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III. Vorwurf des Demokratiedefizits
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Seit jeher sieht sich die EU dem Vorwurf des sog. Demokratiedefizits ausgesetzt. Plakativ heißt es dabei, die Union würde am Kriterium der Demokratie scheitern, würde sie sich selbst beitreten wollen. Das Problem wurzelt in der Willensbildung in der EU. Es ergibt sich v.a. aus der Stellung des Rates, welcher das Hauptrechtsetzungsorgan der EU darstellt, obwohl er aus Regierungsvertretern zusammengesetzt und somit nur mittelbar demokratisch legitimiert ist. Die Position des Europäischen Parlaments wurde zwar durch den Vertrag von Lissabon – insbesondere durch die Erhebung zum Co-Gesetzgeber im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 289, 294 AEUV) – gestärkt, doch kommt dem Rat nach wie vor eine wesentliche Rolle bei der Gesetzgebung zu. Insbesondere hat das Parlament weiterhin kein Gesetzesinitiativrecht (dazu → Rechtsetzungsverfahren).
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Auch die degressiv proportionale Sitzverteilung (s. Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3, 4 EUV), welche zu einer Unterrepräsentation der bevölkerungsreichen und Überrepräsentation der bevölkerungsschwachen Mitgliedstaaten im Parlament führt, trägt zum Demokratiedefizit bei. Diese ungleiche Repräsentation der Unionsbürger stellt einen Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit dar, da der Erfolgswert der Stimmen nicht gleich ist. Allerdings gehört die Wahlrechtsgleichheit gerade nicht zu den explizit in Art. 14 Abs. 3 EUV genannten Wahlrechtsgrundsätzen. Auch dient das degressiv proportionale System der Wahrung des Grundsatzes der Gleichheit der Staaten (Näheres → Europäisches Parlament: Wahlrecht).
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Überdies darf die besondere Struktur der Union nicht verkannt werden. Die EU ist zwar „mehr“ als eine bloße Supranationale Organisation, doch ist sie kein Bundesstaat (→ Europäische Union: Strukturprinzipien). Ein dahingehender Wille ist auch nicht erkennbar. Weiterhin verfügt sie über kein eigenes Staatsvolk, das durch ein Parlament vertreten werden könnte. In einem solchen Staatenverbund kann demokratische Legitimation naturgemäß nicht in gleicher Weise wie in einem Bundesstaat hergestellt werden. Erforderlich ist vielmehr eine bloß strukturangepasste Grundsatzkongruenz, also ein demokratischer Standard, der den Besonderheiten der EU Rechnung trägt (s. auch → Konstitutionalisierung).
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So erkennt auch das BVerfG an, dass die Europäische Union, „[d]a und soweit“ sie nur abgeleitete öffentliche Gewalt ausübe, „den Anforderungen [der Demokratie] nicht vollständig zu genügen“ brauche (BVerfGE 123, 267 [368, Rn. 271] – Lissabon; ähnlich BVerfGE 89, 155 [182] – Maastricht). Das Europäische Parlament wird vom BVerfG als bloß „zusätzliche Quelle für demokratische Legitimation“ gesehen (BVerfGE 123, 267 [368, Rn. 271] – Lissabon). Angesicht des → Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung und „solange eine ausgewogene Balance der Unionszuständigkeiten und der staatlichen Zuständigkeiten erhalten bleibt, kann und muss die Demokratie der Europäischen Union nicht staatsanalog ausgestaltet sein“ (BVerfGE 123, 267 [368 f.; Rn. 272] – Lissabon).
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Je mehr Befugnisse auf die EU übergehen, desto höhere Anforderungen sind an die demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament zu stellen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass eine Erweiterung der legislativen Macht des Parlaments auch eine Beschneidung des Grundsatzes der Subsidiarität mit sich bringen könnte. Überdies wurden mit dem Vertrag von Lissabon wichtige Schritte in diese Richtung gemacht, indem sowohl das Europäische Parlament gestärkt als auch die Beteiligung der nationalen Parlamente erweitert wurde. Zudem wird eine gewisse Kompensation des Defizits über das sog. Prinzip der doppelt-qualifizierten Mehrheit im Rat erreicht, wonach nicht nur die Stimmen von 55 % der Ratsmitglieder aus mindestens 15 Staaten, sondern zusätzlich auch von 65 % der Unionsbevölkerung erforderlich sind (Art. 16 Abs. 4 UAbs. 1 EUV) (Näheres → Rat [Ministerrat]). Ferner könnte die demokratische Legitimation durch eine stärkere Rückbindung der Regierungsvertreter an die nationalen Parlamente gefördert werden (s. z.B. für Deutschland das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union, EUZBBG). Trotz der anhaltenden Kritik in Bezug auf die – gewiss ausbaufähige – demokratische Legitimation der EU ist nicht zu verkennen, dass bereits beachtliche Fortschritte erzielt wurden.