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Es knackte und krachte über ihnen, als ob der Sturm zurückkäme. Doch es war kein Donner, der die Kronen des Urwaldes erschütterte, und auch keine Blitze, die ihn erhellten, sondern etwas viel Schrecklicheres, Fieseres.

»Lauf! Weiter!« Xaith riss Baron an den Zügeln hinter sich her, während er Siderius vor sich her stieß.

Der Junge presste das Bündel mit dem schreienden Kind an die Brust und stolperte gefühlt über jeden Ast und jede Wurzel, immer wieder musste Xaith ihn auffangen und hochreißen.

Er wäre leichter entkommen, hätte er die Jungen zurückgelassen, doch das kam natürlich nicht in Frage. Verdammte Sympathie.

Der Waldboden war feucht, das nasse Moos rutschte unter ihren Stiefel davon. Doch sie durften nicht anhalten.

Langsam drang das Licht der Morgendämmerung durch die dichten Blätter, sodass sie nicht mehr völlig blind waren. Baron scheute, wieherte schrill, es kostete Xaith große manipulative Kräfte, um den Geist des Pferdes an sich zu bringen, damit es sich nicht losriss und in sein Unglück rannte.

»Ich beschütze dich schon, du störrischer Esel«, brüllte er über die Schulter. Die Ausrüstung, Decken, Töpfe, Werkzeuge, Dolche klimperten auf dem Rücken des Pferdes oder schlugen gegen seine bebenden Flanken, während sie sich durchs Unterholz kämpften.

Bitte, flehte Xaith das Schicksal an, er darf sich bloß kein Bein brechen. Er würde den Hengst vermissen, so sehr als ob ihm ein Arm fehlen würde.

Etwas erhellte hinter ihnen den Wald, Bäume bogen sich, brachen, es krachte ohrenbetäubend laut, sodass um sie herum jeder Vogel, jedes Säugetier aus den Baumkronen und dem Unterholz flüchtete.

Siderius fuhr erschrocken herum, blaues Licht erhellte seine jungen Züge und die aufgerissenen Augen. »Was war das?«

Xaith stieß ihn so grob vorwärts, dass er beinahe wieder hingefallen wäre. »Schau nicht zurück!«

»Oh bei den Göttern, ist es das, was ich denke, was es ist?«

»Lauf einfach weiter!«, herrschte Xaith ihn an.

Der Junge konnte nicht mehr, sie schienen seit Stunden über Stock und Stein zu hechten, das zerrte an ihren Kräften. Lungen und Beine brannten. Und das Krachen in den Baumkronen blieb dicht hinter ihnen.

Ein riesiger Schatten zog Kreise am Nachthimmel, ein grelles Kreischen durchschall den Wald und ließ sie vor Schmerz aufbrüllen, denn ihre Ohren schienen regelrecht zu zerbersten.

»Wir müssen uns verstecken!«, rief Siderius keuchend. »Wir… wir müssen…«

Doch weit und breit fanden sie keine Höhle, nur Wald und noch mehr Wald. Keine Felsen.

Xaith legte eine Hand auf die knorrige Schulter des Jungen und lenkte ihn durch das dichte Unterholz, aber er musste sich eingestehen, dass er kein Ziel verfolgte, sondern dass sie getrieben wurden.

Neben ihnen explodierte der Wald in einem Streifen hellen, blauen Licht, so nah, dass es sie stolpern ließ und sie sich instinktiv zusammenrollten. Xaith schmiss sich auf die Jungen, Barons Zügel fest in den Händen, die in seine Haut schnitten, als der Hengst sich vor Panik aufbäumte.

Der Schrei des Kindes war herzzerreißend und bedenklich, Siderius zitterte unter ihm.

Als sie die Köpfe hoben, sahen sie Rauch und brennende Blätter zu Boden segeln. Blaues, kaltes Feuer fraß sich durch die Wildnis. Ein starker Flügelschlag wirbelte Laub und Asche auf, direkt in ihre Augen.

Sie sahen den großen Schatten neben sich landen und sprangen auf.

»Lauf!« Xaith schubste Siderius in den Wald, fuhr gleichzeitig herum und warf einen orangen Feuerstrahl auf den Schatten, der sich daraufhin verwirrt schüttelte. »Lauf! Lauf so schnell du kannst!«

Willst du mich fangen, Bruder, oder töten?

Tatsächlich wusste man das bei Riath nie so genau.

Sie rannten und rannten, begleitet von dem panischen Schreien eines Neugeborenen und dem schrillen Wiehern des Hengstes.

