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Kapitel 7
Оглавление»Wie geht es ihm?«
Der Druide sah auf, die schwarze Kapuze seines dünnen Umhangs war groß genug, um sein Gesicht zu verhüllen, doch die großen kreisrunden Augen schimmerten aus dem Schatten unter dem Stoff hervor.
»Hm, er ist sehr schwach«, antwortete der Druide in der Sprache ihres Stammes. Seine Stimme klang alt und schwach, aber der Eindruck täuschte. So alt der Druide auch erscheinen mochte, so gekrümmt er ging und hager er aussah, so dünn seine Stimme auch klang, er war einer der Mächtigsten seines Volkes. Wenn jemand den Jungen retten konnte, dann er. Und wenn er es nicht vermochte, war das Schicksal des Jungen bereits besiegelt.
Doragon stand hinter dem Druiden im Lazarettzelt und wartete geduldig und sorgenvoll ab, während der Druide seine Krallenhände über den Leib des Menschenmagiers bewegte, den Doragon befreit hatte. Dabei murmelte er Beschwörungsformeln.
Von Magie hatte Doragon kaum eine praktische Ahnung, er selbst konnte nicht zaubern, keine Elementare beherrschen, keine Druckwellen beschwören, noch heilende Energie durch einen kranken Leib fließen lassen. Aber er wusste, dass Druiden nicht allmächtig waren. Anders als Magier war es ihnen nur vergönnt, gewisse Dinge zu heilen und Kontakt zu dem Reich der Geister aufzunehmen, doch sie konnten keine Wunder vollbringen.
Doragon wusste um den Nutzen der Magie aus dem Westen – und wie man sie missbrauchen konnte.
Eine Schande, was man diesem Jungen angetan hatte. Nun, da er entkleidet auf einem Gestell aus Bambusrohren und eingespanntem Leder lag, wurde das ganze Ausmaß der Misshandlung ersichtlich.
Doragon wurde übel, je länger er seine Augen über den abgemagerten Sklaven gleiten ließ. Da waren keine Muskeln, kein Fett, nur dünne, beinahe durchsichtig weiße Haut über einem zerbrechlich aussehenden Knochengerüst. An den Beinen und Armen konnte er jedes Gelenk, jeden Knorpel ausmachen. Es war schrecklich. Die Rippengegend zeigte Knoten, als wären die Knochen oft gebrochen und falsch wieder zusammengewachsen. Ob der Junge überhaupt laufen konnte? Oder ohne Schmerzen atmen?
Räucherwerk machte die Luft in dem Zelt unerträglich für die Gesunden, Doragon kitzelten die brennenden Kräuter in der Nase, brannten in seinen Augen und benebelten ihn. Aber dem Sklaven könnten sie das Leben retten, weshalb er sich wohl kaum darüber beschweren würde. Er hätte das Zelt ja auch verlassen und im Lager bei Fen warten können. Aber aus irgendeinem Grund war es ihm unmöglich, den Jungen allein zu lassen.
Er wusste warum. Er wusste es ganz genau.
Es gab hier keine Menschen. Menschen lebten im Westen. In Zadest waren nur die dunkelhäutigen Zadestianer mit den leicht angespitzten Ohren, die von ihrer Verwandtschaft mit den Spitzohren aus dem Kaiserreich zeugten, und die eingewanderten Stämme der Tiermenschen zuhause. Keine Menschen.
Aber es hatte Gerüchte gegeben. Gerüchte über einen Menschenmagier in den Händen der Herrin, der ihr half, ihre Untertanen zu versklaven. Dieser Magier war nicht Herr seiner selbst, er war ein Sklave der Herrin. Ob sie ihn gezwungen hatten, seine Magie zu missbrauchen, um andere zu versklaven? Oder täuschten Doragon und seine Leute sich, und der Junge war niemand von Wert? Aber wozu hätte die Herrin ihn dann in einem gesicherten Kasten samt Eskorte transportieren sollen?
Sie, Doragon und seine Rebellen, hatten vor einigen Wochen erst ganz in der Nähe der Hauptzuchtstätte der Herrin Sklaven befreit. Vielleicht hatte sie den Magier deshalb an einen anderen Ort bringen wollen. Deshalb war er wichtig. Deshalb konnte Doragon sich nicht abwenden.
Vielleicht war es Fügung, dass Doragon ihn gefunden hatte, ausgerechnet jetzt, da die Hoffnung beinahe verloren schien.
