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Kapitel 18
ОглавлениеDieser Scheiß-Containerservice!
Frauke hasste es zu spät zu kommen. Und das würde sie auf jeden Fall, selbst wenn der Lastwagen jetzt um die Ecke gebogen käme.
Was er nicht tat.
Ausgerechnet heute Nachmittag. Ausgerechnet bei den Prölls.
Sie stand bereits seit 35 Minuten auf der Straße, um den Mann, der sich auf ihrem Anrufbeantworter angekündigt hatte und dessen Namen sie nicht verstanden hatte, auf keinen Fall zu verpassen. Warum sie überhaupt zu Hause sein sollte, war ihr schleierhaft. Die würden doch sowieso eine Rechnung schicken.
Vierzig Minuten. Vor zehn Minuten hätte sie bei Prölls sein müssen.
Natürlich hatte sie angerufen und Bescheid gegeben. Frau Pröll hatte am Telefon nett geklungen. Der Kaffee sei in einer Thermoskanne und würde nicht so schnell kalt werden, hatte sie gesagt.
Aber Frauke wollte nicht gleich am ersten Tag einen schlechten Eindruck hinterlassen.
Ach, was soll’s. Wahrscheinlich ist das sowieso nichts für mich.
Im Grunde hatte sie das Treffen nur Maren zuliebe vereinbart. Frau Pröll hatte am Telefon freundlich und gelassen geklungen. Sie hatte eine junge Stimme; dabei musste sie ungefähr siebzig sein.
Endlich kam ein grauer Transporter um die Ecke gebogen. Der Fahrer grüßte kurz und begann, den Laster rückwärts zu bewegen - auf den Container zu. Frauke sah mit missmutigem Gesichtsausdruck zu ihm hin.
Bei dem Höllenlärm würde er sowieso nichts verstehen, selbst wenn sie jetzt ihrem Ärger Luft machen würde. Zu ändern war es auch nicht mehr, was auch immer der Grund für die Verspätung gewesen war.
Bin ich eigentlich genau wie meine Mutter geworden? Die alles immer geschluckt hat?
Manchmal kam es ihr so vor.
Der Fahrer stieg aus, um die beiden dicken Ketten am Stahlknauf des Containers zu befestigen. Dann ging er zum Führerhaus zurück und holte ein großes Bündel heraus. Er kletterte auf den Container und fing an, das Bündel auszubreiten - es war ein grobmaschiges Netz aus Hanf.
„Wie lange wird das denn dauern?“ rief Frauke nach oben.
Der Fahrer zuckte die Schultern.
„Wenn Sie den Container nicht so voll gemacht hätten, müsste ich das Netz nicht anbringen.“
Ach, Scheiße!
Fraukes fühlte, wie ihre Laune in den Keller rutschte.
„Sie haben mich vierzig Minuten warten lassen!“ sagte sie vorwurfsvoll und fühlte sich machtlos.
Der Fahrer sah sie abschätzig an. „Sie müssen bei uns immer plus/minus eine Stunde einrechnen“ sagte er gleichgültig.
Frauke hatte einmal in der Hauptpost erlebt, wie ein Mann angesichts der Warteschlange - es war kurz vor Weihnachten gewesen - mit seinem Handy mitten in der Schalterhalle den Kundenservice der Postbank angerufen hatte und mit lauter, zorniger Stimme den Angestellten am anderen Ende der Leitung heruntergeputzt hatte. Der Ausdruck ‚zur Sau gemacht’ würde es auch treffen.
Frauke hatte ungläubig und gleichzeitig fasziniert zugehört und war sich darüber im Klaren gewesen, dass sie so etwas nie machen würde. Sie war eine, die herunterschluckte. Laut zu werden lag nicht in ihrer Natur.
Also doch genau wie Mama.
Endlich war der Mann fertig und verschwand wortlos im Führerhaus. Er startete den Motor und fuhr ohne zu blinken zurück auf die Straße, wo er sich forsch in den Verkehr einfädelte.
Frauke sah ihm mit düsterem Gesichtsausdruck nach.
Warum, zum Teufel, hatte sie auf ihn warten müssen? Sie hatte noch nicht einmal etwas unterschreiben sollen.
Bei der Adresse, die Maren ihr gegeben hatte, gab es zwei Klingeln mit dem Namen Pröll. Frauke wählte ‚E. Pröll’ und hörte zwei Sekunden später das Summen des Türöffners. Sie drückte gegen das Holz und fand sich in einem dunklen, kühlen Hausflur wieder. Die beige Farbe blätterte an manchen Stellen ab und der Steinboden hatte auch schon bessere Tage gesehen.
