Читать книгу Geliebter Wächter - Billy Remie - Страница 11
Kapitel 5
ОглавлениеEine freudige Aufregung lag in der Luft, als sie am königlichen Reitplatz eintrafen. Heiterkeit schwängerte die Luft, Gelächter und Geplänkel schwoll an, je näher sie den Zäunen kamen.
Die Festung verfügte über eigene Koppeln innerhalb der Mauern. Sie war groß genug, um Weideplatz für etwa sechzig Pferde zu bieten. Natürlich umfasste die königliche Zucht über mehrere Hundert Pferde, darunter zwei Rassen, die einst ausgestorben und nun nachgezüchtet wurden, mehrere Generationen Mischlinge wurden verpaart, bis die Rassestandards wieder erfüllt waren. Darunter die einst kräftigen und stolzen Kaltblüter aus dem südlichen Gebirge Nohvas und die Edelrasse vergangener Könige aus einem längst vergessenen Zeitalter – große, schnelle und ausdauernde Schlachtrösser, allesamt Nachkommen von Wanderer, dem magischen, unsterblichen Rappen des Königs.
Die meisten Pferde lebten jedoch draußen in den Bergen auf großen Weideflächen auf Berghängen, dem Wetter und der Wildnis ausgeliefert wie Wildpferde, was sie wild und scheu gemacht hatte. Die Jungpferde wurden jedes Jahr im Frühling in die Festung getrieben und zugeritten.
Dies war vor einigen Wochen geschehen, Vaaks war jedes Jahr Zuschauer, wenn die Herde aus Jungpferden über die Brücke über der nebligen Schlucht durch das Festungstor und die gepflasterten Straßen der Stadt getrieben wurden. Alle Bewohner bewunderten an diesem Tag die majestätischen Tiere, Freude lag in der Luft, denn damit wurde der Frühling eingeleitet. Am gleichen Tag öffnete der königliche Sonnenwenden Markt, ein Fest wurde gefeiert. Jedes Jahr.
Vaaks liebte diese Zeit, er und Fenjin hatten immer viel Freude während der Festlichkeiten. Es gab Wein und süßes Gebäck, Aquila, das bescheidene Oberhaupt der Kirche, las jüngeren Generationen Geschichten vor, Barden spielten – die gefeierten, ebenso wie alle unbekannten Barden, jedem war es erlaubt, Laute zu spielen und zu singen – und es wurde getanzt, sobald das große Feuer auf dem großen Platz der Kaserne entzündet wurde. Überall hingen Girlanden aus Frühlingsblumen, zum ersten Mal ließ der Sonnenuntergang auf sich warten und es blieb bis in die Abendstunden hell.
In diesem Jahr hatte Vaaks zum ersten Mal Wein gekostet, Fenjin hatte eine Flasche von dem Stand seines Vaters gestohlen und sie hatten sie heimlich zu zweit im Gebüsch getrunken. Danach waren sie noch fröhlicher gewesen und hatten auf dem Marktplatz getanzt. Zusammen, mit Mädchen, aber meistens nur zusammen. Kinder und junge Mägde kamen, um sie mit Blumen zu behängen, dann waren sie weiter um das Feuer herum gehüpft.
Es war jedes Jahr wie im Märchen, und Vaaks konnte es kaum erwarten, dass der nächste Winter wieder vorbei war. Er wollte wieder tanzen, trunken vor Glück – und Wein. Ganz gleich wie sehr ihn Xaith deshalb aufzog.
Und ja, die Festung war offensichtlich größer, als es die Bezeichnung vermuten ließ. Denn die eigentliche Festung war nur das erhöhte Herzstück der Anlage. Aus einem mächtigen Berg gehauen erhob sich ein ganzes Lehn mitten im Luzianischen Gebirge, umringt von weißen Nebelschwaden, als würde die graue Steinstadt wie ein Himmelsschloss aus der Landschaft emporragen. Viele Türme und ein majestätischer Burgfried schienen bis in das Reich der Götter zu ragen. Die gut gesicherte Anlage beherbergte eigene Händler, eigene Stadtviertel, eigene Märkte, einen eigenen Stall und auch Bauern innerhalb der Mauern, ebenso Ackerland. Nicht groß, aber genug, um die königliche Familie und ihre Untertanen zu versorgen. Es fehlte ihnen hier oben an nichts.
Nun ja, außer an Fisch und Reis und einige seltene Früchte, aber dafür gab es Händler wie Fenjins Vater, die die Festung täglich mit allem Nötigen und auch mit allerlei Luxusgütern belieferten.
»Ich glaube, heute ist es soweit!« Fenjins Worte holten Vaaks aus seiner Träumerei. Sein Freund sah ihn an und umschlang lächelnd seinen Arm, seine zimtbraunen Augen funkelten warm. »Du bekommst wohl heute dein Pferd.«
Vaaks spürte ein freudiges Kribbeln im Bauch und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er und seine Geschwister hatten schon vor Jahren das Reiten gelernt, sie waren quasi im Sattel geboren, doch der König hatte sie immer wieder vertröstet. Die richtigen Pferde wären noch nicht geboren, hatte er gesagt. Wie es aussah, waren unter den Jungpferden nun endlich ihre tierischen Gefährten.
»Das wird auch Zeit«, sagte Riath euphorisch und drückte flüchtig Vaaks´ Schulter, als er mit stolz erhobenem Kinn und selbstischerem Gang – eines Königs würdig – an ihnen vorüber ging und den Reitplatz ansteuerte, als gehörte alles ihm. Erhaben bauschte sich sein Umhang auf.
Es waren acht Jungpferde, die sich auf dem sandigen Boden tummelten. Drei Kaltblüter, groß und stämmig, ruhige, besonnene Tiere, und vier fuchsteufelswilde Vollblüter, die sich störrisch gegen ihre Stricke auflehnten und den ausgewählten, jungen Stallburschen den Schweiß auf die Stirn trieben. Und eine kleinere, ruhige Stute, bei jener das Mischlingsblut deutlich vererbt worden war, weil ihr die Größe der Kaltblüter fehlte und sie mehr wie ein Pony aussah.
Es waren so viele Farbschläge vertreten, kein Pferd glich dem anderen, sodass Vaaks sich unmöglich entscheiden konnte, welches er am schönsten fand. Sie waren allesamt majestätisch.
