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Kapitel 4

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»Was sind das für … Dinger?«, rief er, während er rannte, als würde sich die Erde unter ihm auftun.

Was gar nicht so absurd war, denn tatsächlich bebte der Boden, auf dass sich Risse im Wald bildeten und links und rechts von ihm Bäume und Felsen verschluckt wurden, als hauste unter der Erde ein Ungeheuer, das einen unstillbaren Hunger hatte. Es dröhnte, donnerte und krachte im Wald, als stampfte ein Riese umher.

Die Erschütterungen im Boden erschwerten das Davonkommen zunehmend. Und ihre Verfolger eilten ihnen ungehindert nach, denn weder das Beben noch die Risse konnten sie aufhalten, sie schwebten einfach darüber hinweg.

»Bellzazar!« Sein lautes Brüllen klang fordernder als beabsichtigt. »Was, bei den Göttern, sind die

»Erscheinungen. Schemen«, rief Bellzazar rechts von ihm. Er hatte sein Schwert in der Hand, einen Zweihänder mit dünner, gewellter Klinge aus schwarzem Stahl. Runen waren in die Klinge hineingeritzt und leuchteten feuerrot auf, wenn sie durch die Erscheinungen glitten.

Das Unterweltschwert namens Flammberge.

»Verirrte Geister. Sie haben keine Erinnerungen mehr, sie sind schon zu lange tot und im Schleier verdorben. Sie kommen aus dem Portal, diese Welt macht sie verrückt!«

Cohen hechtete hinter einen Baum und drückte den Rücken dagegen. Drei dieser Schemen zogen an ihm vorüber, tiefer in den dichten Wald, unter dessen dichten Blätterdächern kaum die Sonne durchdrang und Zwielicht herrschte. Er kam sich wie in einem natürlichen Dom unter einem grünen Kuppeldach vor. Es war halbdunkel und roch nach feuchter Erde, während das Beben im Boden die Blätter wie im Sturm rascheln ließ.

Die Erscheinungen waren nicht mehr als Schatten. Sie besaßen keine Gesichter, nicht einmal Konturen, ihre Linien verwischten wie Farbe auf einer wässrigen Leinwand. Sie hatten keine Tiefe, sie waren wie schwarze Wolken, die ansatzweise die Form eines Mannes angenommen hatten. Arme, Schultern und Köpfe waren lediglich angedeutet, ihre Form schien zu rauchen. Sie gaben keine Geräusche von sich, sie hatten keine Beschaffenheit, glitten einfach durch alles hindurch. Nur das Schwert, Flammberge, konnte sie bremsen.

Cohen sah zu Bellzazar hinüber, der die verirrten Erscheinungen, ohne zu zögern, ohne Gnade mit der Klinge streifte, als würde er sie vom Bauchnabel bis zum Hals aufschlitzen, woraufhin sie sich auflösten. Sie verpufften einfach und verflüchtigten sich wie kühler Nebel im Wind.

»Willst du ihnen nicht helfen, zurückzufinden?«

»Sie sind doch schon verloren«, rief Bellzazar zurück, die Zähne zusammengebissen und gebleckt, wie er es stets im Kampf getan hatte. Das kurze, schwarze Haar, das dem seines Bruders zum Verwechseln ähnlichsah, kitzelte ihn keck in der Stirn. »Fallobst kann man nicht mehr retten.«

Fallobst? Für den Gott der Toten war er ja schon immer recht herzlos gewesen. Aber vielleicht musste er das auch sein. Cohen wusste es nicht, er verbot es sich, in diesem Moment zu denken. Vor allem würde er sich über nichts in Bezug auf Bellzazar Gedanken machen, sonst würde er ihn vermutlich von hinten anspringen und solange auf ihn einprügeln, bis zwei oder drei neue Zeitalter angebrochen waren.

Doch irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, dass sie dazu keine Zeit hatten. Das ungute Gefühl in seinem Magen rührte nicht zuletzt von dem stetigen Erdbeben und den herumstreifenden Erscheinungen her.

»Es wäre dir zu danken«, meinte Bellzazar ironisch wie eh und je, »würdest du deinen knochigen Arsch bewegen und mir helfen.«

Cohen überlegte, ob es nicht klug wäre, ihn sterben zu lassen. Aber wer sollte ihn dann zurückbringen? Nur der Gott der Toten vermochte die Portale in die Nachwelt zu öffnen und zu schließen. Und er hatte eine leise Ahnung, dass es auch nur Bellzazar gelingen würde, diesen silbernen Riss zu schließen, der sich wie ein eingefrorener Blitz direkt unter den Baumkronen befand und sich bis unter den Erdboden zog. Wie ein blattloser silberner Baum. Aber am wichtigsten war: er konnte Bellzazar nicht töten, denn dieser war mit Desiderius verbunden. Wenn Bellzazar etwas zustieß, würde auch der König von Nohva, Cohens einstiger Geliebter, sterben.

