Читать книгу Kommissar Terani ermittelt - Bettina Bäumert - Страница 25
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ОглавлениеObwohl sich die Sonne immer erfolgreicher durch dichte Wolkenfelder kämpfte, blieb es weiterhin schneidend kalt. Serafina zog ihren dicken Schal noch etwas weiter über ihr Kinn. Völlig in Gedanken versunken ging sie durch die Straßen der Stadt.
Leonard Terani hatte Serafina zwar noch fragend angesehen, bevor er mit Kai Berger zusammen das Büro verlassen hatte, allerdings hatte sie, zum Zeichen, dass ihr Anliegen nicht ganz so wichtig sei, nur leicht mit dem Kopf geschüttelt. Und das, obgleich sie ein Gespräch mit ihm dringend gesucht und gebraucht hätte. Sie wollte und musste mit ihm reden. Und zwar in der Art, wie sie es früher stets getan hatten. Nicht nur zwischen Tür und Angel. Nicht auf die Schnelle. Serafina suchte ein Gespräch, wie es vor noch nicht allzu langer Zeit zwischen ihr und Leonard Terani üblich war. Ein Gespräch ohne Wenn und Aber.
Sie stöhnte leise. In letzter Zeit schien in ihrem Leben alles verhext zu sein. Sie konnte mit niemanden über das reden, das sie bedrückte und beschäftigte. Nicht über die vielen betrüblichen Geschehnissen in Village. Und auch nicht über ihre diesbezüglichen unangenehmen Gefühle und Visionen.
Es gab eine Zeit, da wurde sie vom Schamanen Fridolin Schiller nicht nur sofort verstanden. Da hatte er jedes Mal selbst gesehen, lag Serafina etwas auf der Seele, das sie nicht wirklich erklären konnte. Zurzeit befand er sich allerdings ständig auf Reisen, um Vorträge über Schamanismus zu halten. Wer er dann doch einmal vor Ort, wurde er von seiner Praxis voll und ganz in Anspruch genommen. Oder aber, er war bei Ulrike. Worüber sich Serafina auch ehrlich freute.
Auch mit ihrer besten Freundin Ulrike konnte Serafina nicht mehr wirklich reden. Ein längeres und tiefer gehendes Gespräch mit ihr, war unmöglich geworden. Zum einen lag es daran, dass Ulrike wunderbar verliebt war, zum anderen aber auch daran, dass sie beide im Laden alle Hände voll zu tun hatten. Dieser Um- stand lag vor allem an dem nicht enden wollenden Zustrom an Touristen, von dem Village dank Smilla Schlinger in letzter Zeit regelrecht überrannt wurde.
Und Leonard Terani?
Als Serafina an den Kommissar dachte, huschte ein zaghaftes Lächeln über ihr Gesicht. Es war noch nicht allzu lange her, da hatte er ihre Hand ganz sanft in der seinen gehalten. Die Erinnerung daran berührte noch immer ihr Herz bis ins tiefste Innere. Seinerzeit waren sie noch lange dicht beieinander im Garten gesessen. Lange noch, nachdem ihre Freunde gegangen waren. Damals konnte sie mit ihm über ihre Träume und Visionen sprechen. Schließlich hatten sie nicht unerheblich zur Rettung seiner Exfrau beigetragen. Damals hatte er sich ehrlich angestrengt und bemüht, ihre unheimlichen Vorahnungen zu verstehen. Und dies, obgleich es ihm spürbar schwerfiel. Damals hatte Serafina auch das sichere Gefühl gehabt, das Band zwischen ihnen hätte an Stärke dazu gewonnen. Sie hatte wirklich geglaubt, der Kommissar würde sie nicht nur verstehen, er würde sie auch … lieben.
Als Leonard Terani dann Weihnachten nicht wie sonst üblich ins Ausland flüchtete und die Feiertage zu Hause verbrachte, wurde Serafina von einer Woge innigster Zuneigung und Wärme durchströmt. Damals war sie überzeugt gewesen … Selbst die Perle des Hauses Terani, Carmen, geriet seinerzeit durch die Anwesenheit ihres geliebten Ziehsohnes völlig aus dem Häuschen. Schließlich hatte sie unzählige Jahre die Feiertage ohne ihn verbringen müssen.