Fenjin drückte seinen Arm. »Welches willst du?« Seine zimtbraunen Augen leuchteten, seine Stimme klang aufgeregter als Vaaks sich fühlte, als ob auch er heute ein Pferd bekäme. Was wohl daran lag, dass Fenjins Vater von seinem Sohn erwartete, dass er für solch eine Anschaffung selbst aufkam. Nicht, dass Fenjins Vater ein Tyrann gewesen wäre, er setzte lediglich viel daran, seinem Sohn zu vermitteln, dass er für seine Wünsche und Träume hart arbeiten musste.
»Ich weiß nicht.« Vaaks zuckte mit den Schultern und betrachtete die Herde noch einmal. »Mal sehen, welches mich mag.«
Ein leises Lachen ließ sie über die Schulter blicken. Ganz gemächlich kam Xaith auf sie zu, die beiden Raben noch auf Arm und Schulter. Er schüttelte bedauernd den Kopf und blieb kurz hinter ihnen stehen, als wollte er sich zwischen sie drängen.
»Du glaubst doch nicht, dass wir darüber eine eigene Entscheidung fällen dürfen, Jin«, sagte er, und Fenjin senkte unbeholfen den Blick, denn nur Xaith gab ihm diesen Spitznamen, wobei nie herauszuhören war ob er ihn wohlwollend oder herablassend meinte.
Xaith blickte Riath hinterher und fuhr fort: »Wir werden nehmen müssen, was noch übrig ist, wenn mein ach so geschätzter Bruder und meine verwöhnte Schwester ihre Entscheidung getroffen haben.«
Vaaks wusste, was er meinte. Riath und May vollzogen stets eine Art Wettbewerb, wobei jeder von ihnen glaubte, der Bessere zu sein, der geeignetere Thronerbe – wobei die Thronfolge noch nicht feststand, immerhin waren alle vier leiblichen Kinder des Königs am selben Tag geboren worden, weshalb es wohl auch diesen Wettstreit unter ihnen gab. Ob beim Kampftraining oder Reiten. Und sie würden sich wieder bekriegen, um das edelste Pferd abzubekommen. Wie zankende, verwöhnte Gören warben sie um die Anerkennung des Königs.
Aber Vaaks lächelte nachsichtig und schüttelte den Kopf. »Unsere Väter sind da«, warf er ein, »sie werden sich benehmen müssen.« Er schmunzelte belustigt. So sehr ihn seine Geschwister auch manchmal nerven konnten, er liebte sie allesamt. Jeden auf seine besondere, verschrobene Art, weil sie alle einzigartig und seine Familie waren.
Xaith wirkte wenig überzeugt. Seine eindringlichen Augen brannten sich noch einmal kurz auf die Stelle, wo Fenjin und Vaaks scheinbar verschmolzen waren – auf die Arme des Kaufmannssohnes, die Vaaks` muskulösen Arm vertraut umschlangen – dann wandte er sich ab und ging an ihnen vorbei.
Vaaks wollte seinem Bruder – oder Nicht-Bruder, wie Xaith es bezeichnete – folgen, doch Fenjin hielt ihn am Arm zurück.
»Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich mitkomme?«, fragte sein Freund zögerlich und blickte dabei hinüber zu dem Gatter auf der anderen Seite des Reitplatzes, wo der König mit dem Prinz Nohvas stand und die Köpfe zusammengesteckt hatten, als würden sie sich sehr ausgiebig über die Qualität der Pferde unterhalten. Das leichte Lächeln auf den schmalen Lippen des Königs verriet seine gute Laune. Er war eine beeindruckende Erscheinung. Groß, muskulös, aber nicht hünenhaft, breite Schultern, malerisch definierte Muskeln, keine Überproportionen. Stark und schwarzhaarig, kürzeres Haar, ein dunkler, gepflegter Bartschatten auf dem scharfkantigen Gesicht, aus dem stechend grüne, eindringliche und überaus kluge Augen herausstarrten. Er war nicht auf die klassische, adelige Art schön, sondern auf eine wilde und rein männliche Art imposant. Sein einfacher schwarzer Wollumhang, unter dem er stets seinen Harnisch aus schwarzem Drachenleder trug, unterstrich seine Natürlichkeit. Er brauchte keine Krone, damit man ihn erkannte, noch einen Samtumhang oder Seide am Leib. Desiderius war sich stets seiner Einfachheit treu geblieben.
Was ihm an Sanftheit und klassischer Schönheit fehlte, besaß der Prinz Nohvas umso mehr. Wexmell fiel nehmen Desiderius besonders auf, da sie das genaue Gegenteil des jeweils anderen waren. Der Prinz war klein und schlank, seine Schultern schmal und sein Gesicht so sanft, dass es beinahe knabenhaft wirkte. Aber man sollte ihn nicht unterschätzen, Vaaks hatte ihn kämpfen gesehen, zumindest in Schauduellen, und er war unglaublich geschickt mit seinem Katana, außerdem besaß er sehr wohl auch Muskeln, sie waren einfach unaufdringlicher, aber ebenso hart. Sein goldenes Haar kringelte sich lockig auf seinem zierlichen Kopf, sein Hals war sehr schlank und lang, sodass er sofort ins Auge stach. Aber vor allem fielen seine großen, mit langen Wimpern umrundete frostblaue Augen auf, in denen stets so viel Güte stand, dass es dem Betrachter sofort warm ums Herz wurde. Volle Lippen und eine freche, leicht nach oben gewachsene Stupsnase vervollkommneten seine durch und durch adelige Erscheinung. Er hätte ebenso gut ein Gott sein können, seine Makellosigkeit machte jedem erhabenen Wesen große Konkurrenz. Er trug gern beigefarbene Seidenhemden mit unaufdringlichen goldenen Applikationen und Stehkragen, unter dem gelegentlich, wenn er den Kopf hin und her drehte, auf beiden Seiten schwarze Male sichtbar wurden. Bisse des Königs, die durch Tinte unter seiner Haut verewigt waren. Gleiche Male trug er an beiden Handgelenken. Und er trug sie mit Stolz. Der König besaß die gleiche Kennzeichnung. Es bedeutete nichts Geringeres, als dass sie beide zusammengehörten, und vor allem, dass ihre Venen nur dem jeweils anderem gehörten.
Und das war auch gut so, Menschen übersahen gerne einfache Ringe an Fingern, wollten sie übersehen, aber diese Male sprachen eine direktere, eine aggressivere Sprache. Da Wexmell eine große Anzahl Verehrer hatte – weibliche wie männliche – war es dem König gut geraten, ihn deutlich zu kennzeichnen. Erst einige Tage zuvor hatte eine Magd durch ihre heimliche Besessenheit von Prinz Wexmell den Verstand verloren.