Ihm waren die Hände durch die dicksten und stärksten Ketten gebunden. Durch die Liebe, die er einst für dessen Bruder empfunden hatte, immer noch empfand und immer empfinden würde.

Es gab für Cohen viele Gründe, Bellzazar zu verabscheuen, aber er würde ihm dennoch nie ein Haar krümmen.

Was für ein Dilemma.

Nun, vielleicht würde ihm eine Tracht Prügel trotzdem guttun. Vorausgesetzt, sie schafften es, diese dutzenden von Schemen davon abzuhalten, sie mit ihren schattenhaften Klingen zu durchbohren.

Was ihn zu einem weiteren Gedanken führte…

»Ich habe keine Waffen!«, rief Cohen zurück. Er hob ratlos die Schultern und schüttelte den Kopf, als Bellzazar zu ihm blickte.

Bellzazar legte den Kopf schief und sah ihn an, als hielte er ihn für bescheuert. »Du bist ein Geist!«, meinte er abfällig dazu, als würde diese Tatsache alle weiteren Erklärungen erübrigen.

Cohen zog sich bei der Bezeichnung der Magen zusammen, doch er konnte sich selbst nicht erklären, was ihm daran Übelkeit bereitete.

Ein Geist. Er war ein Geist und irgendwie kurzzeitig zurück in der Welt der Sterblichen.

Er wollte gar nicht hier sein.

Während er zusah, wie Bellzazar fluchend die Schattierungen der anderen Verirrten durchstach und sie sich dadurch auflösten, wuchs sein Unbehagen. Wie weit war er davon entfernt, auch als Schatten zu enden? Nicht mehr als eine Erscheinung zu sein? Er wusste es nicht, doch er spürte beinahe, wie die Zeit an ihm zerrte. Er musste zurück, das konnte er spüren. Bedrohlich hing diese Gewissheit über seinem Kopf, wie ein Richtbeil, das bald fallen würde.

»Verfluchte, verflixte Götter, verdammte Scheißkerle«, murrte Bellzazar und drehte Pirouetten, um die Erscheinungen zu vernichten, die einen engen Kreis um ihn zogen. »Verzieht euch endlich. Ich habe nichts für euch!«

Der Unterweltfürst zog die Schemen geradezu an, während sie an Cohen lediglich vorbeizogen. Vielleicht bemerkten sie Cohen nicht.

Aber Bellzazar war für sie wie die Sonne in der Dunkelheit. Mit dem Unterschied, dass sie ihn zu töten versuchten, als verabscheuten sie das Licht und wollten es erlöschen lassen.

Es war, als hätten sie nur einen Gedanken: Bellzazar zu vernichten. Als ob sie nur von diesem Drang geleitet wurden, wie Sklaven, denen ein Auftrag erteilt wurde. Cohen runzelte nachdenklich seine Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Schnaubend drehte Bellzazar sich einmal um sich selbst, nachdem er seine hartnäckigen Angreifer allesamt in Nichts aufgelöst hatte. Er hatte sich kaum verändert, war noch immer groß und trug dasselbe schwarze Hemd samt schwarzer Lederhose unter einem schwarzen, dicken Wollumhang, wie damals, als Cohen ihn zuletzt gesehen hatte.

Na ja, zuletzt in dieser Gestalt gesehen hatte, dachte er grimmig. Aber er verscheuchte die Erinnerungen an die Nacht, als Bellzazar ein anderes Gesicht getragen hatte, um ihn hereinzulegen. Denn wenn er daran zurückdächte, wäre er auf jeden Fall auf ihn losgegangen.

Es schien, als müsste Bellzazar sich zuerst wieder orientieren. Als müsste er Cohen im Wald erneut suchen. Seine Augenbrauen zuckten unter seinen dunklen Strähnen nach oben, als er ihn wiederfand. Er schien überrascht, dass Cohen noch immer untätig war, seine Augen wurden dunkel und blitzten ärgerlich auf.

»Noch mal: du bist ein Geist«, rief er genervt durch den Wald, »du brauchst dich nur an das Gefühl deiner Waffen in deiner Hand zu erinnern. Du bestehst nur aus Erinnerungen, verstehst du?«

»Natürlich!«, keifte Cohen zurück. Aber eigentlich verstand er überhaupt nichts.