Möglicherweise war mit der Befreiung des Sklaven alles vorbei. Der Aufstand, die Kämpfe, die Versklavung …
Doch etwas in seinem Inneren sagte ihm, während er das leichengraue Gesicht des Menschenmagiers betrachtete, dass der Konflikt gerade erst begonnen hatte.
Was ihn am meisten beunruhigte, war die seltsame Zeichnung der Haut des Jungen. Auf seinem Rücken hatten sie etwas entdeckt, das Doragon sich wahrlich unwohlfühlen ließ. Schuppen. Die Rückseite des Jungen war durch einen smaragdgrünen Schuppenpanzer geschützt.
Es gab nur einen Menschen, von dem sie in Zadest wussten, dass er Drachenschuppen besaß, und dieser regierte das Kaiserreich Elkanasai. Aber Doragon wusste, so wie jeder andere auch, dass dieser Sklave nicht der Kaiser war.
Was mehrere Fragen aufwarf, deren Antworten er sich denken konnte.
Der Druide beendete seine Heilung und zog das Laken über die Blöße des blassen Jungen.
»Er ist etwa achtzehn Sommer alt«, vermutete der Alte und ließ mit einem bedauernden Schütteln seinen Kopf hängen, »er sieht viel jünger aus.«
Doragon trat nervös von einem auf den anderen Fuß. »Wird er durchkommen?«
»Möglicherweise«, antwortete der Druide und ließ sich von Doragon auf die Beine helfen, »wenn ich die anderen Druiden bitte, mir zu helfen.«
Fragend blickten Doragons Augen in das Vogelgesicht unter der Kapuze. Wie der Rest des Stammes gehörte der Druide den Vogelmenschen an, und Federn bedeckten sein Antlitz. Die Arme unter seinem Umhang waren schwere Flügel, an deren Enden krallenbesetzte Hände saßen.
»Sie haben ihm seine Magie ausgesaugt«, erklärte der alte Kauz mit traurigen, gelben Augen, »deshalb ist er so schwach. Er ist nicht mehr als ein ausgetrocknetes Flussbett. Sie haben ihm ganz langsam seine Macht genommen. Wohl um ihre eigenen Zauber zu verstärken.«
Doragon wusste nicht genau, was dies für einen Magier bedeutete, aber er musste nur einen Blick auf das atmende Knochengerüst des Jungen werfen, um eine Ahnung zu haben. »Was können wir tun? Was kann ich tun?«
Der Druide drückte ihm die Schulter. »Du hast ein helfendes Herz, Doragon, aber das übersteigt deine Fähigkeiten. Wir werden versuchen, ihn mit unserer Magie zu stärken, indem wir unsere Macht in ihn fließen lassen. Aber …«, er wandte den Kopf und blickte sorgenvoll auf den bewusstlosen Jungen hinab, seine Stimme wurde leiser, »…unsere Magie ist längst nicht so mächtig wie die seine. Wir werden sehen, ob unsere Macht ausreicht, damit er sich noch einmal erholen kann. Sein Leben liegt nun in den Händen der Geister. Aber sein Herz ist stark.«
Doragon schüttelte den Kopf und versuchte, sich von dem drohenden Tod abzulenken, indem er sich in seinem Kopf an Fakten festklammerte. »Aber wenn … wenn er dieser Magier ist, mit dessen Magie die Herrin unser Volk versklavt, hätte sie dann nicht darauf geachtet, dass er gesund bleibt?«
»Oh sicher hat sie ihn mit irgendeinem Zauber am Leben gehalten«, stimmte der Druide zu und schüttelte abermals den Kopf, »aber für die Dauer der Reise war der Zauber wohl nicht aufzubringen. Sie haben den Fluss der Lebensenergie, die sein Herz am Schlagen hielt, wohl kurzzeitig unterbrochen, um ihn an einen anderen Ort zu bringen. Aber …«
Doragon verstand und er fühlte sich sofort schlecht. »Aber dann habe ich ihn befreit und er kommt nicht mehr rechtzeitig an dem Ort an, wo ihn Magie am Leben hält.«
Der Druide nickte mit gesenktem Kopf.
»Verflucht«, murmelte Doragon heiser, »oh Geister, warum habt ihr mich gelenkt, ich hätte nie…«
Der Druide unterbrach ihn, indem er ihm die Schulter drückte. »Du hast das Richtige getan, Doragon.«
Doch Doragon schüttelte zweifelnd den Kopf. »Da bin ich gar nicht mehr so sicher.« Sein Gesicht war tief betroffen und voller Schuld, aber das sah man ihm wegen der Maske nicht an.
