 Stunden die niederschmetternde Nachricht. Zwar inoffiziell, aber aus sicherer Quelle. Die sprudelten für ihn ja noch immer. Der Herr Innenminister habe sich für einen anderen Kandidaten entschieden. Dieser Hurensohn. Fand es nicht einmal der Mühe wert, ihn persönlich von seiner Entscheidung zu informieren. Ihn, der fast drei Jahre lang als Büroleiter mit seinem Chef ein Herz und eine Seele gewesen war. Die ganze Drecksarbeit, deren Erledigung der hohe Herr, feige wie Politiker eben waren, wie die Pest hasste, hatte er ihm abgenommen.
Dabei hatte er es geahnt. Aus dem Innenministerium hätte schon viel früher eine positive Nachricht kommen müssen. Schon seit einer guten Woche hatte er ein flaues Gefühl im Magen. Dieses Gefühl hinterließ bereits Spuren außerhalb des Magens. Im Büro war er noch kürzer angebunden gewesen, als es ohnehin seine Art war. Als Vorgesetzter war er nie einer von der Bussi-Bussi-Sorte gewesen. Wollte er auch nie wirklich sein, obwohl ihm in dem Punkt sein Minister ein großes Vorbild hätte sein können. War eben ein typischer Politiker, der den Höhepunkt seiner Karriere noch vor sich zu haben glaubte. Selbstverständlich mit halb Österreich per Du. Er hingegen war auf Distanz bedacht.
In den letzten Tagen auch mehr Alkohol als üblich. Sogar Whisky, den er eigentlich gar nicht mochte. Nur für hochrangige Besucher hatte er den in seinem Büro vorrätig. Die gaben ihm für seinen Geschmack allerdings viel zu selten die Ehre. Weil er seine Vorzimmerdamen nicht um ein Glas bitten wollte, hatte er gestern sogar einen kräftigen Schluck aus der Flasche genommen, oder auch zwei. Für ihn ein deutliches Signal, dass er mit sich nicht im Reinen war. Ein weiteres Signal dieser Art: Seine Frau war vorgestern durchaus in Stimmung für Sex gewesen. Kam nicht sehr häufig vor. Aber nicht einmal dazu hatte er Lust gehabt.
Seit gestern Nacht zermarterte er sich sein Gehirn. Wie war es nur möglich gewesen, dass er mit seiner Bewerbung nicht zum Zug gekommen war? Für eine Position wie maßgeschneidert für ihn. Generalsekretär des Innenministeriums. Also die klare Nummer Zwei. De facto eigentlich die Nummer Eins. Weil sich der Minister ja nie um operative Angelegenheiten kümmerte. Mit sieben Sektionschefs als Untergebenen. Selbstverständlich mit einer speziell für ihn entworfenen Uniform. Er sah an sich hinunter. Wie er seine jetzige Arbeitskleidung hasste, mit der er sich von seinen Amtskollegen aus den anderen Bundesländern nicht unterscheiden konnte. Nicht einmal von denen aus Vorarlberg oder dem Burgenland. Dabei waren diese Bundesländer gerade einmal so groß wie ein einziger politischer Bezirk in Niederösterreich.
Der Landeshauptmann salbaderte dahin. Von der Präsenz der Polizei, die dem Volk Sicherheit vermitteln würde. Er galt wohl nur deshalb als guter Redner, weil alle anderen Politiker noch ermüdender redeten. Müde. Das war der Punkt. Diese ganze Sache machte ihn unendlich müde. Wahrscheinlich war er einer läppischen Intrige zum Opfer gefallen. Wenn er nur dahinterkommen würde, wer warum welches Gift in das Ohr des Innenministers geträufelt hatte, würde er gegensteuern können. Information war der Schlüssel zum Erfolg. Früher war er im Zentrum des Informationsflusses gesessen. Aber jetzt, jetzt saß er in Gföhl, in St. Pölten, oder sonst irgendwo im niederen Österreich, abseits der wichtigen Kanäle, abseits der Büros der Macht. Was für ein leichtgläubiger Mensch sein früherer Chef doch war. Immer auf die Person hörend, die sein Büro als letztes betreten hatte. Gerade deshalb hätte der Minister ihn als Generalsekretär so dringend gebraucht: weil er ein untrügliches Gespür für Intrigen hatte. Wie fein gesponnen sie auch immer sein mochten. Dabei half ihm seine überragende Menschenkenntnis. Als Leiter des Ministerbüros war er im ganzen Ministerium für diese Menschenkenntnis berühmt und gefürchtet gewesen. Der Minister mochte ja über eine Reihe von Qualitäten verfügen, aber Menschenkenntnis gehörte sicher nicht dazu.