Bellzazar schien ihn zu durchschauen, er verdrehte ungeduldig die schwarzen Augen. »Du bist in diesem Moment nichts als eine Erinnerung. Du hängst so sehr an deinem alten Leben, dass du diese Form angenommen hast. Ebenso verhält es sich mit allem anderen. Dein Auge ist weg, weil du dich daran erinnerst, wie es sich anfühlt, nur auf einem Auge zu sehen. Deine Lederweste sitzt eng, weil du dich daran erinnerst. Dein Haar hat die gleiche Länge wie bei deinem Tod, weil du dich daran erinnerst. Und so weiter. Nichts von dem ist wirklich … manifest. Es ist nicht echt, nicht wirklich. Du bist nicht … fest, alles an dir passt sich deiner Erinnerung an. Genauso ist es mit Waffen. Erinnere dich einfach an das Gefühl, sie zu führen, und sie werden da sein. Nenn es Magie, wenn du so willst. Denk einfach daran, wie du zu Lebzeiten in den Kampf gestürmt bist. Erinnere dich an die Schwere deines Bogens. Glaub daran, dass er da ist.«

Cohen blinzelte, ihm rauchte der Kopf. Vorsichtig spähte er um den Baum herum und sah ein weiteres Dutzend Schemen auf sie zu schweben.

Er schüttelte den Kopf: »Ich glaube nicht, dass ich mich jetzt genug konzentrieren kann, um mir Waffen vorzustellen.«

Bellzazar stieß ein Stöhnen aus, als wollte er Cohen am liebsten eine Ohrfeige verpassen. Genau das hätte er vermutlich auch getan, wäre Cohen in seiner Reichweite gewesen. »Das ist dein Problem! Hör auf, dich auf diese Sache zu konzentrieren. Du sollst es nicht zerdenken, du musst es fühlen. Hör auf zu denken, Mann. Hör auf zu denken.«

Leichter gesagt als getan. Cohen konnte doch nicht einfach waffenlos in den Kampf rennen und darauf hoffen, dass auf magische Weise ein Bogen in seiner Hand erschien. Das war absurd, das war …

»Die Tatsache, dass du dich nicht bewegst und deine Miene zuckt, als würdest du auf einem Stück alter Schuhsohle kauen, lässt mich vermuten, dass du gerade genau das Gegenteil von dem tust, was ich dir gesagt habe!«, murrte Bellzazar. Er seufzte und setzte hinterher: »Wenn du nicht daran glaubst und nur daran denkst, dass du keine Waffen hast, dir aber verzweifelst welche wünschst, dann wird sich daran auch nichts ändern. Du stehst dir nur selbst im Weg, wie immer.«

Cohen fuhr wütend zu ihm herum. Die Schemen hatten sie bereits erreicht, glitten, ohne zu zögern, an Cohen vorbei und strömten in Bellzazars Richtung, als könnten sie ihn wittern. Der Gott der Toten und Fürst der Unterwelt kämpfte bereits wieder.

»Wie wäre es, wenn du mir einfach eine deiner Waffen gibst!«, herrschte Cohen ihn wütend an.

Warum musste er es immer so kompliziert machen, warum konnte er Cohen nicht einfach einen Dolch zuwerfen? Hinterher wäre immer noch Zeit, alles andere auszudiskutieren.

Aber nein, er musste ja stets einen Irrweg nehmen, statt einfach die offensichtlichste und einfachste Lösung anzugehen…

Bellzazar starrte ihn einen Moment lang an, nachdem er den ersten Ansturm abgewehrt hatte und kurz verschnaufen konnte. Er schien sprachlos gegenüber Cohens … Dummheit, wie es schien.

Kopfschüttelnd stieß er einen humorlosen Laut aus, der beinahe wie ein Lachen klang. Dann zuckte er mit den Schultern. »Wie du willst.« Und zog einen Dolch aus seinem schwarzen Stiefelschaft, den er sogleich in Cohens Richtung schleuderte.

Geht doch, dachte Cohen und wollte den Dolch auffangen, als er einfach durch seine Hände glitt und zwischen seinen Füßen aufkam. Cohen hatte nicht einmal gespürt, dass die Waffe ihn berührt hatte. Verwirrt starrte er auf den Dolch, der nun vor ihm im leuchtend grünen Moos lag.

»Wo kämen wir denn da hin«, höhnte Bellzazar eine Spur zu triumphierend, »wenn es Geistern erlaubt wäre, echte Waffen zu bewegen.«

Cohen schielte ärgerlich zu ihm hinüber und wünschte, er besäße die Gabe, Blitze aus seinen Augen zucken zu lassen, um diesem arroganten Arsch das fiese Grinsen aus dem Gesicht zu wischen.