Siderius hechtete über einen umgestürzten, überwucherten Baumstamm, dahinter klatschte er in ein Loch aus Matsch, seine Schritte patschten.

Xaith nahm den Weg drum herum, winkte den Jungen zu sich. Das Krachen und der Flügelschlag richteten sich nach Norden, drehten aber bald wieder in ihre Richtung, als hätte die Kreatur ihre Witterung erneut aufgenommen.

Sie verschnauften dennoch für einen winzigen Moment hinter einer dicht stehenden Gruppe junger Bäume, und schöpften Atem. Asche klebte in ihren Gesichtern, ihre Knie und Hände waren vom vielen Stolpern aufgeschürft.

»Warum ausgerechnet dieses widerliche Biest?«, fragte Siderius und spähte in den Wald, der im Zwielicht bedrohlich und fremd wirkte. »Ich hasse es.«

»Ich glaube, es mag uns auch nicht sonderlich.« Xaith stieß sich von seinem Stamm ab und packte Siderius` Arm. »Komm, schnell weiter.«

Die Kreatur holte erneut auf und sie mussten wieder rennen. Blind liefen sie auf eine Lichtung, deren hochgewachsenes, braunes Gas ihnen bis zu den Nasenspitzen reichte. Doch dort waren sie ein leichtes Ziel.

Baron galoppierte mit aufgerissenen Augen los, zog an Xaith vorbei und riss ihn beinahe mit, wäre es Xaith nicht gelungen, ihn mit einem Ruck an den Zügeln aufzuhalten und dann zu beruhigen.

»Es kommt zurück!«, schrie Siderius auf.

Xaith fuhr herum. Am dunkelblauen Himmel, der langsam vom Licht der Dämmerung gespeist wurde, sah er die riesige Flügelspannweite und riss die Augen auf. Das Beast hielt im Sturzflug auf sie zu, blaue Flammen waberten aus seinem Maul. Es würde Xaith nicht töten, aber es würde ihn schneller mit diesem Feuer einkreisen und festsetzen als er laufen konnte.

»Achtung!«

Das war nicht seine Stimme. Verwundert drehte er sich um. Am Waldrand zu ihrer Rechten stand ein winziger Umriss, gut hundert Schritte entfernt, und doch bemerkte Xaith sofort das silbrig schimmernde, faustgroße Ding in der Hand des Fremden.

»Runter!«, brüllte er, schmiss sich auf den verwirrten Siderius und riss ihn zu Boden, sodass sie auf das Kind fielen und grunzten.

Baron bäumte sich panisch auf, riss sich endgültig los und stürmte davon. »Nein!«, schrie Xaith aus Leib und Seele, sah seinen geliebten Hengst – den sein Vater ihm geschenkt hatte – vor dem inneren Augen bereits zerfleischt von dem Raubtier.

In jenem Moment, als der fliegende Schatten von seinen Instinkten abgelenkt wurde und dem Pferd hinterher wollte, warf der Fremde aus dem Wald sein Wurfgeschoss, das grell wie ein Stern über Xaith hinwegsegelte. Er blickte ihm nach, seine Drachenaugen verfolgten den schimmernden Flug und beobachtete, wie es genau in die Flugbahn der Kreatur geriet, als hätte der Werfer den Zeitpunkt vorhergeplant und abgepasst. Der schimmernde Gegenstand traf genau zwischen die großen Augen.

Xaith drehte sich schnell weg, legte die Hände über Siderius` Gesicht, und petzte die Augen zu. Trotzdem konnte er das blendend helle Licht sehen und spüren, das hinter ihm im Gesicht der Kreatur explodierte. Ein gequälter Schrei ertönte, tierisch und in den Ohren schmerzend, gefolgt von einem Beben der Erde, als die Kreatur auf dem Boden aufschlug.

»Schnell!« Der Fremde war bei ihnen, zog sie auf die Beine. Er hatte zierliche Finger, die ungefragt Xaiths Hand packten und mit sich in den Schutz der Bäume zogen.

»Baron!«, rief Siderius und sah über die Schulter, das Köpfchen des Kindes an seinen Hals gedrückt.

»Der findet zu uns zurück, wie immer!«, herrschte Xaith ihn an, riss den Jungen mit sich.

Er dachte nicht nach, wollte nur weg, und vertraute deshalb dem Fremden, der in einen großen Umhang gehüllt vor ihm herlief und ihn durch immer enger werdende Gänge durch den Wald führte.

Die Kreatur wimmerte noch immer blind auf der Lichtung, der Wind trug die Laute davon, doch bald wurde sie wieder etwas sehen und die Verfolgung aufnehmen.