Es kam gänzlich unvermittelt, in dem einen Moment hatte sie noch mit den anderen Bediensteten das Essen aufgetragen, im nächsten fegte sie des Königs Gedeck von der Tafel und rief aufgebracht, er habe den Prinzen Nohvas gar nicht verdient, er würde ihn nicht wertschätzen, und das wegen ihm Wexmell nicht der Ruhm zuteilwurde, der ihm zustünde – und noch ein paar andere seltsame Dinge, zum Beispiel, dass sie gar nicht zusammenpassten und ein merkwürdiges Verhältnis teilten. Sie war vollkommen hysterisch.
Zum ersten Mal hatte Vaaks den König für einen Moment sprachlos erlebt, er hatte die aufgebrachte Magd lediglich irritiert angeblinzelt, als hätte sie eine fremde Sprache gesprochen. Wexmell war es gewesen, der die Magd von den Wachen abführen ließ. Sie verbrachte einen Tag im Kerker und wurde dann fortgeschickt, ins Inland Nohvas, wo sie wieder bei ihrer Familie lebte. Aber am Tisch hatte daraufhin betretenes Schweigen eingesetzt. Der König hatte auf den Teller gestarrt, dem eine andere Magd ihm stillschweigend und verlegen wieder vor die Nase gestellt hatte, aber nichts gegessen.
Wexmell hatte vorsichtig nachgefragt: »Derius …?«
Doch der König war aufgestanden, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Entschuldigt mich.« Und hatte sich für drei Tage für das gemeinschaftliche Abendessen entschuldigen lassen.
Seit dem hatte Vaaks den Eindruck, der Haussegen hinge schief, der König war in sich gekehrt und sah seltener auf, als wäre er mit den Gedanken ganz wo anders und sehr betroffen. Wexmell gab sich betont fröhlich, aber man spürte, dass etwas nicht stimmte.
Umso erleichterter war Vaaks, als er die beiden nun zusammen sah und der König über eine von Wexmells Bemerkungen lächelte. Sie blickten sich sogar wieder in die Augen. Wexmell legte eine Hand auf des Königs Arm, ein Funkeln trat in die grünen Augen des Königs. Alles war wie es sein mein musste, wie Vaaks es kannte und liebte.
»Vaaks?«
Er wandte Fenjin das Gesicht zu.
Sein Freund lächelte nachsichtig. »Du bist so ein Träumer, Vaaks!« Neckisch knuffte er ihm in die Seite.
Vaaks lachte leise und hielt Fenjins Hand fest, um ihn an einem weiteren Knuff zu hindern. »Hör auf! Und natürlich ist es in Ordnung. Außerdem hält dich doch ohnehin nichts davon ab.«
Fenjin grinste breit, beinahe stolz. »Da hast du recht, ich lass mir das nicht entgehen. Wenn ich schon kein eigenes Pferd geschenkt bekomme, will ich wenigstens zusehen, wie du deines bekommst.«
Er war eben ein wahrer Freund.
Lächelnd stieß Vaaks ihm den Ellenbogen in die Seite. »Na komm, sehen wir sie uns näher an.« Er löste seinen Arm aus Fenjins Griff und sie näherten sich gemeinsam dem Zaun.
May war bereits freudestrahlend auf den Zaun geklettert und begrüßte sie mit einem Grinsen, das ihr über das ganze Gesicht reichte. Sie war eine ganz besondere junge Dame, wie das Volk sie immer nannte. Ein echter Wildfang, sagten die Bauern. Das lange maisblonde Haar zu einem praktischen, strengen Zopf geflochten, das Gesicht stets frei von Pudern. Sie war groß und muskulös, genau wie ihr Vater, und statt Kleider trug sie einen eisengeschmiedeten Brustpanzer, dazu Lederkampfhosen und Reitstiefel. Sie war eine echte Kriegerin, mit geschlitzten Pupillen, genau wie Xaith – die Gene des Blutdrachen stachen bei ihnen beiden deutlich durch - und der gleichen Augenfarbe wie der König, ein schönes Jadegrün, mit dem sie viele Herzen verzauberte und wieder brach. Ganz wie der Vater in seiner Jungend, wie Wexmell zu sagen pflegte.
Riath stand neben ihr und betrachtete eingehend jedes einzelne Pferd. »Der große Braune ist der Wildeste. Der gehört mir!«
May schnaubte. »Von wegen, das ist mein Schätzchen!«
»Reiten ist nichts für junge Prinzessinnen, Schwesterherz. Zieh dir lieber ein Kleid an und such dir schon mal einen Damensattel. Die da gehört dir.« Er deutete mit einem Kopfnicken zu der weißen, ruhigen Stute. »Du kannst ihr Blumen ins Haar flechten und mit ihr zum Altar reiten.«
May presste ärgerlich die schönen, vollen Lippen aufeinander. »Leck mich.«
Riath lachte arrogant. Das war typisch für ihn. Wenn es nach ihm ginge, würde May nur in Seidenkleidern herumlaufen, Blumen auf dem Markt kaufen und einfach hübsch anzusehen sein, ohne Stimme, ohne Meinung, und vor allem ohne Schwert. Für ihn waren kriegerische Frauen ein Verstoß gegen alle gesellschaftlichen Regeln. Und überhaupt hatte eine Prinzessin nur den Sinn, nach einem geeigneten Gatten zu suchen, der für die Krone ein lohnendes Bündnis bedeutete.
Unterdessen gesellte sich Xaith in die Nähe ihrer Väter, schickte seine Raben fort, und setzte sich zu dem abseits wartenden, allseits schweigsamen Sarsar, dessen kurzes, schneeweißes Haar in der Sonne matt schimmerte. Vaaks` dritter Bruder war von allen Kindern des Königs der … Interessanteste. Oder besser gesagt, der Seltsamste. Er war recht klein, hatte die knabenhafte Statur seiner Hexenmutter geerbt, war hager und haarlos, mehr Kind als heranwachsender Mann. Sein zartes Gesicht glich mehr den Zügen eines Mädchens, und seine großen Augen besaßen etwas äußerst Gruseliges, denn sie waren weiß wie Milch. Die einzige Farbe in seinen Augen war ein rauchgrauer Ring um die Iriden herum. Er trug stets ein blassblaues Gewand, beinahe wie ein langärmliges Kleid, und tat den ganzen Tag nichts anderes als in der Bibliothek im Festungskeller zu lesen. Er redete nicht viel, hatte aber stets einen sehr wachsamen Blick. Beinahe wie ein Adler, der nach Beute ausschauhielt. Aber seine schweigsame Art hatte Vaaks als Kind oftmals viel Trost gespendet, indem er sich einfach zu ihm setzte und sich an ihn lehnte und bei ihm blieb. Sei es nach einem Tadel ihrer Väter oder nach einem Streit mit Xaith. Sarsar war einfach … er war einfach Sarsar. Man musste ihn wegen seiner verschrobenen Art einfach lieben. Auch jetzt sprach er kein Wort, als Xaith sich zu ihm auf den Zaun setzte und er die Arme um dessen Mitte schlang und den Kopf auf dessen Schulter legte. Nur Sarsar durfte Xaith so nahekommen, was viel über die Beziehung der beiden Brüder aussagte.