Serafina sog die kalte, klare Luft tief ein. Nein, Leonard Terani konnte ihre Gabe nicht verstehen. Das war ihr endlich klar geworden. In letzter Zeit hatte sie sogar immer mehr das Gefühl, er habe eine gewisse Angst davor. Und somit hatte er auch Angst vor ihr. Ähnlich wie Kai Berger. Wie sollte Leonard Terani auch all das begreifen können? Manches von dem, das passierte verstand Serafina selbst nicht. So wie diese Kälte, die nichts mit dem Wetter und dem Winter gemein hatte. Von der sie allerdings immer häufiger überrascht wurde. Diese Kälte kam von innen. Sie kam tief aus ihrer Seele. Und das machte ihr Angst. Genau darüber hätte sie gerne mit Leonard Terani gesprochen.
Auch mit Charlotte Charles, der ansonsten so einfühlsame Gothic, war es Serafina nicht möglich gewesen zu reden. Nach dem Gespräch im Büro hatte es die Rechtsmedizinerin sehr eilig in ihr Reich zu gelangen, wie sie ihre Arbeitsstätte gerne bezeichnete. Selbst Charlotte hatte nicht bemerkt, dass Serafina ein Gespräch suchte und dringend nötig hatte.
Serafina atmete tief durch. Zwar hatte sie sich für diesen Tag freigenommen, allerdings wollte sie jetzt doch lieber wieder in den Laden. Es war sicher besser Ulrike zur Hand zu gehen, als ständig grübeln zu müssen. Völlig in Gedanken war Serafina jedoch an dem Geschäft vorbeigelaufen. Bis ihr das bewusst wurde, befand sie sich schon im Park. Etwas verwundert sah sie sich jetzt um. Ohne dass sie es selbst bemerkt hatte, war sie doch tatsächlich bis zum See gelaufen.
Auch hier am See hatte die Frau des Bürgermeisters ganze Arbeit geleistet. Um den Park auch nach der Silvester-Sportveranstaltung für Jedermann attraktiv zu erhalten, hatte sie um den gesamten See Imbissstände aufstellen lassen. Die von freiwilligen Helfern angebotenen kulinarischen Happen und die reichhaltige Auswahl heißer und kalter Getränke, wurden nicht nur von Touristen geschätzt. Schließlich tummelten sich auf der Spiegelgleichen Fläche des dick zugefrorenen Sees, und das bereits jetzt am frühen Vormittag, nicht wenige Schlittschuhläufer. Zwischen ihrer sportlichen Betätigung genossen somit auch viele Einheimische die angebotenen Speisen und Getränke.
Etwas abseits des Trubels ließ sich Serafina auf einer Bank nieder. Auf der Eisfläche vor ihr, bemühte sich eine Mutter ihrem dick vermummten Nachwuchs das Eislaufen beizubringen. Trotz ständiger Fehlschläge und unzähliger Stürze gaben die beiden nicht so leicht auf. Im Gegenteil schienen sie allen Widrigkeiten zum Trotz, einen Riesenspaß zu haben. Das fröhliche Lachen von Mutter und Kind wirkte ansteckend und zauberte auch auf Serafinas Gesicht ein Lächeln.
„Wissen Sie, diese kleine Schlittschuhläuferin ist eine Eisprinzessin. Sie stammt von einem Planeten aus einer weit entfernten Galaxie. Ihre Heimatwelt besteht vollkommen aus Eis und Schnee“, sagte plötzliche eine warme, dunkle Stimme in Serafinas unmittelbaren Nähe.
Serafina war dermaßen darin vertieft gewesen, Mutter und Kind zu beobachten, dass ihr völlig entgangen war, dass jemand neben ihr Platz genommen hatte. Verwundert sah sie in ein strahlend blaues Augenpaar, von dem sie mit schelmischen Lächeln unverhohlen neugierig betrachtet wurde.
Serafina musste lachen.
„Eine Eisprinzessin?“, bemerkte sie, wobei sie die Musterung des Fremden kokett erwiderte. „Weshalb eigentlich Prinzessin und nicht Prinz?“, erkundigte sie sich, wobei sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kind auf der Eisfläche widmete. „Das Kind ist dermaßen dick eingepackt. Da ist es unmöglich das Geschlecht zu definieren. Finden Sie nicht auch?“
Der Fremde zog seine rote Mütze etwas tiefer in die Stirn. Er lachte leise.
„Eisprinzessin. Glauben Sie mir. Ich weiß das“, entgegnete er im Brustton der Überzeugung.
Kaum hatte er seine Behauptung wiederholt, da verlor der kleine Eisläufer seine Kopfbedeckung und zum Vorschein kamen blonde, hochgebundene Zöpfe.
Serafina lachte schallend.