Sie schlugen Haken, der Wald war aufgebracht, überall schimpfte es im Unterholz, raschelte es, die Tiere waren in Alarmbereitschaft.

»Hier!« Der Fremde ging zielstrebig auf eine dunkle Aushöhlung zu. Erst als sie nähertraten, erkannte Xaith eine überwucherte, alte Hütte mitten im Wald. Vielleicht das Sommerdomizil eines Jägers, vielleicht war das Dorf, das er aufsuchen wollte, auch nicht mehr fern.

Doch als sie hinter dem Fremden blind in die Hütte liefen, war sofort deutlich, dass hier schon lange niemand mehr wohnte. Es war staubig, überall waren dicke Spinnweben und Nester, es roch morsch und klamm, ein kleiner Affe schreckte auf und entfloh aus einem Loch im Dach, von wo die Morgendämmerung herein schimmerte.

Sie waren von einer Falle in eine Falle gelaufen.

Siderius wiegte den Jungen im Arm und versuchte, ihn mit »Sh«-Lauten zu beruhigen, der Fremde schloss die Tür hinter ihnen.

Knurrend warf Xaith sich herum, zog seinen Dolch und stürzte sich mit flammenden Augen auf die kleinere Gestalt.

Siderius zuckte zusammen. »Was machst du denn?«

Es war nicht genug Zeit, ihm zu antworten.

Ein erschrockener Laut drang unter der weiten Kapuze hervor, als sie gemeinsam zu Boden gingen. Xaiths Aufprall wurde durch einen schlaksigen Leib abgefedert, unter dem Umhang spürte er jedoch weder eine Rüstung noch ein Schwert.

Verwundert hob er den Kopf, seine Klinge schnitt leicht in eine unheimlich schlanke, weiße Kehle, wodurch der hervorquellende Tropfen Blut schimmerte wie ein Edelstein. Der Fremde hob das Kinn instinktiv an, rechts und links von seinem Kopf lagen ergebend seine untätigen, zarten Hände.

Das Licht fiel durch das Loch im Dach direkt auf das Gesicht. Xaith stockte der Atem, blinzelte irritiert. Zwei riesige Augen blickten ihn an. Vertraute Augen. Zimtbraune Augen.

Perplex schüttelte Xaith den Kopf, das konnte nicht sein, er zog den Dolch zurück, als hätte er aus Versehen einen Heiligen bedroht. »Jin?«

*~*~*

Es herrschte langes Schweigen, ihre Blicke hielten sich fest. Blaues Schimmern küsste ihre Züge, während die Zeit verstrich.

Riath machte einen Schritt zurück in die Mitte des Zimmes, einen Schritt wagte er auf Kacey zu. »Also…?«, hakte er nach, feurige Lust loderte in seinen grünen Augen auf.

Kacey hatte die Arme vor der Brust verschränkt, zum Selbstschutz, er schlug die Augen nieder, weil er Riaths fordernden Blick nicht aushielt.

»Erzähl mir von Xaith«, verlangte er dann. »Ich habe herausgefunden, dass er versucht, euren Vater und eure Geschwister wiederzuerwecken, doch er sagte auch, dass er gescheitert wäre.«

Er hatte geglaubt, Xaith hätte von seinem Plan abgelassen, weil es schlicht unmöglich war.

Riath antwortete unheildrohend: »Ich habe Grund zur Annahme, dass er es dennoch versuchen wird.«

Kacey sah zu ihm auf, versuchte dabei so geschäftig und distanziert zu wirken, als wollte er eine politische Angelegenheit für die Magier klären.

Und genau das war es, was er und Riath seit gut einer Stunde hier taten. Sie debattierten darüber, ob Kacey sich ihm anschloss. Doch sich Riath anzuschließen, bedeutete nicht nur, für den Schutz der Magier zu kämpfen, sondern sich auch Riaths persönlichem Krieg mit Carapuhr anzuschließen. Und allen anderen Kriegen, die er anzetteln wollte.

»Ich verfolge meinen Bruder schon, seit er verschwunden ist«, begann Riath zu erklären. »Neben Hexenjägern und Barbaren, die mir an den Kragen wollen, lasse ich Xaiths Weg nachverfolgen.«

Riath wandte der Tür den Rücken zu, und aus einem unerfindlichen Grund fiel Kacey ein Stein vom Herzen. Er sah ihm nach.