Vaaks und Fenjin nahmen etwas Abstand von May und Riath, die weiterhin um das wildeste Pferd zankten, und lehnte die Arme über den Zaun.
»Hübsche Tiere«, meinte Fenjin beeindruckt. »Mir gefallen die Stämmigen.«
»Kaltblüter«, erklärte Vaaks.
Fenjin sah ihn interessiert von der Seite an. »Sind sie das? Oh, das wusste ich nicht.« Wieder sah er zu den großen, kraftvollen Tieren mit den breiten Rücken, kurzen aber muskulösen Hälsen, den gewaltigen Köpfen und Hufen. »Pferde wie aus der Heimat deines Vaters…«
Vaaks schluckte angestrengt. »Ja.« Er sprach nicht gern über seinen leiblichen Vater. Und sein Freund wusste das.
Entschuldigend stieß Fenjin ihn mit der Schulter an. »So ein Pferd würde zu dir passen.«
Vaaks erwiderte missbilligend: »Nur weil ich ursprünglich von einem Südländer aus den Bergen abstamme, muss ich ihm noch lange nicht nacheifern …«
Fenjins Gesicht flog überrascht zu ihm herum und für einen Moment öffnete und schloss sich in schneller Abfolge dessen Mund, wie bei einem stummen Fisch.
Schließlich fand Fenjin seine Sprache wieder, genau in dem Moment als Vaaks ein schlechtes Gewissen bekam, weil er ihn so vor den Kopf gestoßen hatte.
»Das meinte ich doch gar nicht«, warf Fenjin entschuldigend ein, »aber … du bist so groß geworden und wächst immer weiter. Welcher Pferderücken soll dich sonst tragen, du Kaltblüter!«
Vaaks musste über die Neckerei lachen. »Du übertreibst«, murmelte er verlegen und wich geflissentlich Fenjins Blick aus, weil er nicht wollte, dass sein Freund seine glühenden Wangen bemerkte.
Man stelle sich die fatalen Folgen vor, sollte Fenjin bemerken, dass Vaaks vor Verlegenheit rot wurde. Er würde nicht mehr aufhören, ihn zu necken. Und Vaaks` Wangen wären nie mehr blass.
Ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als Stallmeister Ahgi sich zum König wandte und ihm das Tor aufhielt. Gemeinsam mit Prinz Wexmell sahen sie sich die Jungpferde an.
»Es sind sehr gute Rösser«, bestätigte Ahgi, was alle sehen konnten, während er den König und dessen Prinzen vor der Reihe der Pferde entlangführte. »Sie sind allesamt an Sattel und Reiter gewöhnt, wir haben sie angeritten, aber sie sind natürlich noch recht wild. Die zwei besonders, ich würde von den beiden Burschen abraten, Eure Majestät. Sie haben eine wunderschöne Muskulatur und ein mutiges Wesen, sind aber auch sehr eigenwillig und geradezu boshaft. Selbst erfahrene Reiter halten sie für zu gefährlich.«
Er sprach von dem großen braunen Vollblüter, der sich immer wieder aufbäumte, und von dem wilden Rotfuchs, der an seinem Strick zerrte und den Stallburschen beißen wollte.
»Der Fuchs ist mehr was für den Schlachter«, erklärte Ahgi mit einem entschuldigenden Lächeln, »die Mähne ist zu kurz und dünn, er beißt und bockt, und das linke, hintere Sprunggelenk steht schief.«
Nickend gingen der König und Wexmell weiter. Sie begutachteten die Pferde genauer, legten selbst Hand an, sahen sich die Hufe an, strichen über die Flanken, der König hielt sie an ihrem Zaumzeug fest und sah ihnen prüfend in die Augen, als könnte er ihnen in die Seele blicken. Und tatsächlich waren die Tiere bei ihm ganz ruhig.
Währenddessen warteten Vaaks und seine Geschwister gespannt ab. Nun ja, alle bis auf Xaith und Sarsar, der eine wirkte gelangweilt, dem anderen schien es gleich ob er hier war oder in der Bibliothek.
»Sag mal …«, flüsterte Fenjin plötzlich und fummelte nervös an seinen Fingern herum. Er nagte an seiner Lippe und schielte unbehaglich in Xaiths Richtung, als fürchtete er, dieser könnte sie hören.
»Hm?«, hakte Vaaks nach, nachdem sein Freund verstummt war.
Fenjin wagte nicht, ihn anzusehen, er senkte den Blick und nuschelte, als hoffte er, Vaaks würde ihn nicht verstehen. Oder als erhoffte er, sollte seine Frage auf Missgunst stoßen, er könne so tun, als hätte Vaaks ihn nur falsch verstanden.
»Wegen deinem Bruder«, murmelte er unverständlich zu Boden, »steckt Wahrheit in dem Gerücht, das in der Stadt umgeht? Dass er …« Er brach ab, räusperte sich und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Das mit seiner Mutter, meine ich. Es ist eine Tragödie, gewiss, aber hat er wirklich …?«
Vaaks` Miene verdüsterte sich bei jedem Wort mehr. Er hatte die muskulösen Unterarme vor der Brust verschränkt, sein Lederhemd knirschte, während er tief einatmete und mit den markanten Kiefern mahlte. Stur starrte er geradeaus auf den Reitplatz, doch er sah nichts von der in goldenes Abendlicht getauchten Umgebung.
Verlegen schwieg Fenjin. Und er biss sich auf die Lippen, als hätte sich sein Mund selbstständig gemacht und er wollte ihn am Reden hindern.
Doch Vaaks wusste, dass das nicht gerecht war. Fenjin war eben neugierig, so wie jeder andere, und wer, wenn nicht Fenjin, hatte in Vaaks` Leben ein Recht darauf, es zu erfahren?
Dennoch kam ihm nur ein knappes: »Es war ein Unfall, Fenjin«, über die Lippen. Vaaks atmete bebend ein, sodass sich seine gewaltige Brust dehnte und das Lederhemd ausfüllte, bis es über seinen Muskeln spannte. Es kostete ihn Überwindung, nicht wütend zu grollen. Ein tiefer Instinkt erwachte in ihm und wollte seinen Bruder vor den hässlichen Gerüchten schützen.