„Geben Sie es zu. Sie haben das Mädchen bereits ohne Mütze gesehen, richtig?“, sagte sie, wobei sie sich ihm wieder zuwandte. „Aber gut, nehmen wir an, Ihre Geschichte ist wahr, und die Kleine ist tatsächlich eine Prinzessin aus einer weit entfernten Welt, bestehend aus Eis und Schnee. Warum kann sie dann mit den Schlittschuhen nicht elegant über die Fläche laufen? Und überhaupt, wie ist das Kind denn von ihrer Welt auf die unsere gelangt?“
Die Augen des Fremden leuchteten vor Begeisterung. Welch ein Glück! Er hatte in dieser zierlichen Frau einen äußerst interessierten Zuhörer gefunden. Sie schien doch tatsächlich Geschichten genauso zu lieben, wie er das tat.
„Selbstverständlich beherrscht diese wundervolle kleine Prinzessin die Kunst des Eislaufens. Ihre Welt besteht schließlich aus Eis und Schnee. Ehrlich gesagt ist sie auf der eisigen und glatten Fläche eine wahre Künstlerin. Die Bewohner ihrer Welt bewegen sich ausschließlich auf glänzenden Kufen aus Silber und Gold. Allerdings möchte die Kleine hier keinesfalls auffallen. Und sie möchte schon gar nicht aus der Reihe tanzen. Deshalb versteckt sie ihr Können vor den Augen der Anderen. Ich finde, das tut sie wirklich äußerst geschickt.“
Serafina lächelte, weshalb der Fremde weiter erzählte.
„Das Mädchen kam durch ihre Neugierde hierher. Ihre Welt gleicht einem Spiegel. Sie ist eine glatte Scheibe aus Eis und Schnee. Die Kleine wollte wissen, ob es noch andere Welten gibt. Welten, die anders aussehen, anders sind. Sie wollte wissen, ob alle Welten identisch mit der ihren sind. Eine glitzernde, weiße, glatte Fläche. Wissen Sie, sie ist ein sehr vorwitziges kleines Ding. In ihrer Heimat hat sie sich kaum an Vorschriften gehalten. Tja, und um nach anderen Planeten Ausschau zu halten, wagte sie sich bis an den Rand ihrer Scheibenwelt. Leider hat sie sich dann zu weit darüber hinaus gelehnt und ist gefallen.“
Der Fremde erzählte mit melodischer, leiser Stimme. Dabei beobachtete er lächelnd das Kind, das zum dritten Male infolge auf die Eisfläche plumpste und jetzt vor lauter Lachen nicht wieder aufstehen konnte.
Serafina betrachtete nachdenklich sein Profil. Sie hatte ihn schon einmal gesehen. Da war sie absolut sicher. Allerdings wusste sie im Moment nicht, wann und wo das war. War es vor langer Zeit gewesen? Oder war es nur in einem Traum geschehen? Ja doch, sie hatte ihn in einem Traum gesehen. Allerdings konnte sie sich nicht mehr an den Inhalt des Traumes erinnern. Verwirrt schüttelte sie ihr Grübeln ab.
„Das kleine Mädchen hat also nie Vorschriften beachtet. Und? Tut sie das noch immer nicht? Was ist eigentlich mit ihrer Mutter?“
Der Fremde schmunzelte zufrieden. Auch er sah Serafina jetzt direkt an.
„Oh, oh, schon wieder gleich zwei Fragen auf einmal. Nun gut. Lassen Sie mich überlegen. … Die Prinzessin hat aus ihren Fehlern gelernt. Ihre Neugierde auf das Leben, auf all das Neue hat sie jedoch nicht eingebüßt. Sie ist vorsichtiger und auch ruhiger geworden. Ihre Mutter? … Nun, als das Kind von ihrer Welt gefallen ist, kam sie zu ihrer Erden-Mutter. Sie wollte schon immer ein Kind haben. Betrüblicherweise konnte sie aber keine Kinder bekommen. Die arme Frau hatte unzählige Fehlgeburten. Nachdem sie erneut ein totes Baby zur Welt gebracht hatte, wurde das leblose Kind mit diesem süßen Mädchen ersetzt.“
Serafina sah ihren seltsamen Gesprächspartner minutenlang völlig sprachlos an. Dann holte sie tief Luft.
