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EINLEITUNG

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WIE SIE DIE FÜSSE AM BESTEN IN DEN TELLER STELLEN

Winston Churchill hat einmal so etwas gesagt wie: »Bei den Engländern ist alles erlaubt, was nicht verboten ist. Bei den Deutschen ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. Bei den Russen ist alles verboten, auch was erlaubt ist. Und bei den Franzosen ist alles erlaubt, auch was verboten ist.« Was Frankreich betrifft, hat er damit auf jeden Fall recht: Wenn man über die Fettnäpfchen schreibt, die einem als Deutscher in Frankreich zur Verfügung stehen, dann lassen sich unendlich viele finden – oder gar keine. Denn bei den Franzosen ist alles erlaubt, so das Klischee, das man auch im französischen Liebesroman findet, in dem es keine sexuellen Tabus zu geben scheint. Fragt man also nach Regeln und sozialen Codes, erhält man kaum eine Antwort. Es bleibt jedem selbst überlassen, welchen gesellschaftlichen Regeln er sich beugen will. Doch hinter dieser vermeintlich liberalen Oberfläche stecken umso stärkere soziale Codes. Die meisten Franzosen finden es selbstverständlich, sich an gewisse Regeln zu halten und zu wissen, dass man die Dinge »so und nicht anders« macht. Und genau aus eben diesem »Wie« meint man in Frankreich, eine »gute« oder »schlechte« Erziehung ablesen und darüber auch auf den sozialen Stand des Einzelnen schließen zu können. Theoretisch darf man also machen, was man will, doch wehe dem, der das tatsächlich tut! Denn Franzosen schätzen ihre Regeln und sozialen Codes und saugen sie schon mit dem ersten Babyfläschchen ein. Normen und Verhaltenskodexe durchziehen alle Teile der Gesellschaft: darunter die Etikette, die Mode, ethische Fragen, die Kunst und die Literatur. Alles, was getan wird, muss »in der richtigen Art und Weise« erfolgen. Denn: il faut savoir-vivre! Gewusst, wie!

Für die Deutschen bedeutet der Begriff in seiner Übersetzung etwas vollkommen anderes – unter savoir-vivre verstehen wir in etwa: »Leben wie Gott in Frankreich.« Also Essen und Schlemmen, bis Gott persönlich vorbei kommt. Was für die Franzosen eine jahrelange strenge Schule ist, hat sich in der deutschen Kultur durch Literaten wie Goethe und Thomas Mann ins Gegenteil verkehrt: Savoir-vivre bedeutet bei uns die Kunst von unbeschwertem Lebensgenuss, den gelassenen Umgang mit allen Anforderungen und Verwicklungen, die das Leben mit sich bringt, bis hin zu dem Anspruch, das eigene Leben als Kunstwerk zu gestalten. Während für Deutsche das savoir-vivre also die Kunst ist, die eigene Unvollkommenheit als kreative Quelle zu erkennen und zu nutzen, ist für die Franzosen das savoir-vivre ein praktisches Regelwerk, das sicherstellt, dass die eigene Unvollkommenheit nicht mehr sichtbar ist und so weit verdrängt wird, bis sie, hoffentlich, ganz verschwindet. Perfektion ist das Ziel. Perfektion in Stil, Aussehen, Konversation, in Höflichkeit und Freundlichkeit – hier nimmt die Liste gar kein Ende. Wenn man in einem französischen savoir-vivre-Buch blättert, dann finden sich dort Hinweise dazu, »wie man es schafft, ohne große Anstrengung sowohl eine charmante Gastgeberin zu sein als auch ein bewundernswerter Gast, eine beneidenswerte Kollegin, eine vortreffliche Freundin und eine perfekte Verlobte.« Also, wie man praktisch immer und überall einen guten Eindruck hinterlässt, andere von sich überzeugt und sich beliebt macht. Man muss wissen, ce qui se fait (was man macht) und ce qui ne se fait pas (was man nicht macht).

Doch auch über diese jahrhundertealten französischen Traditionen gibt es in Frankreich heute selbst keine Einigung mehr, die Gesellschaft driftet in konträre Richtungen ab und hat teilweise kaum vereinbare Vorstellungen davon, welche gesellschaftlichen Normen überhaupt gelten sollen. Das machte sich bereits in den Präsidentschaftswahlen 2012 und den Europawahlen 2014 bemerkbar. Die Frage, ob homosexuelle Paare heiraten dürfen oder nicht, trieb wertkonservative 80-Jährige zum ersten Mal in ihrem Leben zum Demonstrieren auf die Straße. Obwohl Emmanuel Macron und seine Partei En marche 2017 von einer überwiegenden Mehrheit mit der Reformierung der Sozialsysteme in Frankreich beauftragt wurde, kam die Umsetzung dieser Arbeitsmarktreform bereits 2018 durch die Bewegung der Gilets Jaune, der Gelbwesten, ins Stocken. Ein tiefer Graben zieht sich heute durch die französische Gesellschaft, wenn es darum gehen soll, wie sich dieses traditionell reiche aber auch in Teilen erstarrte Land reformieren soll. Dieser Graben zieht sich mitten durch Familien, trennt Nachbarn und Liebespaare. Und in all den konträren politischen Forderungen wird schnell ein historisch bedeutsames Wort laut: »Revolution!«