Doch Fenjin trug am allerwenigsten Schuld an dem, was der Pöbel verbreitet. Fenjin hatte das Gerücht nicht in die Welt gesetzt, er hatte nur nach der Wahrheit geforscht. Das war kein Verbrechen.
Immer noch verlegen hielt Fenjin den Kopf gesenkt. »Natürlich. Dachte ich mir. Vergebung, ich wollte nur … ich dachte einfach …«
»Er hat es nicht unter Kontrolle«, erklärte Vaaks mit leiser, versöhnlicher Stimme. Zögerlich schielte er Fenjin an, der nun den Kopf hob und ihn eingehend ansah. »Xaith ist kein Monster. Es stimmt nicht, was alle sagen, er tat es nicht mit Absicht.«
»Du weißt, dass ich der letzte Mensch wäre, der so von ihm denkt. Ich war nur neugierig. Natürlich ist er kein Monster, Vaaks. Wir beide wissen das!«
Nein, Xaith war ganz und gar kein Monster, er war einfach verletzlich. Aber es war leicht, ein Gerücht über einen seltsamen Jungen zu verbreiten und es zu glauben, weil die Menschen es über ihn glauben wollten. Aber Vaaks kannte die Wahrheit, er hörte die Schreie jede Nacht, seit diesem … diesem Vorfall.
»Vaaks?« Fenjin schürzte die Lippen und starrte zu Boden.
Was kam jetzt? Vaaks wappnete sich. »Ja?«
»Kannst du … also würdest du …«, druckste sein Freund herum. Und wenn er sich so unsicher verhielt, konnte es nur um einen gehen.
Vaaks verdrehte innerlich die Augen, wartete aber ab.
»Also kannst du ihm sagen, dass ich …«, Fenjin zuckte ratlos mit den Achseln, »ich weiß nicht … ihm sagen, dass ich nicht daran geglaubt habe? Kannst du ihm sagen, dass ich nicht so von ihm denke, wie alle…«
»Ich glaube nicht, dass das etwas bewirkt, Fenjin«, hielt Vaaks dagegen. Seine Ablehnung tat ihm sogleich leid, als er die traurige Miene seines Freundes bemerkte.
»Tut mir leid«, nuschelte Fenjin und seufzte schwer. »Ich bin ein Narr, Vergebung, Vaaks. Ich hätte nicht fragen sollen.«
Vaaks lächelte leicht und trat nervös von einem auf den anderen Fuß. »Wenn jemand danach fragen darf, dann du. Du … gehörst ja irgendwie … dazu.«
»Charmeur«, schmunzelte Fenjin spitzbübisch und lehnte sich mit einem deutlichen Augenfunkeln zu Vaaks.
Vaaks spürte seine Wangen erröten, Hitze sammelte sich in seinem Gesicht, und etwas zog seine Mundwinkel ungewollt nach oben. »Lass den Unsinn.«
Leise lachend nahm Fenjin wieder Abstand und schüttelte theaterreif gespielt voller Bedauern seinen ahornroten Schopf. »Herzensbrecher.«
Sie sahen sich an, Vaaks legte genervt den Kopf schief, und sie lachten beide vergnügt. Fenjin war vermutlich der einzige Mensch weit und breit, der Vaaks immerzu gute Laune verschaffte, bei dem er sich wohl und ungezwungen fühlte. Selbst wenn sie von den Blicken seines Bruders aus der Ferne geradezu durchbohrt wurden.
*~*~*~*
Xaith spürte die ruhigen Bahnen der kühlen Magie aus dem hageren Leib seines Bruders und hielt sich nicht zurück, immer mehr von ihm zu saugen. Es war nicht schlimm, Sarsar gab sie freiwillig. Die eiskalten Flüsse, die durch Xaiths Nervenbahnen strömten, sorgten dafür, dass das Feuer in ihm klein gehalten wurde. Doch an jenem Tag brachte die fließende Kälte kaum eine Linderung.
Seine Augen brannten sich in die beiden Freunde, die am gegenüberliegenden Zaun die Arme über das Gatter gelehnt hatten und sich anlachten, fröhlich waren und tiefe Blicke austauschten. Tiefer, als es für normale Freunde üblich war. Der milde Abendwind blies ihnen in den Rücken und wehte Xaith ins Gesicht. Er konnte in der Luft wittern, was für ein Geruch ihrer Haut anhing. Rauchig, herb, wild und lodernd. Ein Geruch, der ihm gleichermaßen ein Kribbeln im Magen verursachte und ihn rasend vor Zorn machte. Nur mit Mühe konnte er ein tiefes Knurren unterdrücken. Seine Instinkte erwachten einem Hammerschlag gleich, sein Verstand wollte sich winkend verabschieden und ihm seinem animalischen Verhalten überlassen, das danach drängte, mit bloßen Händen und gebleckten Fängen auf Vaaks und Fenjin loszustürmen.
Sarsar rieb die Wange an Xaiths Schulter und der Fluss seiner Magie wurde stärker, kälter, und Xaith konnte sich mit einem Durchatmen ein wenig beruhigen.
Atme, sagte sein Vater immer zu ihm, atme, tief Luft holen. Und genau das sagte Xaith sich auch jedes Mal vor, wenn er die beiden zusammen sah. Was ziemlich häufig geschah, immerhin waren die beiden seit ihrer Kindheit unzertrennlich. Wobei Xaith sich wirklich nicht erklären konnte, was Vaaks an diesem untalentierten, einfachen Menschlein so interessant finden konnte, um tagein und tagaus jede freie Stunde mit ihm zu verbringen. Denn wirklich interessant war Fenjin nun wirklich nicht. Er war nur der einfache, freundliche Kaufmannssohn. Der weder ein Schwertkämpfer noch magiebegabt war, sondern eben einfach nur der Sohn eines Kaufmannes, der den ganzen Tag Fässer und Kisten schleppte. Was konnte an ihm schon interessant genug sein, dass man ihn ständig um sich haben wollte?
Zwar war Vaaks auch nur ein Mensch, aber er war der Sohn einer Legende, genau wie Xaith und seine blutsverwandten Halbgeschwister. Vaaks war der einzige Nachkomme des Drachenreiters, des Flüsterers, der mit dem Blutdrachen wispern konnte.
Was wollte Vaaks nur mit diesem blassen Menschen an seiner Seite? Was verband diese Freunde nur so stark miteinander, dass sich alle anderen in ihrer Nähe von dieser Verbindung ausgeschlossen fühlten?