„Jetzt hinkt Ihre wundersame Geschichte allerdings ganz gewaltig, Herr Geschichten-Erzähler. Dieses Kind, von dem Sie behaupten, es habe über den Rand seiner Scheibenwelt geschaut, muss somit schon älter gewesen sein. Um dies tun zu können, musste sie zumindest bereits laufen können. Also war Ihre Prinzessin kein Säugling oder Neugeborenes mehr.“ Sie sah ihn herausfordernd an. „Nun, Herr Geschichten-Erzähler, wie erklären Sie diesen Umstand?“
Der Fremde lächelte zufrieden. Dieses Gespräch machte ihm zunehmend mehr Spaß. Diese wunderschöne Frau hörte nicht nur zu, sie begleitete ihn in seiner Geschichte und kreuzte ihre Gedanken mit den seinen. Für einen Moment legte er nachdenklich den Kopf in den Nacken. Dabei sah er in den Himmel.
„Stimmt“, erwiderte er, wobei er Serafina bewundernd ansah. „Sie haben tatsächlich recht. Das Kind konnte bereits laufen. Ja sicher, sie war schon älter. Nach ihrem unfreiwilligen Sturz von ihrer Welt ist die Prinzessin durch Raum und Zeit gefallen. Dabei fiel sie Gott in den Schoß. Er bot ihr an, das Glück einer Mutter zu werden, die keine Kinder haben konnte und deshalb sehr, sehr traurig war. Und … sie ist zum kleinen Erden-Menschen geworden“, beendete er triumphierend seine Fabel.
Serafina sah ihn überrascht an. Mit diesem Ende war sie allerdings nicht zufrieden.
„Das ist schön. Sie ist Gott in den Schoß gefallen und das Glück einer Mutter geworden. Aber … Was ist mit ihrer leiblichen Mutter? Diese Frau weint bestimmt um ihr Kind. Und sie wird nie aufhören, nach ihrem kleinen Mädchen zu suchen“, murmelte sie, wobei ihr eine Träne über die Wange kullerte.
Der Fremde streifte erschrocken und besorgt seine Handschuhe ab. Dann wischte er sanft die Träne aus Serafinas Gesicht.
„Es tut mir leid. Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass das kleine Mädchen in ihrer Welt bereits erwachsen war. Erst, als sie durch Zeit und Raum fiel, wurde sie jünger und jünger.“
Serafina lachte leise.
„Ihre Geschichte ist eine wundervolle Mär, Herr Geschichten-Erzähler.“
Der Fremde sah sie liebevoll an. Einträchtig schweigend blieben sie eine lange Zeit nebeneinander sitzen. Dabei beobachteten sie still das lustige Treiben auf dem See.
„Sie waren … Sie haben Rudolf Hauswirt gerettet. Zusammen mit Leonard Terani“, stellte Serafina nach einer Weile ruhig fest.
Diese Erkenntnis war ihr gekommen, als er sie, wenn auch nur ganz flüchtig, berührt hatte.
Der Fremde blickte traurig in die Ferne. Das kleine Mädchen konnte jetzt bereits sicher über den See gleiten. Sie machte wirklich sehr gute Fortschritte.
„Rudolf Hauswirt“, begann er nach einem langen Schweigen bedrückt. „Ja. Ich war mit Leonard Terani dort. Herr Hauswirt … nun, er ist nicht tot. Aber ob ich, ob wir ihn gerettet haben, das steht auf einem ganz anderen Blatt.“
Serafina antwortete nicht. Auch sie sah schweigend auf die Eisfläche. Manchmal war es weit besser, nichts zu sagen, um nicht alles zu zerreden. Der Fremde hatte recht. Rudolf Hauswirt lag nach wie vor in einem tiefen Schlaf, aus dem er noch immer nicht aufwachen wollte. Mit einem Male spürte Serafina ganz deutlich die Nähe dieses seltsamen Fremden. Und plötzlich fühlte sie sich verstanden.
Nach einer langen Zeit des einvernehmlichen Schweigens, meinte der Fremde.
„Nat Luv. Mein Name. Nat Luv.“
„Oh. Serafina Renington“, stellte sich auch Serafina verlegen vor. „Ich weiß, wer Sie sind. Die Bewohner in Village sind durchgehend von Ihnen begeistert. Sie alle sprechen nur anerkennend und liebevoll von ‚ihrem Psychologen‘.“
Nat Luv lachte zurückhaltend.
„Ja? Wirklich? Tun sie das, die Bewohner von Village? Sind sie wirklich begeistert? Das freut mich, zu hören. Wirklich …. Da wir uns nun gegenseitig vorgestellt haben, könnten wir doch auch einen Kaffee zusammen trinken. Was halten Sie davon, Serafina Renington? Darf ich Sie dazu einladen? Somit könnte ich Ihre überaus liebenswerte Gesellschaft noch etwas länger genießen.“
In seinen Augen spiegelte sich sein Lächeln wieder. Dabei bot er Serafina galant seinen Arm.