Die Zeltplane wurde zurückgeschlagen und Fen streckte sein dunkles Gesicht in das stickige Innere. »Ragon!« Er nickte ihn nach draußen. »Der Häuptling will dich sprechen.«
Noch einmal warf Doragon einen Blick auf den Jungen und konnte unter dessen eingefallener Bauchdecke seinen schnellen, unregelmäßigen Herzschlag erkennen.
»Komme.« Er musste sich losreißen und seine Beine regelrecht zwingen, sich von dem Menschenmagier zu entfernen.
Ein Mensch … es schien so unwirklich, nach all der Zeit, einem anderen Menschen zu begegnen.
Er ging Seite an Seite mit Fen durch das Lager. Es war still, nur das Flackern der Zeltplanen im Wind und das leise Klappern des Holzgeschirrs auf den Sammlungsplätzen waren zu hören, ein paar Singvögel zwitscherten in den Baumkronen über ihnen. Dichter Urwald verbarg das braune Leder der Zelte, sodass ihr Lager kaum zu erkennen war. Späher saßen weit oben verborgen in den Ästen und hielten nach Eindringlingen Ausschau, aber so tief wagte sich kaum jemand in den Urwald. Bisher hatte sie noch nie jemand gefunden.
Die meisten Männer und Frauen tummelten sich vor ihren Unterkünften, weil sie wissen wollten, wie es um den befreiten Menschenmagier stand. Wer er war, warum solch ein Geheimnis aus ihm gemacht wurde und ob er durchkam.
Doragon hatte dem Häuptling geraten, es für sich zu behalten, damit im Lager keine Unruhe ausbrach. Immerhin waren sie eine Gemeinschaft aus einem friedlichen Stamm und befreiten Sklaven, die nur ihre neugewonnene Freiheit in Frieden verbringen wollten, und der Magier bedeutete unweigerlich einen Angriff der Herrin. Sofern sie sie denn finden würde.
Folglich war es vorerst klüger, niemandem Angst einzujagen, wenn es nicht sein musste. Diese armen Leute hatten ein wenig Ruhe und Sicherheit in ihrem Leben verdient.
Das Zelt des Häuptlings lag mittig im Lager, Rauch stieg aus der spitzen Öffnung des Daches, als es zwischen den anderen Unterkünften auftauchte. Fen schlug die Plane zurück und ließ Doragon eintreten. Er selbst wartete draußen. Nicht, dass er nicht hineindurfte, aber er hasste enge Räume. Selbst wenn es wie aus Eimern aus dem Himmel goss, stand er lieber im Regen, als in einem trockenen Zelt Schutz zu suchen.
Als Sklave hatte man ihn in eine Truhe gesperrt und erst herausgelassen, wenn man seine Dienste benötigte. Jeder geschlossene Raum war für ihn das pure Grauen. Niemand im Lager würde ihn je drängen, in ein Zelt zu treten. Wie ein Faultier schlief er nachts auf einem Ast in den Bäumen.
Als Doragon an Fen vorbei schlüpfte, nickten sie sich noch einmal zu. Doragon musste sich bücken, um durch den Eingang zu gelangen.
Im Zeltinneren war es dunkel und warm. Ein kleines Feuer brannte in der Mitte, niedrige Bänke waren mit Pelzen bedeckt, Teppiche lagen auf dem Boden, und an den runden Wänden standen winzige Tische mit Räucherwerk und Kräutertees.
Das Stammesoberhaupt saß hinter dem Feuer, ein großer, stolzer Vogelmann mit feingliedrigem, menschlichem Körperbau, großen, majestätischen Flügeln, wenn er die Arme ausbreitete, einem federbedeckten Körper, den er nur mit einem Lendenleibchen verhüllte, und dem Kopf eines Adlers. Er war allein, niemand bewachte ihn, und seine klugen Raubvogelaugen trafen Doragons Gesicht.
»Setz dich, mein Sohn«, sagte er in der Sprache des Stammes.
Doragon streifte die Kapuze ab und setzte sich vor das rauchende, knisternde Feuer, während er seine dicke Ledermaske löste und sich das dunkelbraune, wellige Haar aus dem Gesicht strich. Es reichte ihm bis zu den breiten Schultern.
»Er kann nicht hierbleiben.«
Die Worte hingen einen Moment schwer in der Luft. Doragon hatte geahnt, dass es so kommen würde, dennoch erschütterte ihn diese Entscheidung.