»Xaith hat ganz Nohva nach alten Schriften abgesucht, Klöster, Kirchenarchive, alte Tempel der Elkanasai, immer auf der Suche nach Wiedererweckungszaubern, die bekanntlich unter Nekromantie und Dunkelzauberei fallen.« Riath lief auf und ab und ließ die Knöchel knacksen, schien plötzlich ruhelos. »Das blieb der Öffentlichkeit nicht verborgen, er wurde gesehen, die Menschen bekamen Angst. Sie sagen, er sei ein Nekromant. Jemand nutzte diese Angst und prompt hielten die Bürger uns alle für böse Zauberer, die wider der Natur handeln. Dann kam die Frage auf, ob so jemand ein Prinz, geschweige denn König sein durfte. Und die alten Schriften der Götter besagen: Nein, darf es nicht.«

Kacey begann, zu verstehen. »Er hat also den Konflikt ausgelöst, indem er alte Zauber suchte und stahl?«

»Die Frage, ob ich nach dem Erwachen meiner Fähigkeiten ein geeigneter Erbe bin, stand bereits von Anfang an im Raum«, gab Riath zu, sah Kacey an und zuckte mit den Schultern. »Aber nachdem Xaith ein wenig Staub aufgewirbelt hat, verschärfte sich alles. Sprich, meine Gegner wollten die Machenschaften meines Bruders gegen mich verwenden. Einige im Adel hofften wohl auch darauf, Wexmell würde sich mit einer ihrer Töchter vermählen und eigene Kinder zeugen.«

Mit verschränkten Armen ging Kacey hinüber zu seinem Tisch, dabei nahm er Riaths verbeulten Kelch vom Kaminsims. »Das hast du in deinen Briefen erklärt. Doch was ist mit Xaith, welches Ritual hat er gefunden, das vor ihm noch niemand gefunden haben soll? Und welchen Preis soll es am Ende kosten?«

»Er fand es nicht in Nohva, er reiste mit einem Schiff nach Malahnest.«

Kacey fuhr mitten im Lauf zu Riath herum, der vor seinem Bett stand und mit seiner überragenden Präsenz den Raum ausfüllte. »Er ist zu den freien Inselstaaten gereist?«

Selten kamen Händler oder Reisende von dort in die großen Reiche, noch seltener verirrten sich Besucher so weit in den Nordosten der See. Niemand wusste, wie es dort genau aussah, wer was regierte, es gab keine Könige, aber wohl Statthalter. Hin und wieder kursierte ein Gerücht über die Inseln, wie es dort aussah, welches Wetter dort herrschte, wie viele Städte oder Burgen es gab, doch jedes Gerücht widerlegte das andere.

Riath sah Kacey mit einer undurchdringlichen Miene an. »Ich bin ihm dorthin gefolgt, ein kleiner Abstecher, bevor ich nach Carapuhr reiste und deine Schwester traf.«

Kacey schüttelte den Kopf, während er eins und eins zusammenzählte, und sich mit dem Rücken an einen dunklen Stuhl lehnte, die Hände darauf abstützend. »Er stieß dort auf dieses uralte Ritual?«

»Es gibt in Malahnest und Irridohr keine Verbote oder Grenze für Zauberei«, erklärte Riath.

Interessiert horchte Kacey auf.

»Sie bewahren dort jeden Zauber in ihren Türmen und Museen und Archiven.« Riath drehte sich suchend um, entscheid sich für die Bettkante und setzte sich darauf, schien ermattet, müde vom Erzählen. »Ich war nicht rechtzeitig dort, Xaith entwischte mir, aber wir fanden einen Priester, mit dem Xaith gesprochen hatte. Dieser sagte uns, Xaith interessierte sich für eine alte Prophezeiung.«

»Das gefällt mir nicht.« Prophezeiungen waren nie etwas Gutes, wirklich nie.

Riath nickte beständig. »Es gibt einen Ort in Malahnest, wo angeblich ein Fenster zur Welt der Toten besteht. Sprich, eine Art dünner Schleier. Dort bauten sie vor Jahrtausenden einen Tempel, er ist heute verfallen, doch die Beschwörungshalle existiert noch, überwuchert von Pflanzen.« Er hielt kurz inne, schien zu überlegen, wie viel er erzählen wollte, und rieb nachdenklich die großen Hände aneinander.

Wie er da so saß, wirkte er auf Kacey beinahe zugänglich und menschlich. Er wollte sich zu ihm setzen, seine Hand berühren, sein schönes Gesicht…

»Es gibt dieses Ritual, Kacey, um die Toten zurückzubringen, doch um sie ins Leben zurückzurufen, braucht man vier lebendige, aber leere Gefäße.