Die Wohnungstüren jedoch sahen frisch gestrichen aus. Bevor Frauke auf die Namensschilder sehen konnte, öffnete sich die Tür links im Erdgeschoss und eine kleine, grauhaarige Frau trat auf die Schwelle und streckte ihr die Hand entgegen. Sie hatte ungewöhnlich helle blaue Augen.
„Frau Benning? Herzlich willkommen!“
Edith Pröll führte Frauke durch einen engen Flur in das Wohnzimmer. Es war altmodisch eingerichtet, aber nicht überladen, und wirkte deshalb ganz anders als das Wohnzimmer ihrer Eltern, als sie noch gelebt hatten.
Mehrere Sofas luden zum Sitzen ein. Neben einem Ohrensessel stand die dazu passende Leselampe. In dieser Wohnung wurden Bücher gelesen, das sah man. Die beiden Bücherregale an der Wand sahen allerdings etwas merkwürdig aus.
Fraukes Blick blieb an den Buchrücken hängen, die im linken Regal nach Farbe zusammengestellt waren. Im rechten Regal standen nur Bücher mit hellem Einband, welche wiederum nach Größe angeordnet waren.
In einer Ecke des Zimmers stand ein runder Tisch mit drei Gedecken darauf.
„Nehmen Sie doch bitte Platz!“
Frau Pröll deutete auf einen Stuhl. Adam Pröll war nicht zu sehen.
Frauke setzte sich und hörte, wie im Flur die junge Stimme von Frau Pröll sagte: „Kommst du runter, Adam?“
Es folgte eine Pause. Und dann: „Ich weiß. Sie wusste selbst nicht, wie lange es dauern würde, sonst hätte sie es mir gesagt und du hättest dich darauf einstellen können. Ich weiß, dass Warten für dich anstrengend ist.“
Wieder eine Pause.
„Ich verstehe. Also, bis gleich.“
Super. Adam Pröll ist bestimmt sauer mit mir. Das ist kein besonders guter Start für uns.
Frauke hörte, dass in der Küche hantiert wurde. Frau Pröll kam mit einer Kuchenplatte ins Wohnzimmer zurück, auf der ein Marmorkuchen lag. Sie schnitt ihn an und legte, nachdem Frauke genickt hatte, auf ihren Teller das erste Stück, bevor sie sich selbst und Adam auch ein Stück auflegte.
Adam Pröll kam ins Wohnzimmer herein; er war noch größer, als sie ihn in Erinnerung hatte und sie hätte ihn als sehr gutaussehend bezeichnet, wenn er nicht einen so angespannten Gesichtsausdruck gehabt hätte. Er setzte sich auf seinen Platz, sah auf seinen Teller und sagte nichts.
Frauke holte Luft und sagte schnell: „Es tut mir sehr leid. Normalerweise bin ich wirklich pünktlich. Heute ist … etwas schiefgelaufen.“
Adam sagte: „Jetzt sind Sie da. Jetzt ist es gut. Nur das Warten … damit komme ich nicht gut klar.“
Er warf Frauke einen kurzen Blick zu. Sie konnte unmöglich sagen, ob er sie wiedererkannt hatte oder nicht.
„Es ist meine Schuld“ sagte Frauke mit einem schlechten Gewissen. „Ich musste auf jemanden warten. Ich hatte einen Container auf der Straße, der wurde zu spät abgeholt. Es wäre besser gewesen, das an einem anderen Tag zu machen.“
Adam sah Frauke kurz an und richtete seinen Blick wieder auf den Marmorkuchen. „Unpünktlichkeit ist ärgerlich.“
Meinte er damit sie - oder meinte er den Containerservice? Egal - er hatte auf jeden Fall Recht. Sie mochte es ja auch nicht, wenn sie sich auf andere nicht verlassen konnte.
Sie hatte das Gefühl, dass es nichts werden würde mit diesem Job. Wenigstens hatte sie es versucht, mehr konnte Maren nicht von ihr erwarten.
Sie entspannte sich. Der Druck, der die ganze Zeit auf ihr gelastet hatte, war plötzlich verflogen.
„Sie haben Recht“ stellte sie fest.
„Das war kein guter Start. Meine beste Freundin hat mich gebeten, Sie zu besuchen, und ich kenne Sie ja auch vom Sehen, aber … wahrscheinlich hätte ich nicht kommen sollen. Ich muss so viel regeln … ich bin im Moment etwas neben der Spur. Es hat nichts mit Ihnen zu tun.“
„Sie kennen Adam?“ fragte Edith Pröll erstaunt. „Davon hat er mir gar nichts erzählt.“
„Ich kenne Adam wirklich nur vom Sehen. Wir haben neulich gleichzeitig im Supermarkt eingekauft. Und uns über die Veränderung der Regalordnung geärgert.“
Sie verschwieg, dass sie Adam aus der Patsche geholfen hatte.