»Sie wird ihn hier finden«, fürchtete der Häuptling, »und ihn sich zurückholen. Das darf nicht geschehen. Wir haben den Feind seines Vorteils beraubt. Es liegt in unserer Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass es so bleibt.«
Doragon saß auf seinen Knien und hielt den Kopf gesenkt. »Ich weiß«, hauchte er schwer vor Kummer, »aber wohin sollen wir ihn bringen?«
Ein Laut, der gut und gern als amüsiertes Schnauben durchgehen konnte, erklang aus der Richtung des Häuptlings. »Du weißt, wohin. In den Westen, zu seinem Volk. Sie werden ihn zu schützen wissen.«
Doragon spürte eine Enge in der Brust, die ihm die Fähigkeit frei zu atmen stahl. Er rieb die schwitzenden Hände über seine Beine. »Heddo, ich halte dies für keine gute …«
»Was sollen wir sonst tun, Ragon? Er muss in das Land, wo er hingehört. Im Westen wird er sicher sein, und die Herrin kann weder ihm noch uns schaden. Du musst ihn dahin bringen, Doragon, du musst sie alle warnen.«
Doragon schüttelte den Kopf, doch nicht um sich zu weigern, sondern aus Verzweiflung. Er hob seinen Blick und sah Heddo an. »Das hier ist mein Volk! Ich lasse euch nicht allein.«
Der Häuptling sah ihn mit seinem Adlergesicht mitfühlend an. »Du kannst nicht ewig vor dem davonlaufen, wer du bist, Doragon. Der Stamm wird immer dein Zuhause sein, aber deine Heimat und dein Volk befinden sich im Westen. Es ist vielleicht Fügung, dass du nun aufbrechen und dort hinreisen wirst.«
Doragon starrte ungläubig in die Flammen, ohne etwas zu erkennen. Er hatte geahnt, dass er diese Reise antreten musste, als er den Menschenmagier befreit hatte, doch hatte er sich nicht mit diesem Gedanken auseinandersetzen wollen. In den Westen zu reisen war nie sein Wunsch gewesen, der Osten war seine Heimat.
Der Häuptling beugte sich vor und sprach eindringlich aber gleichwohl bittend auf ihn ein. »Wem sonst würden sie vertrauen, wenn nicht einem von ihren? Du musst ihnen sagen, was ihnen bevorsteht. Bring den Jungen in Sicherheit, wenn sie dich und ihn sehen, werden sie dir Glauben schenken. Warne sie und bitte sie um Hilfe für uns.«
Doragon starrte in die flehenden Augen des Häuptlings und untersagte sich jeden Protest. Er wusste, was diesen das Fürchten gelehrt hatte. So viele Sklaven sie auch befreien konnten, sie waren keine Armee.
»Bitte sie um Hilfe«, wiederholte der Häuptling dringlich.
Doch Doragon musste noch einmal bedauernd den Kopf schütteln, beinahe zornig hielt er dagegen: »Aber sie werden uns nicht helfen.« Den Menschen war das Schicksal der Tiervölker schon immer gleich gewesen.
»Einer wird es tun«, der Häuptling sah ihm tief und eindringlich in die Augen, »aber nur wenn du ihn darum bittest.«
Diese Hoffnung teilte Doragon nicht, aber er würde sich dem Willen seines Häuptlings nicht widersetzen.
»Sobald der Junge bei Kräften ist, brecht ihr auf«, entschied Heddo, jedoch mit einem sorgenvollen Blick im Gesicht. »Wir werden das Lager ebenfalls verlegen, sobald ihr euch auf eure Reise begebt. Sorge dich nicht um uns, wir werden sicher sein. Und du wirst zu uns zurückfinden, mein Sohn, wenn die Zeit dafür reif ist. Geh nun und bereite dich vor.«
Doragon verbeugte sich auf den Knien, die Stirn und die Hände auf den Boden gelegt. »Ich werde den Stamm nicht enttäuschen.«
»Oro ni te ro.« Der Häuptling legte eine Faust über sein Herz und verneigte sich leicht. »Dein Wirt wäre stolz, könnte er dich heute sehen.«
Er ist immer stolz gewesen, Doragon hatte es immer gespürt, er war ja auch sein einziges Küken.
»Oro ni te ro«, erwiderte Doragon und legte ebenfalls seine Faust auf seine Brust. »Dein Vertrauen ehrt mich.«