Zuerst verstand Kacey nicht, doch als er Riaths bedeutsamen Blick bemerkte, stockte ihm entrüstet der Atem. »Du meinst, er müsste vier Seelen rauben, um vier sterbliche Hüllen zu haben.«

»Genau das meine ich.« Riath nickte. »Aber Xaith versucht, den Spruch umzuwandeln, er will die Seelen in vier Dracheneier pflanzen.«

Xaith versuchte, den Spruch umzuwandeln… Die vielen Experimente, das Durchstöbern der Bibliothek der Akademie, deswegen war Xaith hier gewesen!

Kacey rieb sich unwillkürlich den Hals. »Du sprachst von einem hohen Preis.«

Schwermütig nickte Riath. »Der Priester sagte, dass niemand je dieses Ritual vollzog, weil in den Schriften steht, dass nicht der, der das Ritual einleitet, entscheidet, wer zurückkommt. Es heißt in der Prophezeiung, der, der das Ritual vollzieht, darf drei Seelen zurückbringen, doch er muss auch einer vierten Seele das Leben schenken, die derjenige aussucht, der auf der anderen Seite wartet.«

Kacey hob verwirrt die Hand, um Riath zu unterbrechen. »Der, der auf der anderen Seite wartet?«

Riath hob die breiten Schultern. »Sie dachten, es sei der Tod, doch wir wissen, dass die Unterwelt abgeschnitten und Onkel Zazar vermutlich gefangen ist. Wir wissen nicht, wer oder was die vierte Seele aussucht, und was dadurch in unsere Welt gebracht wird.«

Riath rieb die Hände über die Schenkel, als wären sie schwitzig. »Der Priester sagte auch, nach dem Ritual kämen sieben Jahre Sonnenschein über die Heimat derer, die aus dem Tod zurückkehren, doch danach würden auch sieben Zeitalter lang nur eine kalte, schwarze Sonne scheinen, Monster würden aus dem Boden kriechen und über das Volk herfallen.« Riath suchte Kaceys Blick, wirkte hart und doch betroffen. »Sieben Zeitalter lang Dunkelheit, Kälte und Monster über Nohva. Nur weil ich versäumt habe, meinen Bruder in seiner verzweifelten Trauer zu helfen. Nur weil ich … Sarsar in den Abgrund stieß.«

Kacey wusste nicht, was er sagen sollte, er öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder betroffen. Ihn fröstelte es, wenn er an die Ausmaße dessen dachte, was ein einziger Zauber heraufbeschwören konnte.

»So gerne ich auch meinen Vater zurückhätte…«, Riath starrte auf seine Finger, die er gewissenhaft knetete, »und so gerne ich mich wieder mit meiner Schwester messen würde… So gerne ich vieles wiedergutmachen würde. Ich kann ihn das nicht tun lassen, er würde alle Magier zum Tode verurteilen, sie würden uns alle dafür hassen. Außerdem ist unsere Welt von allen anderen Welten abgeschnitten, nur so konnten wir das Portal schließen. Zazar, Cohen, Vater… sie gaben ihre Leben dafür. Was, wenn Xaith diesen Schutzschild einreißt und dadurch noch mehr Risse verursacht, die noch mehr fremde Götter anlockt?«

Kacey wurde es eng in der Kehle, als er an das Portal dachte, das ihn ausgesaugt und fast umgebracht hätte, als er plötzlich inmitten von zerflossenen Leichen die gleichen grünen Augen erblickt hatte, die ihn auch jetzt ansahen, und ihn vom Tod weggerissen, ihn gerettet hatten.

Riath und ihn verband mehr, als er Außenstehenden begreiflich machen könnte. Ja, Riath mochte ein Brudermörder sein, aber Riath hatte ihm auch mehr als einmal das Leben gerettet. Das machte seine Taten nicht wieder wett, aber es sorgte dennoch für ein besonderes Band zwischen ihnen, das man vielleicht nur dann verstehen konnte, wenn man selbst wie Kacey von Riath geliebt wurde.

Er räusperte sich, um das beklemmende Gefühl abzuschütteln. Er spürte Riaths Blick auf sich, als erwartete der Prinz von Nohva eine bestimmte Erwiderung. Unwohl drehte Kacey sich um, ging um seinen Tisch herum und nahm den Kelch auf, den Riath ihm eingeschenkt hatte, während er den anderen abstellte. Er trank einen großen Schluck.

»Ich muss ihn aufhalten«, erklärte Riath sich, »erst wenn ich ihn aufgehalten und ihn in Sicherheit gebracht habe, kann ich mich um alles andere kümmern. Melecay und der Schutz der Magier hängen mit Xaith zusammen, denn wenn er dieses Ritual durchführt, werden wir andern Zauberkundigen zu Gejagten, und Melecay würde sich dieser Jagd gewiss sofort anschließen, um mir und meinen Brüdern die Kehlen aufzuschlitzen.«

»Warum ist Melecay hinter euch her? Hinter dir?«

Riath zischte und wandte den Blick ab, als ob Kacey ihn zutiefst beleidigt hätte.