»Narr! Du bist ein Geist, du brauchst Geisterwaffen, deine eigenen Waffen, bestehend aus dem Gefühl deiner Erinnerungen«, tadelte Bellzazar ihn, während er zwischenzeitlich seine Angreifer abwehrte und dabei allmählich tatsächlich ins Schwitzen kam. Seine Stimme stockte, er keuchte zwischendurch schwer. »Nichts in dieser Welt ist für dich noch greifbar oder fühlbar. Oder spürst du den Wind um uns herum, die Wärme der Sonne, den Boden unter dir…?«

Cohen blinzelte hinab auf seine Stiefel und trat verwundert einen Schritt zurück. Er konnte nicht begreifen, wie das möglich war, aber seine Stiefel machten auf dem Waldboden keinerlei Abdrücke. Das Moos, auf dem er stand, war unberührt wie die junge Knospe einer frisch erblühten Rose. Wie die frühmorgendliche Schneedecke nach dem ersten Schneefall in der Nacht, wenn noch niemand darüber gelaufen ist. Seine Füße hinterließen keine Spuren mehr, er besaß kein Gewicht in dieser Welt. Und da spürte er es auch: Nichts. Er spürte nichts. Weder Kälte noch Wärme, weder den Wind auf seinen Wangen, noch die Feuchtigkeit aus den Blättern. Er konnte Gerüche wahrnehmen, er konnte sehen und hören, aber nichts fühlen. Rein gar nichts. Als würde er in einem Traum feststecken, den er ganz bewusst wahrnahm, in dem er handeln und frei denken konnte, aber eben nichts fühlte, wie es für das Schlafbewusstsein üblich war.

Doch er träumte nicht, er spürte schlicht nichts mehr. Ein seltsames Gefühl, irgendwie war es ihm, als sei er selbst unwirklich.

Er verstand mehr denn je, was diese Schemen verrückt gemacht hatte. Wenn er zu sehr darüber nachdächte, was er nun war, würde er regelrecht hysterisch werden, weshalb er in seinem Kopf das Tor zu diesen Gedanken zuschlug und fest verriegelte.

Es beruhigte ihn jedoch, eine gänzlich menschliche Hand zu sehen, als er sie hob und darauf starrte. Für sich selbst sah er ganz … fest aus. Existierend. Kein bisschen durchsichtig. Normal eben, menschlich, wie er einst war.

Ob andere ihn so sahen, wie er sich selbst sah, wusste er nicht und er verbot es sich, darüber nachzudenken, da er sich selbst kannte und sich wohlmöglich in dieses Dilemma zu sehr hineingesteigert hätte.

Er musste nur zurück in die Welt, die Bellzazar für ihn und die anderen gefallenen Gefährten des Blutdrachen erschaffen hatte, um die Ewigkeit sorglos zu genießen. Dann würde dieser Schrecken vom heutigen Tage in Vergessenheit geraten, nicht mehr als eine vage Erinnerung sein. Genau wie all die anderen Schrecken vergangener Gezeiten.

Genau, er musste sich nur darauf konzentrieren, wieder zurückzukehren in die friedliche Ewigkeit nach dem Leben, wo er sich ganz und gar auf seine innere Ruhe konzentrieren konnte und seine ganze Existenz auf eine Art Traumbewusstsein schrumpfte. Frieden, Geborgenheit, Liebe und das Warten auf den Tag, wenn auch Desiderius zu ihm stieß. Nicht, dass er den Tod seines Geliebten herbeisehnte, aber das Warten darauf schenkte ihm die Sorglosigkeit, die ihm im Leben gefehlt hatte.