Xaith konnte es nicht verstehen. Aber er hatte eine Ahnung, was Vaaks an Fenjin mochte.
Er war … schön.
Auf eine unaufdringliche, natürliche Art schön. Blutjung, makellos und beschenkt mit diesem besonderen Rot, das seine seidigen Haare warm leuchten ließ, ganz zu schweigen von seinen großen, freundlichen braunen Augen, die jedem Lebewesen tiefes Vertrauen vermittelten, das auch nur von seinem Blick gestreift wurde.
Fenjin war … perfekt. Wie eine frisch erblühte Rose, geküsst vom Licht der goldenen Morgensonne. Und er besaß diese unglaublich liebliche Ausstrahlung, die ihn trotz heranwachsendem Körper noch immer wie einen unschuldigen Jungen erscheinen ließ. Zart. Das war das Wort, was auf ihn passte. Zart, lieblich, schön und durch und durch freundlich, herzlich. Ein Kerl, den man lieben musste. Der Traum aller Schwiegermütter.
Es war so ungerecht. Nicht nur, dass er einen angenehmen Charakter besaß, der jeden um den Finger zu wickeln schien, weil er dieses entwaffnende, freundliche Lächeln hatte, nein, die Natur musste ihn auch noch mit absoluter Makellosigkeit beschenken. Sein seidiges Haar, das sich nie zu kräuseln schien, nie fettete, immer richtig auf seinem Kopf lag, der durchschnittlich große, schlanke Körper, zwar ohne nennenswerten Muskelbau, aber an den richtigen Stellen flach oder leicht gewölbt, gänzlich unaufdringlich, aber schön anzusehen, wie eine Blumenwiese im Frühling. Und dazu diese perfekte Haut, leicht gebräunt, leicht rosig auf den hohen Wangenknochen, makellos glatt, ohne die geringste Kerbe. Wie eine frisch gehauene Marmorstatue.
Natürlich mochte Vaaks ihn, wie könnte es anders sein? Fenjin bestach durch Schönheit und nach außen getragener Freundlichkeit. Wie ein Welpe. Und wer verfiel beim Anblick eines Welpen nicht sofort in ein ungebildetes, verblödetes »Owwwwww«.
Und genau dieses »Owwwwww« stand jedes Mal in Vaaks rotbraunen Augen, wenn Fenjin auch nur ein Wort zu ihm sagte oder ihm auch nur einen Blick zuwarf.
Unwillkürlich senkte Xaith den Kopf und zupfte ganz unscheinbar ein paar schwarze Haarsträhnen in seine Stirn und Wangen. Er hasste sein Gesicht, vor allem im Vergleich zu anderen. Und ja, natürlich war er neidisch auf Fenjins makellose Haut, die so wunderschön weich aussah, wie die Haut eines jungen Pfirsichs. Ebenso wie er auf seine Brüder Riath und auf Sarsar neidisch war, weil zwar dasselbe Blut durch ihre Adern floss, dieselben Gene, und sie dennoch nicht mit dieser vernarbten, leuchtend roten Scheißfresse rumlaufen mussten.
»Zieh dir einen Sack über!«, haben die Kinder früher zu Xaith gesagt, wenn Riath oder der König nicht in der Nähe waren, um sie für diese Frechheit zu schelten. Wobei Riath auch nicht besser als die anderen Kinder war, doch als Bruder sah er es wohl als sein Vorrecht, Xaiths Selbstwertgefühl mit den Füßen zu treten.
Wie dem auch sei, Xaith konnte nichts dagegen unternehmen, so mächtig er auch war – und so begabt seine Mutter auch gewesen sein mochte – nichts hatte gegen die unreine Haut geholfen, es war immer schlimmer geworden. Und heute traute er sich kaum bei Tageslicht heraus. Die Nacht verbarg sein Antlitz, das war ihm lieber.
Die Kinder hatten recht, er hätte sich wirklich am Liebsten unter einem Sack versteckt. So abgebrüht er auch immer tat, damit niemand bemerkte, was wirklich in ihm vor ging, er hasste sich. Er hasste den Blick in den Spiegel, weshalb er alles Spiegelnde aus seinem Zimmer entfernt hatte, selbst die Fenster hatte er von innen angemalt oder mit Decken abgehängt, bis der König es bemerkte. Er hatte in Xaiths Zimmer geblickt, die Stirn nur flüchtig gerunzelt und Xaith angesehen, der geflissentlich seinen klugen Augen ausgewichen war. Ohne ein Wort war er wieder gegangen.
Als Xaith am nächsten Tag nach den Lehrstunden in seine Gemächer getreten war, waren alle Fenster durch Buntglasscheiben ausgetauscht und alle beschmierten Spiegel abgehangen und durch die Gemälde ersetzt worden, die Xaith selbst gemalt aber versteckt hatte. Gemälde von seinen Raben, von dem Blutmond einige Wochen zuvor, den er von seinem Balkon aus hatte sehen können, Gemälde von seiner geliebten Galia, der Stute, auf der er das Reiten gelernt hatte.
Das Zimmer wirkte dadurch dunkler, aber es war seitdem der einzige Ort, an dem Xaith sich wirklich sicher fühlte. Der einzige Ort, wo er auch mal den Stehkragen seines Mantels runterschlug, mit dem er die untere Hälfte seines Profils verdeckte.
»Jetzt fängt es an …«, sagte Sarsar leise und hob seinen schneeweißen Kopf von Xaiths Schulter. Die dürren Arme blieben jedoch um ihn geschlungen.
Xaith blickte auf und nahm den Reitplatz in Augenschein. Wie nicht anders zu erwarten, war Riath bereits über den Zaun geklettert und löste bereits seinen schweren Samtumhang. Sie alle besaßen einen, aber nur Riath trug ihn. Er stand ihm leider auch hervorragend, weil er zu seinem königlichen Gehabe passte.
Wie ein Gockel, der durch den Hühnerstall stolzierte, ging er auf die Pferde zu und drückte dem Stallburschen, der den wilden Braunen zu bändigen versuchte, den Mantel in den Arm, während er ihm den Strick abnahm.
»Ich werde diesen hier reiten«, bestimmte Riath. Vorsichtig näherte er sich dem wildgewordenen Tier, sprach beruhigend auf es ein, und konnte es ohne Mühe mit seinen muskulösen Armen halten. Tatsächlich schien seine natürliche Souveränität das Tier zu besänftigen. Noch schnaubte der Hengst, aber er senkte zögerlich nach und nach den Kopf und ließ sich an den Nüstern berühren.