»Wie soll ich dir vertrauen, Riath, wenn du mir nicht vertraust?«

Er haderte mit sich, kratzte sich am strohblondem Kopf, rieb die Hände aneinander, und starrte dabei in eine andere Ecke des Zimmers. »Melecay… sagen wir, er will verhindern, dass ich den Thron Nohvas je besteige.«

Da steckte mehr dahinter, Kacey spürte es, doch Riath wollte es ihm nicht erklären.

Mit dem Kelch in der Hand, schlug Kacey ein Buch auf und blätterte stehend darin herum, doch er las nicht, er verschaffte sich nur Zeit zum Nachdenken, gleichzeitig behielt er den Schluck Wein im Mund, um nichts sagen zu müssen. Wieder spürte er Riaths erwartungsvollen Blick auf sich, sah aber nicht auf.

»Du trägst noch die Kette.«

Unwillkürlich blickte Kacey an sich hinab, dabei wusste er sehr genau, worüber Riath sprach und was ihn so vor Schadenfreude grinsen ließ. Kacey legte die Hand ertappt um den sichelförmigen Mondanhänger, den Riath aus einem alten Grab entwendet und ihm umgehängt hatte, nachdem Kacey ihm erklärt hatte, er würde Riath nur dann einen Kuss schenken, wenn er ihm den Mond vom Himmel…

Nun gut, Jugendlieben waren albern und kitschig und…

Warum trug er diese Kette dann noch immer?

»Was willst du hier?« Er klang genervt, doch das war er ganz und gar nicht, nur verwirrt und halb erschlagen von zu vielem Gerede. Noch immer wusste er nicht, was Riath beabsichtige. Nicht bezüglich der Welt, sondern auf ihn – auf sie beide – bezogen.

Und auch wenn er sich dafür schämte, ja, das war ihm trotz aller Umstände sehr wichtig.

Seine hellblauen, frostigen Augen blickten Riath herausfordernd an.

Der Prinz von Nohva lächelte milde. »Weißt du das nicht?«

»Ich meine«, Kacey schloss die Augen, er hielt sich an der Tischkante fest, nachdem er den Kelch wieder abgestellt hatte, »…was erwartest du jetzt von mir? Soll ich dir helfen, Xaith aufzuhalten? Ich habe hier Verpflichtungen, ich…«

»Nein, ich will, dass du hierbleibst und die Magier von Elkanasai darauf vorbereitest, sich zu wehren. Ich will, dass du sie für mich gewinnst, dass wir uns und sie unter einem Banner vereinen, als Streitmacht.« Riath stand auf, als Kacey ihn ungläubig anblickte. »Ich will, dass du mein Wort und mein Wille bist, ich will, dass du dich mir anschließt, Kacey, und dass du hier für eine solide Sicherheit sorgst, während ich mich um meinen Bruder kümmern muss.« Er stellte sich Kacey gegenüber, nur der Tisch war zwischen ihnen, eine große und dicke Platte Nussbaumholz, die nicht genug schien, um Riath aufzuhalten, sollte er näherkommen wollen. Nichts, nicht einmal ein Heer Dämonen hätte ihn dann aufhalten können. »Stärk mir den Rücken, Kacey, sorg dafür, dass die Magier von Elkanasai sich auflehnen.«

Kacey schluckte, sein Herz raste. Doch er wusste in diesem Moment noch nicht zu bestimmen, weshalb.

»Willst du nur das von mir?« Er wusste nicht, warum er das fragte. Doch, er wusste es, aber er wollte es sich nicht eingestehen. »Einen… Verbündeten?«

»Wie könnten wir mehr sein, wenn du nicht einmal das sein willst?« Nun klang Riath beinahe verletzt. Beinahe. »Nein, ich will dein Herz, ich will dich, Kacey. Ich will, dass wir eins sind, ich will von dir geliebt werden, so wie ich dich liebe und verehre, aber ich weiß sehr wohl, dass ich Liebe nicht einfach so verlangen kann wie ein Bündnis. Es liegt an dir, alles liegt nur an dir. Alles ist deine Entscheidung, aber ich bin hier, um dir von Angesicht zu Angesicht zu erklären, was bald geschehen wird.«

Kacey wusste nicht, was er sagen sollte. Auch, wenn er jetzt wusste, wohin Riaths nächster Schachzug ihn führte, wusste er nicht, wohin sich sein eigener Weg richten sollte.