Sorglosigkeit. Ein Gefühl, von dem er sich gerade wahrlich verabschieden konnte. Er war kaum einen Atemzug lang zurück in der Welt der Sterblichen und hatte bereits tausend Ängste und kummervolle Gedanken, die unaufhaltsam auf ihn einströmten und ihn plagten. Zum ersten Mal wurde ihm so richtig bewusst, wie sehr er das Leben verabscheut hatte. Es hatte für ihn selten etwas Gutes bereitgehalten. Geboren als Sohn eines Verräters, immer im Zwiespalt mit sich selbst. Cohen war nie ein Mann gewesen, der auffiel, wenn er den Raum betrat, ihn hatte immer eine gewisse Melancholie umgeben, die andere abgeschreckt hatte. Bellzazar würde ihn wohl schlicht weinerlich nennen. Vielleicht stimmte das, Cohen wusste es nicht, er war froh darum gewesen, dass die Menschen ihm nicht nacheiferten, er fürchtete sich vor zu viel Aufmerksamkeit, seit … seit dieser Sache in seiner Jugend, als sich ein vermeintlicher Freund als Feind herausgestellt hatte. Cohen war in Verrat, Niedertracht und Bosheit großgeworden. In einer finsteren Welt voller Tyrannei, auf der Seite der Schlächter, während er selbst nicht dazu gemacht war, berechnend zu sein. Er war im Krieg aufgewachsen, hatte Mutter und alle Brüder dadurch verloren. Erst als er entschlossen hatte, sich gegen seinen Vater zu stellen und an Desiderius` Seite mit dem Widerstand zu kämpfen, hatte er ein wenig Glück im Leben erfahren. Mehr sogar, er hatte die Dämonen aus seiner Vergangenheit besiegt. Die eingebildeten und die echten. Er hatte Liebe empfangen, er hatte das Band der Brüderlichkeit gespürt, die Geburt seines Erstgeborenen miterlebt und – dann erfahren, dass er unheilbar krank war. Er hatte zugesehen, wie der totgeglaubte Prinz Nohvas zurückkehrte – und Desiderius ihn für diesen wieder verließ.

Wenn er sein ganzes Leben so nüchtern betrachtete, war es lediglich eine Aneinanderreihung von harten Schicksalsschlägen gewesen. Und der Tod war eine Gnade für ihn, die ihm gerade wieder entzogen worden ist.

Und er fragte sich, was er falsch gemacht hatte, dass er so hart bestraft wurde. Denn alles was er wollte, war … Ruhe. Nach allem, was er durchgemacht hatte, wollte er schlicht die Ewigkeit in Ruhe genießen. Alle Sorgen aus dem Leben vertreiben, alle schlechten Erinnerungen vergessen.

Doch er erlebte gerade alle Ereignisse aus seinem Leben noch einmal. Sie prasselten wie Platzregen auf ihn ein, eine Erinnerung nach der anderen, innerhalb eines einzigen Augenblicks, sodass ihm der Kopf schwirrte und sich sein Herz schmerzhaft zusammenzog, als könnte es all das Leid und den Kummer wirklich nicht noch einmal ertragen.

»Cohen!«

Bellzazars wütender Aufschrei ließ ihn den Kopf hochreißen. Doch noch immer kam ihm alles unwirklich vor. Er blinzelte langsam, betrachtete seine Umgebung wie ein Schlaftrunkener, der sich nicht erinnern konnte, wo er war.

Ausgerechnet jetzt stürzte die Gegenwart auf ihn ein, er wurde sich bewusst, dass er wieder zurück war – und sich alles verändert hatte. Vor allem er selbst. Er spürte instinktiv, dass er nicht mehr hierhergehörte. Hier war kein Platz für ihn, war es nie gewesen. Er hatte noch nie in diese Welt gehört, hatte einfach nicht dorthin gepasst.

Diese Erkenntnis traf ihn hart, er glaubte, daran zu ersticken.

Wie unbedeutend konnte man sich fühlen? Cohen konnte sich diese Frage selbst beantworten. Ihm war es, als wäre er so wertlos, dass er sich gerade tatsächlich in Luft auflöste…

»Verdammt und zugenäht! Cohen!«

Cohen schüttelte den Kopf, um sich zu besinnen. Bellzazar befreite sich aus einem weiteren engen Kreis wütender Schemen und stampfte durch den Wald auf Cohen zu.

Unwillkürlich stolperte Cohen einen Schritt zurück, wobei er weniger über etwas am Boden stolperte, als viel mehr über das Chaos in seinem Kopf.

»Hör auf damit!«, herrschte Bellzazar ihn an. »Was auch immer durch deinen weinerlichen Verstand geht, hör auf, dich da hineinzusteigern, sonst wirst du zu einem von denen!«

Cohen bekam zu allem Überfluss auch noch Panik. Denn er wollte sich nicht auflösen, er wollte nicht nur ein Schemen sein. Doch die Furcht davor half ihm überhaupt nicht, sie verschlimmerte sein Gefühl, bedeutungslos zu sein.

Er erwartete eine Ohrfeige, als Bellzazar vor ihm zum Stehen kam, oder zumindest eine herablassende Schimpftriade, weil Cohen untätig wie ein eingeschüchtertes Kleinkind mitten im Wald stand und seine Gedanken nicht sammeln konnte.

Doch als Bellzazar eine Hand ausstreckte, landete sie nicht in Cohens Gesicht, sondern auf seiner Schulter. Er zuckte zusammen, doch Bellzazar ignorierte es.