Applaus. Applaus. Offensichtlich war der Landeshauptmann mit seiner Rede am Ende. Wenigstens etwas. Der Marsch, den die Kapelle jetzt intonierte, kam ihm irgendwie bekannt vor. Diese Amateurmusikanten spielten doch immer dasselbe. Und der Landeshauptmann griff zum Taktstock. Der war sich auch für nichts zu blöd. Naja. Jetzt noch schnell ein bis zwei Gläser Wein, dann Händeschütteln mit den Ehrengästen und ab nach Hause.
Morgen beim Frühstück musste er seiner Britta endlich reinen Wein einschenken. War ohnehin eine schauspielerische Meisterleistung von ihm gewesen, beim gestrigen Abendessen so zu tun, als könnte er den Anruf des Ministers gar nicht mehr erwarten. Mit der Nachricht, die sie wahrscheinlich noch schlimmer treffen würde als ihn selbst, konnte er nicht länger hinterm Berg halten. Sonst würden ihm die Buschtrommeln womöglich zuvorkommen. Britta hasste dieses Niederösterreich noch mehr als er. Und überhaupt St. Pölten. In seiner Bedeutungslosigkeit höchstens von Eisenstadt übertroffen.
Ihre Wiener Arroganz würde er nie verstehen. Schließlich hatte sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens in einer Genossenschaftswohnung in Liesing gewohnt. Auch nicht besser als St. Pölten. Aber sie tat immer so, als wäre sie in einer hochnoblen Cottage-Villa in Hietzing oder Grinzing aufgewachsen. Eines aber musste er ihr lassen: Wenn es darauf ankam, hatte sie einen geradezu sagenhaften Instinkt. Vielleicht konnte sie ihm helfen. Vielleicht konnte sie erraten, über welche Intrige er zu stolpern drohte.
Als er von seinem Sessel aufstand, fiel sein Blick auf das von der Sonne angestrahlte blonde Haar seiner Sitznachbarin. Die Frau Landtagsabgeordnete hätte ein gutes Model für eine Shampoo-Werbung abgegeben. Ihr Haar war beinahe so perfekt wie das von… Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Um Himmels willen! Das Model! Der Polizeiball vor zwei Monaten. Konnte der schuld an der Katastrophe sein? Britta war damals jedenfalls richtig wütend auf ihn gewesen.
Er hatte damals den Auftrag gegeben, den Polizeiball wieder zum Höhepunkt der Saison zu machen. Über die letzten Jahre war diese einst leuchtende Rose im St.Pöltner Ballkalender zu einem mickrigen Mauerblümchen verkümmert. Da galt es, keine Kosten und Mühen zu scheuen. Einem Mitglied des Organisationskomitees war die Idee gekommen, ein in Deutschland sehr bekanntes Erotik-Model für die Mitternachtseinlage zu engagieren. Das hatte ihm gefallen. Sozusagen als Kampfansage gegen den St. Pöltner Mief. Und gegen den niederösterreichischen gleich dazu. Die Lady war auch ein voller Erfolg gewesen. Bei den Medien schon im Vorfeld. Vor Ort bei den Herren aller Altersgruppen. Und auch bei den Damen, zumindest bei den jungen. Sowohl der Landeshauptmann als auch der Minister, die stark akklamierten Ehrengäste des Balls, hatten während der Vorstellung Stielaugen. Daher war er sehr zufrieden gewesen. Anders als seine Britta hatte er allerdings die Ehefrauen der beiden Politiker nicht beobachtet. Auf der Heimfahrt vom Ball war sie dann fuchsteufelswild gewesen. Warum hatte er nicht dafür gesorgt, dass die Damen der beiden hohen Herren während der Mitternachtseinlage weggelotst wurden? Ins Spielcasino im ersten Stock oder sonst wohin, wo sie die gierigen Blicke der Ehemänner nicht aus nächster Nähe mit ansehen mussten. Diese Dummheit würde ihm noch auf den Kopf fallen, hatte ihm seine Britta prophezeit. Denn der Landeshauptmann und der Minister würden ihn dafür verantwortlich machen, wenn bei ihnen der Haussegen wegen des tanzenden Models schief hing.
Er spürte Schweiß auf seiner Stirn. Zwar konnte er nicht hundertprozentig sicher sein, ob er die Verhinderung seiner Beförderung wirklich zwei spießigen Ehefrauen zu verdanken hatte. Aber er wusste aus vielen Erlebnissen, dass der Minister unter dem Pantoffel seiner Frau nicht nur stand, sondern geradezu darunter verschwand. Britta würde in diesem Faktum ganz sicher die Ursache der Misere sehen. Und er musste zugeben, dass ihr Instinkt sie wirklich selten trog.
Er blickte auf sein Handy, das er zu Beginn der Zeremonie auf lautlos gestellt hatte. Eine neue Nachricht: »Der Minister möchte Sie sehen. Bitte um Anruf Montag Früh.« Sein Herz machte einen Sprung. Sein ehemaliger Chef würde ihn nie zu sich bestellen, um ihm eine negative Nachricht zu geben. Dazu war er viel zu feig. Hatte er es sich doch anders überlegt?