Damit Sie bei Ihrem Aufenthalt nicht aus Versehen eine persönliche Revolution anzetteln, haben wir diesen Fettnäpfchenführer geschrieben. Für die unterhaltsame Vermittlung von deutsch-französischen Fettnäpfchen haben wir auf die wertkonservativen Franzosen zurückgegriffen. Sie haben keine einheitliche politische Richtung; sowohl politisch Linke als auch Zentrums-Wähler oder eher Rechte hängen in Frankreich an den jahrhundertealten Idealen, aus denen sich für sie ganz klar Alltagskonventionen ablesen lassen. Dass wir damit der französischen Gesellschaft in ihrer charmanten und außergewöhnlichen Vielfalt natürlich nicht gerecht werden können, versteht sich von selbst.

Versuchen auch Sie bitte gar nicht erst, perfekt zu sein! Das werden Sie sowieso nicht schaffen, schon an der französischen Sprache werden Sie vermutlich scheitern. Außerdem gelten die Boches, Chleus oder Fritz (alte Schimpfwörter für den deutschen Erbfeind) ohnehin als stillos, dick, rotgesichtig und schlecht angezogen. Hinzu kommt, dass die Franzosen als Sieger des Zweiten Weltkrieges den Deutschen gegenüber ein Überlegenheitsgefühl entwickelt haben. Und auch die ältere Geschichte sagt den Franzosen, dass ihre Kultur das Maß aller Dinge ist: Während die Germanen noch in ihren sumpfigen dreckigen Wäldern hausten, wurde in Frankreich schon der Champagner kalt gestellt und dazu eine heiße Wanne eingelassen – so überliefern es die Franzosen. Versuchen Sie es also gar nicht erst, treten Sie lieber mit Genuss und Eleganz in die schönsten Fettnäpfchen, denn auf das »Wie« kommt es schließlich an!

Über 25 Jahre ist es nun her, seit die französischen Streitkräfte aus Berlin abgezogen sind. Längst ist aus dem Verhältnis Sieger-Besiegter eine Freundschaft geworden. Diese deutsch-französische Freundschaft ist der Kern der europäischen Gemeinschaft, und ihr Erfolg besteht im Austausch und im Abbau von Vorurteilen und Klischees, die zu Abgrenzung und Ausgrenzung führen. Wie damit umgehen in einem Buch, das in der Beschreibung von »Fettnäpfchen« von Klischees lebt und sie bedient? Wir haben uns bewusst dafür entschieden, bei der Darstellung der Figuren ordentlich »auf die Tube« zu drücken – sowohl aus deutscher als auch aus französischer Perspektive. Denn die Kunst der Übertreibung schien uns in diesem Zusammenhang die einzig wahre. Sie allein vermag es, Überholtes und Festgefahrenes zu beseitigen, indem sie es ad absurdum führt und neue Denkräume schafft.

Dieses Buch gibt Ihnen sowohl einen guten Einblick in die französische Kultur als auch einige praktische Tipps, wie Sie es schaffen, »Ihre Füße in die größten Teller zu stellen« – mettre les pieds dans le plat heißt auf Französisch »ins Fettnäpfchen treten«. Dass das so heißt, ist kein Zufall, denn alles, was wichtig ist, hat in Frankreich mit Essen zu tun. Ende 2010 hat die UNESCO das traditionelle französische Menü mit Aperitif, Vorspeise, Hauptgericht, Nachtisch, Käse und Kaffee zum Weltkulturerbe ernannt. Deswegen dreht sich auch in diesem Fettnäpfchenführer sehr viel um das Thema Essen. Unser Protagonist Manfred Fischer (Manni) genießt auf seine Art, il fait des gaffes (auch ein Ausdruck für »ins Fettnäpfchen treten«). Er ist ein deutsches Urgestein und trägt nicht von ungefähr den Namen eines berühmten Mammuts. Manni besucht mit Frau Eva und Sohn Anton seine Tochter Paula, die ein Austauschjahr in Paris verbringt, und entwickelt eine geradezu blinde Gewissheit darin, sich immer und überall die schönsten Fettnäpfchen auszusuchen. Paula kommt natürlich während ihres langen Frankreichaufenthaltes auch nicht drum herum, sich zu blamieren. Und sogar Katja, die Paula im Supermarkt kennenlernt, und die als Deutsche mit einem Franzosen verheiratet ist, in Paris lebt und arbeitet, weiß ganz genau, wie es sich anfühlt, plötzlich mit den Füßen in einem fremden Teller zu stehen!

Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen! Wir wünschen bon voyage et bon appétit!

Fettnäpfchenführer Frankreich

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