„Ach so.“
Über Frau Prölls Gesicht zog ein Ausdruck von Unmut. Es hatte lange gedauert, bis Adam bereit war, alleine in den Supermarkt zu gehen. Jetzt musste er wieder von vorne anfangen.
„Dieses blöde Management! Die verändern absichtlich alles, damit man ewig suchen muss und dabei mehr einkauft, als man vorhatte.“
Sie atmete tief durch und sagte dann lächelnd: „Entschuldigen Sie bitte.
Möchten Sie Kaffee, Frau Benning?“
„Sehr gerne.“
Ihre Gastgeberin ging in die Küche.
Adam sah Frauke kurz an und sagte: „Sie waren nicht ehrlich. “
Was meinte er damit? Glaubte er, sie habe gelogen, um ihre Unpünktlichkeit zu entschuldigen? Oder meinte er etwa das Treffen im Supermarkt? Meine Güte, was hatte sie da eigentlich gesagt? Das war schon etliche Tage her. Hatte er verstanden, dass sie ihm in seiner Panik hatte helfen wollen?
„Was meinen Sie?“ fragte sie schließlich. „Wann war ich nicht ehrlich?“
„Sie haben gesagt: ‚Ich nehme ihn vorne und Sie schieben von hinten, dann geht es besser, in Ordnung? Es wäre mir eine Hilfe.’“
„Äh …“
Jetzt erinnerte sie sich. Sie hatte ihn dazu gebracht, durch das Berühren des Einkaufswagens seine Losgeh-Hemmung zu überwinden. Oder hieß das Antritts-Hemmung? Egal, jedenfalls hatte es funktioniert.
„Was war daran nicht ehrlich?“ beharrte sie.
„ ‚Es wäre mir eine Hilfe.’ In Ihrem Einkaufswagen lagen elf Artikel. Sie brauchten keine Hilfe, um ihn zu schieben“ sagte Adam schnell. „Wenn ein Einkaufswagen bis oben voll ist, dann hilft es, wenn man zu zweit schiebt. Sonst nicht.“
Tja, was sollte sie jetzt sagen? Ehrlichkeit war die beste Strategie, fand sie.
„Ich habe den Satz nicht ausformuliert. Das hätte ich tun sollen. Ich habe damit gemeint: ‚Es wäre mir eine Hilfe, damit ich Ihnen helfen kann, schnell nach draußen zu kommen, bevor Sie in Ihrer Panik die Sperre umbiegen.’ Das hätte ich sagen müssen.“
Adam nickte. „Das hätten Sie sagen müssen“ wiederholte er. „Dann hätte ich Sie gleich verstanden.“
Frauke sagte zerknirscht: „Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich mir in Zukunft Mühe geben werde, zu Ihnen ehrlich zu sein.“
Was sage ich da? Als ob es eine Zukunft in unserer Zusammenarbeit gäbe.
Zukunft. Keine Ahnung, wie ihre Zukunft aussah.
Sie spürte, wie jegliche Energie sie verließ. Früher waren ihr Gespräche mit beeinträchtigten Menschen nicht schwergefallen. Jetzt fühlte sie sich, als ob sie mit klobigen Stiefeln einen tiefen Morast durchqueren wollte. Sie hatte kaum die Kraft für den nächsten Schritt.
„In Ordnung“ sagte Adam. „Ich bin immer ehrlich.“
Es klang wie die Proklamation von etwas sehr Wichtigem.
„Und ich finde es gut, dass Sie jetzt da sind“ fügte er hinzu.
Frauke sah ihn erstaunt an.
Edith Pröll kam mit einer Thermoskanne zurück. Sie war auffällig lange in der Küche geblieben. Vielleicht hatte Sie Adam Zeit geben wollen, sie - Frauke - einer Prüfung zu unterziehen.
‚Gewogen und für zu schwer befunden’ dachte sie traurig, in Abwandlung des Spruches, den ihre Mutter manchmal geäußert hatte.
Die Schwere, die war neu für sie. Sie war früher lockerer gewesen, unbeschwerter. Dass alles grau war und auf ihr Gemüt drückte, das kannte sie nicht. Sie fühlte sich müde.
Plötzlich dachte sie: ‚Vor fünf Wochen sind Mama und Papa gestorben. Und du wunderst dich, dass du keine Energie hast?’
Es war doch völlig logisch! Es konnte gar nicht anders sein. Der Gedanke half ihr etwas.
„Möchten Sie noch eine Tasse?“ wiederholte Frau Pröll. Frauke hatte sich in ihren Gedanken verloren. Offensichtlich hatte sie die Frage beim ersten Mal überhört.
„Entschuldigung! Ja, gerne.“
Adam schwieg. Es war, als hätte er sein Sprachkontingent für heute ausgeschöpft.