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I. Allgemeines
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Die Dienstleistungsfreiheit gewährleistet gemeinsam mit der → Niederlassungsfreiheit umfassend die Freiheit der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung in der Europäischen Union. Die Dienstleistungsfreiheit erfasst die Konstellationen, in denen der Dienstleistungserbringer seinen Produktionsstandort nicht dauerhaft verlegen kann oder möchte. Wie auch die anderen Grundfreiheiten (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren) dient sie der wirtschaftlichen Integration in der Europäischen Union (→ Binnenmarkt) und gehört insoweit zu den „fundamentalen Grundsätzen bzw. den „Grundprinzipien des Vertrages“ (EuGH, Urt. v. 17.12.1981, 279/80 – Webb –, Rn. 17; Urt. v. 19.1.1999, C-348/96 – Calfa –, Rn. 16). Ihre praktische Bedeutung hat in den letzten Jahrzehnten aufgrund des gestiegenen Anteils des Dienstleistungssektors an der Wirtschaftsleistung in der Europäischen Union stark zugenommen. Der Abbau von Handelshemmnissen im Dienstleistungsverkehr ist daher ein wesentlicher Faktor für die zukünftige Entwicklung der Wirtschaft in der Europäischen Union.
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Die Dienstleistungsfreiheit ist im Titel IV des Dritten Teils des AEU-Vertrags in den Art. 56–62 AEUV gemeinsam mit der → Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit sowie der → Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit geregelt. Sie erlaubt das Anbieten und die Erbringung von Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat und den Aufenthalt in dem Mitgliedstaat zu diesem Zweck. Die Kunden von Dienstleistungen verfügen spiegelbildlich über das Recht, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um die dort angebotenen Dienstleistungen in Empfang nehmen zu können. Neben diesem personenbezogenen Inhalt erfasst die Dienstleistungsfreiheit Sachverhalte, in denen lediglich die Dienstleistung selbst die Grenzen überschreitet. In diesen Konstellationen weist die Dienstleistungsfreiheit einen der → Warenverkehrsfreiheit ähnlichen Produktbezug auf (zu den verschiedenen Erbringungsvarianten s.u. Rn. 543).
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Die Dienstleistungsfreiheit enthält für die Leistungserbringer ein spezielles Diskriminierungsverbot und ein Beschränkungen entgegenstehendes Freiheitsrecht. Im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs werden daher das allgemeine Diskriminierungsverbot (→ Diskriminierungsverbot, allgemeines) aus Art. 18 UAbs. 1 AEUV und das allgemeine Freizügigkeitsrecht (→ Freizügigkeit, allgemeine) aus Art. 21 AEUV verdrängt (EuGH, Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 51 f.; Urt. v. 19.6.2014, C-53/13 – Strojirny Prostejov –, Rn. 32). Ist der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit dagegen nicht eröffnet, wie etwa für den Zugang zu unentgeltlichen staatlichen Bildungseinrichtungen, kann eine Berufung auf das allgemeine Diskriminierungsverbot erfolgen (EuGH, Urt. v. 13.2.1985, 293/83 – Gravier –, Rn. 26).
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In Übertragung der Rechtsprechung des → Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist davon auszugehen, dass die Dienstleistungsfreiheit in Art. 15 Abs. 2 GRCh nur innerhalb der Grenzen und Bedingungen der Art. 56 ff. AEUV gilt (vgl. EuGH, Urt. v. 4.7.2013, C-233/12 – Gardella –, Rn. 39). In welchem Umfang das Grundrecht der freien unternehmerischen Betätigung gem. Art. 16 GRCh einen über die Gewährleistungen der Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 56 ff. AEUV hinausgehenden Inhalt aufweist, ist noch nicht abschließend geklärt.
D › Dienstleistungsfreiheit (Michael Rafii) › II. Berechtigte und Verpflichtete