»So ist es gut, mein Junge«, lobte Riath das Vollblut, »ganz ruhig. Wir werden großartige Gefährten sein.«
Der König trat einen Schritt hinter seinen Sohn, mit verschränkten Armen vor der muskulösen Brust, und sein schwerer Wollumhang wurde vom Wind aufgebauscht, was ihn noch imposanter erscheinen ließ. »Bist du dir sicher?«, fragte er mit kritischer Miene seinen Sohn.
Riath nickte und warf ihm ein breites Lächeln zu. »Ja.«
Der König hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst. Es ist allein eure Entscheidung.« Damit wandte er sich ab, nickte Wexmell zu sich, und Ahgi öffnete ihnen wieder das Tor. Alle drei traten Beiseite, während die anderen Pferde nach draußen geführt, am Reitplatz angebunden wurden und ein Stallbursche einen Sattel zu Riath trug.
Der König schloss das Gatter selbst und lehnte sich dann darauf, während er mit unergründlicher Miene zusah.
Der braune Hengst tänzelte zur Seite, als der Stalljunge ihm den Sattel auflegen wollte. Riath bedeutete dem jungen Burschen, zurückzutreten, beruhigte den Hengst, und versuchte dann selbst, ihm den Sattel aufzulegen.
Beim dritten Versuch gelang es ihm, das Tier so weit zu besänftigen, dass er es satteln konnte.
Xaith schüttelte unterdessen den Kopf, sagte aber nichts.
Riath saß auf, ganz vorsichtig zog er sich auf den Rücken des unsicheren Hengstes. Der Braune ging ein paar angespannte Schritte, bis Riath fest im Sattel saß und leicht die Zügel anzog. Beruhigend flüsterte Riath dem Tier Worte zu, hatte eine Hand ausgestreckt und bewegte sie besänftigend, als tätschelte er die Luft – oder einen unsichtbaren Hund, der neben ihm saß.
So angeberisch Riath auch sein konnte, er konnte im selben Maß auch sehr sanft und durch unbestechliche Ruhe überzeugend sein. Xaith wusste das. Vielleicht unfreiwillig sogar besser als jeder andere. Er kannte seinen Bruder, wie niemand ihn sonst kannte.
Erst als der Hengst ruhig war, ließ Riath ihn locker antraben und eine Runde auf dem Platz drehen. Doch noch immer war das Tier nicht wirklich entspannt, der Kopf zuckte unruhig umher, riss an den Zügeln. Riath konnte dagegenhalten, aber bei der zweiten Runde war es dem Hengst zu viel, er bockte.
Xaith war beeindruckt, wie lange Riath sich mit beherrschter Miene im Sattel halten konnte, er verlor einfach nicht seine innere Ruhe, versuchte, das wildgewordene Tier zwischen seinen Beinen zu beruhigen.
Nun ja, er hatte eben Erfahrung darin, nicht abgeworfen zu werden, dachte Xaith zynisch bei sich.
Die Gesichter um den Reitplatz herum waren angespannt. Wexmells goldene Augenbrauen waren furchtvoll zusammengezogen, der König mahlte neben ihm mit den markanten Kiefern, er sah nicht aus, als würde er sich um seinen Sohn sorgen. Die Stallburschen und Ahgi hielten die Luft an, Vaaks verschränkte die Arme mit unergründlichem Blick, Fenjin sah ihn an, als könnte er etwas unternehmen – und zwar nur er. Und May stand ins Gesicht geschrieben, dass sie das Pferd gedanklich anfeuerte und hoffte, Riath möge abgeworfen werden. Sarsar wirkte wie immer teilnahmslos, Xaith überlegte mit schmalen Augen, ob er Riath mit einem einfachen Zauber helfen oder schaden sollte.
Es war schwer, eine Wahl zutreffen, da er seit seiner Geburt auch noch nicht entschieden hatte, ob er seinen Bruder mochte oder hasste. Aber um Sympathie ging es hierbei ohnehin nicht. Xaith beobachtete seinen Vater. Anhand des harten Mienenspiels in seinem Gesicht konnte er dessen Gedanken lesen. Es war noch lange nicht entschieden, wen er zum Erben von Nohva und somit zu seinem Nachfolger ernennen würde, und auch wenn Riath überall beliebt war, den König hatte er noch nicht gänzlich von seinen Qualitäten überzeugen können.
Bevor Xaith eine Entscheidung treffen konnte, ob er Riath half, das Pferd zu beruhigen, oder ihn aus dem Sattel fliegen ließ, in dem er nur etwas Feuer unter den Hufen des Tieres beschwor, entschied das Schicksal. Riath konnte sich nicht mehr halten und flog im hohen Bogen von dem Rücken des Braunen, der weiter bockte. Kollektives Luftholen ging durch die Anwesenden, ein lautes Krachen ertönte, als Riath mit seinem breiten Rücken auf dem Zaunabschnitt landete, an dem die restlichen Pferde angebunden waren. Das Holz brach unter Xaiths Bruder und die Pferde gingen durch. Chaos entstand.
May brach in Gelächter aus und klopfte sich auf den Schenkel, die Stallburschen versuchten, die aufgeschreckten Pferde einzufangen, unterstützt vom König und Wexmell. Nur ein Pferd war geblieben, es stand über Riath, der in den Trümmern lag, und beugte den Kopf, um mit den Lippen an Riaths Nase zu zupfen. Benommen blies Riath sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn.
Als Sarsar den anderen zur Hilfe eilte, schlenderte Xaith gemächlich über den Reitplatz und blieb vor seinem blamierten Bruder stehen, die Abendsonne im Rücken, sodass er einen langen Schatten über Riath warf, der noch immer leicht benommen zu ihm aufblickte, aber bereits die weichen Nüstern des weißen Vollbluts streichelte, der bei ihm geblieben war.
»Das ist dann wohl deiner, Bruder«, sagte Xaith, streckte die Hand in die Manteltasche und warf sich einige Kerne in den Mund.
Riath blinzelte irritiert zu dem Hengst auf, der treuergeben die Augen schloss.
»Er ist ein Cremello«, erklärte Xaith ihm. »So bezeichnet man das cremefarbene Fell. Diese Pferde werden übrigens auch Königspferde genannt.«
Das stimmte Riath trotz aller Schmach ein wenig zufrieden.
Hufschläge auf dem Reitplatz ließen Xaith sich umdrehen. May ritt auf dem braunen Vollblüter und hatte ihn vollkommen unter ihrer Kontrolle. Auf ihrem Gesicht lag ein strahlendes Lächeln, das sogar die Sonne vor Neid erblassen ließ.