»Sei nicht so dumm wie Wexmell und handle zu spät«, bat Riath ihn, streckte die Hand über den Tisch aus und berührte Kaceys Wange. »Lass nicht zu, dass hier auch nur ein Magier unter deiner Verantwortung stirbt, nur weil du einen Frieden wahren willst, zudem keine Seite bereit ist.«

Unwillkürlich und gegen die Vernunft, schloss Kacey genüsslich die Augen. »Riath…«, hauchte er und atmete schwer aus, »…manipulier mich nicht.« Er zwang sich, Riaths Hand zu nehmen und sie nach unten zu drücken.

Riath lächelte melancholisch. »Ich habe es nicht nötig, dich zu bezirzen, damit du tust, was ich will. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, Kacey. Glaub mir, ich will dich auch dann, wenn du mir den Rücken kehrst. Ich habe dich immer gewollt. Stich mir einen Dolch in die Brust und ich würde mich trotzdem nach dir verzehren, dir alles verzeihen.« Seine Stimme und sein Blick wurden dunkler, schwerer, verheißungsvoll und so rau wie ein Stein auf Stein. »Und ich dachte, du mir auch.«

Damals vielleicht. Für eine Nacht vielleicht. Und vielleicht beruhten all diese wahnwitzigen Gefühle auf Gegenseitigkeit. Doch hatte man jemanden wie Riath wirklich je für sich? Er war schon damals ein Schwerenöter gewesen, nur an Körpern interessiert, nicht an Liebe.

Riath lebte für die Jagd, nicht für den Genuss.

Kacey sehnte sich nach beidem, denn ein Mann brauchte zum Leben sowohl Sauerstoff als auch Wasser, so war es bei ihm mit Liebe und mit Lust. Er brauchte beides in der gleichen großen, überragenden Menge.

»Ich… kann meinen Vater nicht einfach hintergehen«, hörte er sich sagen, sprach aus dem Verstand heraus, nicht aus dem Herzen. »Aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dass du und der Kaiser einander ein Bündnis schafft, um die Magier zu schützen.«

Riath senkte enttäuscht die Lider, schwieg für einen Moment. Kacey hätte gern sein Gesicht berührt, ihn um Verzeihung gebeten.

»Du entscheidest, wozu du bereit bist, Kacey«, sprach Riath dann mit überraschender Nachsicht. »Doch wir wissen beide, dass du dich viel mehr davor fürchtest, wieder ein Sklave zu sein, als davor, dass deine neue Familie dich vielleicht als Verräter sieht.«

Kacey hob den Blick zu ihm, runzelte die Stirn.

Riath bewegte sich rückwärts. »Und am Ende werden wir alle in die Leibeigenschaft gezwungen, wenn wir uns jetzt nicht wehren. Glaub mir, das wird dir schneller bewusst, als dir lieb sein wird.«

Nachdenklich musterte Kacey Riath, der sich geschmeidig Schritt für Schritt von ihm entfernte, als hätte er Augen im Hinterkopf. »Denk darüber nach, ich bin noch ein paar Tage hier, du findest mich in einem Lager südlich der Stadtmauer. Ich bin sicher, dein Herz führt dich. Komm, wenn dir danach ist. Zum Reden oder…« Sein Blick fiel auf das Bett, er grinste und sah dann zurück zu Kacey, »…oder falls du nach all dem Gerede nach Zerstreuung suchst.«

Kacey fühlte sich ertappt, ein verräterischer Stich fuhr durch seinen Leib, als hätte ihn jemand von hinten mit einer brennenden Klinge durchbohrt.

Ha, so ähnlich hatte es Riath nur wenige Stunden zuvor ja auch gemacht.

Riath schmunzelte ihn schief an. »Keine Sorge, ich sage es auch keinem.«

Und dann ließ er ihn allein mit seinen wirren Gedanken und zwiespältigen Gefühlen. Und das Alleinsein hatte sich noch nie so erdrückend und düster angefühlt wie nach seinem Auftauchen.

Wir sind nicht so verschieden.

Warum nur hatte er damals das Bedürfnis gehabt, Riath diese Zeilen zu schreiben?