Cohen konnte die Hand fühlen. Auf seiner Schulter. Es war das einzige Gefühl, das ihn äußerlich erreichen konnte. Sein Unterbewusstsein klammerte sich umgehend daran, konzentrierte sich nur auf die zarte, feingliedrige Hand, als ob sie ihn, solange sie ihn nur festhielt, davon abhalten konnte, verrückt zu werden und sich aufzulösen. Bellzazars Griff war wie ein Anker, da es das erste und einzige Gefühl war, das sich noch genauso anfühlte wie im Leben. Einfach wahrhaftig. Bellzazar hielt mit seiner Hand vielmehr Cohens Gedanken fest, und weniger seine Schulter.

Mit geweiteten und ruhelosen Augen, die von seiner Verwirrung zeugten, starrte Cohen den Fürsten der Unterwelt an. Doch statt Cohen einen metaphorischen Arschtritt zu verpassen, atmete Bellzazar tief durch, beugte sich ein Stück hinab, damit sie auf Augenhöhe waren, und betrachtete Cohen doch tatsächlich mit einer Spur Mitgefühl. Ein azurblaues Schimmern trat in seine schwarzen Augen, als er tröstend Cohens Schulter drückte.

»Wir bekommen das wieder hin, hm?« Er schenkte Cohen so etwas wie ein aufmunterndes Lächeln, wobei es bei ihm mehr nach einem fiesen Grinsen aussah, hätten seine Augen nicht warm gefunkelt.

Diese Wankelmütigkeit zwischen arrogantem Arschloch und mitfühlendem Wesen hatte Cohen schon immer gegruselt, weil er Bellzazar dadurch nie richtig einschätzen konnte. War er gut? War er böse? War er nur ein Idiot? Cohen wusste es nicht. Manchmal könnte er ihn erwürgen – und es gab viele gute Gründe, ihn zu hassen – aber manchmal brachte Bellzazar ihn auch dazu, dass er ihn … irgendwie … verstand. So absurd es auch klang.

»Kein Grund zur Sorge«, beruhigte Bellzazar ihn, »ich glaube, ich weiß, was ich tun muss. Vertraust du mir?«

Cohen verzog dennoch das Gesicht und wandte sich zweifelnd in Bellzazars Griff. »Willst du darauf eine ehrliche Antwort?«

Bellzazar ließ die Schultern hängen. »Seit wann bist du so witzig?«, konterte er sarkastisch.

Verärgert presste Cohen die Lippen zusammen, aber immerhin lenkte ihn sein Missfallen von seinem Gedankenstrudel ab. Und von der Tatsache, dass er ein verdammter Geist war.

»Und nur zu deiner Information, ich habe unsere Welt gerettet!«

Cohen sah ihn entgeistert an. »Du hättest sie beinahe in Schutt und Asche gelegt!«

»Aber nicht zerstört!«, hielt Bellzazar dagegen. »Sie wäre erneuert worden. Aber auch das habe ich abwenden können. Also schluck deine Moralpredigt einfach runter, ja? Du bist auch kein unschuldiges, reines Wesen.«

Ja, dachte Cohen ernüchtert, da war er wieder. Der Moment, der den vorherigen zerstörte. Nur Bellzazar vermochte es, sich innerhalb eines Wimpernschlags wieder unbeliebt zu machen.

Cohen konnte seine berechnende Logik noch nie leiden.

»Pass auf, hör zu!«, Bellzazar packte ihn am Arm und zog ihn wieder hinter den Baum, dicht an den Stamm, dann spähte er um ihr Versteck herum und beobachtete den silbernen Riss. »Die Erscheinungen haben es ohnehin nur auf mich abgesehen. Ich werde gleich darüber rennen« - er zeigte auf einen anderen Baum, schräg hinter ihnen in Richtung Süden, etwa vierzig Schritte entfernt - »und sie auf mich ziehen. Dann rennst du los und springst in den Riss.«

Cohen spähte um den Baum herum, es kam eine neue Scharr Schemen heraus. »Bin ich dann am richtigen Ort?«

»Ja, keine Sorge«, versicherte Bellzazar. »Diese Schemen kommen aus dem Schleier, aus der Zwischenwelt. Du wirst sie nicht durchschreiten, sondern wie beim ersten Mal überspringen, dein Geist – du – bist an die Welt gebunden, die ich für euch erschaffen habe. Sorge dich nicht, du wirst dahin zurückkehren, wenn du durch diesen Riss gehst.«