»Narr«, höhnte sie gutgelaunt über Riath, »das Pferd sucht sich seinen Gefährten aus, nicht anders herum. Was bist du doch für ein Hitzkopf. Wie wäre es, wenn du dir ein Kleid aussuchst und dich schon mal an den Damensattel gewöhnst?«
Riath verzog wutentbrannt das Gesicht, wobei er einer der wenigen Männer war, der bei diesem Ausdruck eine animalische Schönheit besaßen. Wut machte bekanntlich hässlich, doch es gab nichts, keine Emotion, kein Gefühl, das Riath in irgendeiner Form an Schönheit einbüßen ließ.
Verdammt, der Kerl sah vermutlich sogar dann anziehend aus, wenn er auf dem Abort saß.
»May!«
Der Ruf des Königs klang warnend genug, dass sich alle drei nach ihm umsahen.
Sein Gesicht war undurchdringlich, unbeweglich, als er ruhig, aber bestimmt anwies: »Es ist jetzt genug!«
Beschämt senkte May den Kopf und nickte. Sie schnalzte mit der Zunge und trieb ihren Braunen an.
»Riath, bleibst du bei dem Hellen?«, fragte der König mit leicht genervter Stimme.
Xaith sah sich nach seinem Bruder um, der noch immer in den Trümmern saß und vor lauter Scham nicht wagte, den König anzusehen. Er nickte lediglich kleinlaut.
»Xaith, was ist mit …«
Xaith hob einen Arm und schnippte mit seinen Fingern, woraufhin der König verstummte. Nicht aus Verwunderung, sondern weil er wusste, was es bedeutete. Schon riss sich der wilde Rotfuchshengst von dem Stallburschen los, der ihn gehalten hatte, und trabte treu wie ein dressierter Hund durch das Gatter an Xaiths Seite.
Xaith sah seinen Vater an, ohne dem Tier Beachtung zu schenken. »Er ist keine Galia, aber er erfüllt seinen Zweck.«
Der König sah ihm einen Moment mit einem bohrenden Blick in die Augen. Wie immer hielt Xaith stand und wartete ab. Er wich nie dem Blick seines Vaters aus. Nie.
Im Mundwinkel des Königs zuckte es leicht, dann nickte er und wandte sich ab.
Vaaks hatte sich für einen Kaltblüter entschieden, den er eingefangen hatte, als er scheute. Es war ein großer, dunkelbrauner Hengst mit kleinen, kreisrunden, weißen Punkten. Sarsar hatte sich mit der weißen, ruhigen Stute angefreundet. Das passte perfekt, musste Xaith zugeben. Beide waren stille Gewässer.
Wexmell, gutmütig wie eh und je, wollte die Situation retten, obwohl auf dem Gesicht des Königs deutlich dessen Missgunst stand.
»Und wie lauten denn nun die Namen der treuen Reittiere der Kronprinzen und Kronprinzessin Nohvas?«, wollte er feierlich wissen.
Stille entstand, die Pferde schnaubten, es wurde nachgedacht. Bis Sarsar den Kopf hob, als hätte er eine Erleuchtung. »Ich taufe sie Die Gräfin.«
Verwundert wurde er angesehen. Wexmell zuckte mit den Schultern und sagte zum König, der neben ihm stand: »Auch nicht schlechter als Wanderer.«
Der König schürzte halb verärgert, halb amüsiert die Lippen und gab Wexmell einen Tritt. Oder versuchte es zumindest, doch der elegante Prinz sprang leichtfüßig von ihm weg.
Wanderer lautete der Name des königlichen Rappen.
Xaith unterdrückte ein Schmunzeln, die beiden konnten rumalbern wie Kinder.
»Dann heißt meiner Der Baron«, verkündete er und sah zu Sarsar, dessen weiße Augen freudig funkelten.
»Lord«, rief Riath entschlossen, »meiner soll Lord heißen.«
May entschied: »Fürst.«
Erwartungsvoll blickten die Geschwister zu Vaaks, er durch die ganze Aufmerksamkeit plötzlich zu schrumpfen schien. Zumindest versuchte er es, indem er den Kopf einzog. Hilfesuchend blickte er zu Fenjin, der jedoch nur ratlos mit den Schultern zuckte.
»Wie wäre es denn mit Prinz«, schlug der König vor, »um nicht aus der Reihe zu tanzen.«
Vaaks schien erleichtert, dass der König ihm die Entscheidung leicht machte, er nickte zustimmend. »Prinz ist perfekt.«
Ja, dachte Xaith bei sich, die Hauptsache war, er nannte das Pferd nicht Fenjin oder Jin.
Alles, nur das nicht!
»Dann ist das beschlossen.« Der König nickte zufrieden und wollte sich abwenden, als er mitten in der Bewegung stockte und sich doch noch einmal zu allen umdrehte. »Ach ja, macht euch bis zum Abendessen gut mit ihnen vertraut. Wie ihr wisst, reisen Wexmell und ich morgen nach Elkanasai wegen der Erneuerung des Friedensabkommens, und wir haben entschieden, euch mitzunehmen. Diese Pferde werden in den nächsten Wochen zu unermesslichem Wert für euch werden, also gewinnt ihr Vertrauen.«
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging davon. Wexmell lächelte ihnen allen noch einmal aufmunternd zu, dann folgte er dem König. Seite an Seite verließen sie den Reitplatz durch den Stall.
May ritt hinüber zu Sarsar und freute sich über das Vertrauen des Königs. Endlich durften sie mit ihm auf Reisen gehen. Fenjin starrte Vaaks an, als hätte er ihm offenbart, nicht mehr sein Freund sein zu wollen. Vaaks schien ratlos.
Xaith wusste, dass der König keinen einzigen von ihnen unter anderen Umständen mit in das Kaiserreich der Spitzohren, nach Elkanasai, genommen hätte, wäre nicht dieser … Vorfall geschehen. Nun konnte ihr Vater sie nicht unbeaufsichtigt zurücklassen, er musste sie allesamt mitnehmen. Wegen ihm, wegen Xaith.
Stöhnend kam Riath auf die Beine und klopfte sich Staub und Holzsplitter von den Kleidern. Er trat neben Xaith, seinen Hengst am Strick führend.
»Warum ausgerechnet der Fuchs?«, wollte er wissen. »So wie Ahgi über ihn sprach, reicht er höchstens für ein üppiges Abendmahl.«
»Eben deshalb«, erklärte Xaith und ließ den Hengst den Duft seiner Finger erkunden, »weil ihn sonst niemand will.«
Das hatten sie gemeinsam.