Cohen betrachtete ihn überlegend. »Und was ist mit dir?«

Grinsend hielt Bellzazar den Kopf schief. »Sag nicht, du sorgst dich!«

»Um dich?« Cohen schnaubte. »Nein. Aber wenn dir etwas zustößt…«

Er musste es nicht aussprechen, Bellzazar verstand sehr gut. Seine Miene wurde hart. »Ja«, brummte er, »ist mir bewusst, und mir steht nicht der Sinn danach, mich vernichten zu lassen.« Er seufzte und zuckte mit den Achseln. »Irgendetwas hat dieses Portal – diesen Riss verursacht. Ich kann es spüren, die Magie in der Außenschicht unserer Welt ist rissig, sie wird von etwas gestört. Deshalb auch das Beben. Wir haben es mit unkontrollierter Macht zu tun. Und es ist nicht meine Magie, sei versichert, ich bin zu schwach.« Als er das sagte, musterte Cohen ihn unwillkürlich erneut, deutlicher dieses Mal, und nahm nun auch wahr, dass Bellzazar um einiges dünner geworden war, beinahe hager. »Ich muss das Ding schließen, um die Umgebung wieder zu stabilisieren, aber es ist … stark.«

Cohen schüttelte ratlos den Kopf. »Was heißt das?«

»Na ja«, Bellzazar sah ihm in die Augen, »dass ich hier besser alles säubere, bevor ich das Ding schließe, denn danach werde ich wieder eine Weile meiner Macht beraubt sein.«

»Was?« Cohen spürte ein unbehagliches Ziehen im Magen, und sein Bauchgefühl hatte ihn noch nie getäuscht. »Dann bist du schwach und deiner Umwelt wehrlos ausgeliefert. Allein. Ohne Hilfe.«

Und jeder, der ihn dann fand, ob Tier oder Zweibeiner, konnte ihn und damit auch den König von Nohva vernichten.

»Sie sind gleich hier«, stellte Bellzazar mit einem Blick um den dicken, efeubehangenen Baum fest und hob das gewellte Schwert. »Bereit?«

»Warte!« Cohen packte Bellzazars Arm, dabei zuckte er erschrocken zurück. Unter dem Hemd waren nichts als Knochen zu fühlen gewesen.

Verwundert blickte Bellzazar ihn an. »Was ist? Die Zeit drängt. Ich glaube nicht, dass diese Schemen auf uns zu halten, um mit uns zu plaudern.«

Cohen hätte ihm für diesen unnötigen Kommentar gern etwas Bissiges geantwortet, aber er verkniff es sich. »Du brauchst Hilfe. Das hast du selbst gesagt!«

»Ja. Aber wie wir bereits feststellen durften, bist du das nicht.«

Das versetzte Cohens Stolz eine tiefe Delle, er biss die Zähne zusammen, um nichts Unbedachtes zu kontern.

Nicht jetzt, sagte er sich. Er konnte ihm hinterher immer noch ins Gesicht boxen.

»Geh, Cohen«, drängte Bellzazar wieder unerwartet sanft, »ich komme zurecht. Ich kam die letzten Jahre ohne meine frühere Macht zurecht. Ich schwöre dir, unser König ist sicher. Und du musst zurück, das hier ist kein Ort für dich. Je eher du wieder da bist, wo du jetzt hingehörst, je schneller verblasst die Erinnerung.«

Seltsam, als hätte er Cohen in den Kopf geblickt und wüsste ganz genau, was in ihm vorging. Das behagte Cohen überhaupt nicht. Niemand ließ sich gern tief in die Abgründe seiner Seele blicken.

»Die Zeit wird knapp«, beschloss Bellzazar, »los jetzt!«

Er rannte los, an Cohen vorbei zu dem Baum, auf den er Momente zuvor gedeutet hatte, und rief über die Schulter lauthals: »Hier her! Hier bin ich! Holt mich doch, ihr Mistkerle!«

Cohen wollte widersprechen, aber eine andere Sehnsucht übermannte ihn. Die Sehnsucht, wieder zurück an diesen friedlichen Ort zu kehren, der ihm alles Schlechte genommen hatte. Er beruhigte sich damit, dass Bellzazar recht hatte, er war die ganze Zeit ohne seine Macht zurechtgekommen. Vielleicht war er gar nicht so hilflos, wie Cohen befürchtete. Auch ohne seine Macht war er doch recht gerissen. Ihm würde schon nichts geschehen.

Ein schlechtes Gewissen hatte er dennoch, als die Schemen an ihm vorbeizogen und sich um Bellzazar tummelten und dieser schrie: »Jetzt! Cohen! Lauf!«. Er wehrte die Schattenklingen der Schemen ab, kämpfte mit gebleckten Zähnen, als würde jedes Heben seines Schwertes in seinen Armen schmerzen.

Cohen zögerte noch, doch dann riss er sich von dem Anblick los und rannte. Je schneller er im Riss war, je schneller würden sich alle Sorgen legen.

Willst du wirklich feige vor dir selbst davonlaufen? Fragte ihn eine innere Stimme. Er schüttelte sie ab und rannte weiter, bemerkte nebenbei, dass sich das Beben in der Erde längst gelegt hatte.

Der Riss schimmerte genauso wie auf der anderen Seite, kräftig und beinahe blendend, je näher er ihm kam. Doch eines fehlte. Die Anziehung, die er auf der anderen Seite gespürt hatte, war erloschen. Nichts zog ihn zu dem Riss hin, außer seiner inneren Sehnsucht nach Frieden.

Als er schließlich im vollen Lauf absprang und mit Schwung durch den Riss hindurchstoßen wollte, prallte er gegen eine unsichtbare Mauer.

Für einen Moment lag er benommen auf dem Boden, ohne zu wissen, wie ihm geschehen war. Sein Kopf schwirrte. Schmerzen konnte er also noch hervorragend empfinden.

Aber was war geschehen?

Sich den Kopf reibend richtete er sich auf. Anders als erwartet, hatte sich keine plötzliche Wand vor dem Riss aufgetan, er musste an dem Riss selbst abgeprallt sein.

»Verdammt!« Hände packten seine Arme und zogen ihn wieder auf die Beine. »Das ist jetzt…äußerst ungünstig.«

Cohen drehte sich verwirrt zu Bellzazar um. »Was ist passiert?«

Als Bellzazar sichtlich in Erklärungsnot geriet und geflissentlich seinem Blick auswich, konnte Cohen nicht mehr an sich halten.

»Du weißt es nicht?«, rief er fassungslos. »Du? Der Fürst der Unterwelt? Der feine Herr Halbgott weiß nicht, warum das Portal zur Nachwelt nicht passiert werden kann?«

Bellzazar sah ihn an, keinerlei Regung im Gesicht. Cohen schnaufte wütend, ihm lagen so einige wüste Beschimpfungen auf der Zunge. Doch Bellzazar ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. Während der nächste Ansturm Erscheinungen aus dem Portal auf sich warten ließ, ging er an Cohen vorbei, direkt auf den Riss zu, runzelte die Stirn und streckte eine Hand danach aus.

Als sein Arm in das silbrige Licht eintauchte, als würde er in weiches Wasser greifen, verstand Cohen gar nichts mehr.

»Hm.« Bellzazar drehte sich die Lippen leckend um. »Es liegt wohl nicht am Riss«, überlegte er murmelnd und musterte Cohen von oben bis unten mit kritischem Blick.

Cohen zuckte unsicher zurück. »Was ist?«

Doch Bellzazar schüttelte nur den Kopf. »Ach nichts. Schätze, du bist hier gefangen.«

Gefangen? Cohen wollte fragen, was das bedeutete, wie das sein konnte, und was bei den Göttern sie tun sollten, um ihn zurückzubringen. Aber alles, was aus seiner Kehle kam, war sein ausgehauchter Atem. Fassungslosigkeit machte ihn sprachlos. Er kam sich mehr denn je wie in einem Alptraum vor.

Bellzazar trat einige Schritte von dem Riss zurück, dann ließ er sich zwischen einer Baumgruppe im weichen Moos auf die Knie nieder, ein Lichtstrahl verfing sich in seinem schwarzen Haar und ließ es fettig glänzen. »Ich muss das Portal jetzt schließen. Bevor noch mehr Erscheinungen auftauchen. Ich bin noch zu schwach, um lange zu kämpfen.«

Cohen wollte protestieren, er wollte noch einmal versuchen, hindurchzugehen. Panik erfasste ihn, Furcht davor, für immer in der Welt der Sterblichen als Geist gefangen zu sein.

»Wenn ich wieder bei Kräften bin«, sagte Bellzazar da jedoch zu ihm und schielte eindringlich zu ihm auf, »dann bringe ich dich zurück. In Ordnung? Es ist alles gut, Cohen. Beruhige dich. Wein nicht immer gleich rum.«

Zuerst hatte Cohen tatsächlich das Aufkommen von Wärme in der Brust gespürt, den Hauch von Vertrauen und einen Funken Hoffnung, doch beim letzten Satz fiel ihm der Kiefer runter. »Du …«

»Stör mich nicht«, unterbrach Bellzazar ihn ruhig und schloss bereits die Augen, um seine Macht zu sammeln. »Das wird auch ohne deine Tiraden schmerzhaft genug für mich.«

Geliebter Wächter

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