Weil er ihm nahe sein wollte, musste er sich eingestehen, weil er derjenige sein wollte, der Riaths Herz erreichte. Weil er… weil er diesen tief sitzenden, nicht zu beschreibenden Drang und Wunsch verspürte, etwas Besonderes zu sein. Kacey wollte derjenige, dieser eine Mann sein, den Riath nicht wie das Gehäuse eines abgefressenen Apfels wegwerfen konnte, nachdem er seinen Hunger gestillt hatte. Nein, er wollte die Nadel sein, die unter Riaths Haut drang, das Gift, das an ihr klebte und sich brennend in seinen Venen ausbreitete, ihn mit Atemnot und Herzrasen quälte. Denn nur, wenn Riath den Boden anbetete, auf dem Kacey wandelte, würde er nicht mehr zu dem ›elitären‹ Kreis der dummen Dingelchen gehören, die allesamt auf Riaths Charisma hereingefallen waren.

Nein, er wollte nicht noch einmal von Desith hören, dass er naiv gewesen war und sich von Riath hatte einlullen lassen, nicht mehr für ihn war als jeder dahergelaufene Knecht oder Küchenmagd. Oh nein, das war Kacey bestimmt nicht! Er würde es sich und der Welt beweisen – und vor allem Riath –, dass er mehr als ein Aperitif für ihn gewesen war.

Er spielte mit dem Feuer.

Oder… hatte er diese Zeilen am Ende doch genauso gemeint, wie er sie geschrieben hatte?

War sein Wunsch, etwas Besonderes zu sein, nicht genau das, was auch Riaths sich wünschte?

In allen Lebenslagen?

Verdammt.

*~*~*

»Was, bei allen verdammten Göttern und ihren Bastarden, tust du hier?« Xaith stand auf und riss den Händlersohn aus Nohva am Arm auf die Beine. Er steckte den Dolch zurück in seinen Gürtel.

Fenjin schwankte kurz, seine Kapuze rutschte endgültig zurück und die Morgendämmerung fiel auf sein ahornrotes Haar, das wie ein geschliffener Edelstein schimmerte.

Er hatte sich kaum verändert. Acht Jahre war es her, als sie sich zuletzt gesehen hatten, am Tage als der Leichnam von Xaiths Vater verbrannte, als Jin die Hand von … Vaaks gehalten hatte.

Jin. Der Rotschopf, der immer zwischen ihm und seinem Ziehbruder gestanden hatte. Jin mit den warmen Augen, dem strahlenden Lächeln, den vielen Sommersprossen auf Nase und Wangen. Sie waren mehr geworden, bedeckten sein halbes Gesicht und den wahnsinnig dünnen Hals, karamellfarbene Sprenkel auf elfenbeinfarbener Haut. Ein Makel für viele Menschen, doch Jin schmückten sie wie Blüten ein Gesteck. Acht Jahre und der Bursche war noch genauso makellos schön – auch wenn einige böse Zungen behaupten, die Sommersprossen würden seine Schönheit mildern – wie eh und je, vielleicht sogar durch den Hauch der erwachsenen Züge noch schöner.

Der allbekannte Neid stieg Xaith bitter in die Kehle, als sie sich Angesicht zu Angesicht in der dunklen, staubigen Hütte gegenüberstanden. Wie ungerecht das Leben doch war, dass Jin vom Scheitel bis in die Fußspitzen genauso perfekt war wie von seinem sanften, freundlichen und unkomplizierten Wesen.

Das wurde ihm wieder deutlich bewusst, als Jin ihn mit einem Lächeln ansah, als wären sie zwei alte Freunde, die sich nach Jahren in einer Kneipe wiedersahen.

Sie waren nur nie Freunde gewesen, doch das interessierte den anderen offensichtlich nicht.

»Ich habe dich gefunden!« Jins Lächeln wirkte erleichtert, sein schlanker Leib sackte ein Stück in sich zusammen. Er trug ein feines Seidenhemd mit verschlungenen Stickereien, bronzene Ranken auf dunkelrotem Grund, dazu feine Hosen in Schwarz und einen Gürtel ohne Schwert, seine Schuhe und sein Umhang wiesen Reisespuren auf, waren rissig und matschig.

»Ich bin so froh, dass ich dich endlich gefunden habe!« Ohne Vorwarnung sprang Jin ihn an. Xaith zuckte zusammen, doch es war zu spät, er war zu benommen von der unerwarteten Begegnung, um ihn aufhalten zu können. Schon lagen seine Arme um Xaiths Nacken und drückten ihn an sich. »Ich habe soooo lange nach dir gesucht! Ich bin durch die halbe Welt gereist, immer Riaths Meute nach, ich wusste, sie würden mich irgendwann zu dir führen!«

Jin sprach aufgebracht, hektisch, und seine Stimme brach, klang nasal, als stünde er kurz vor einem Ausbruch gerührter Freudentränen. Dabei rieb er die Wange an ihm, als könnte er erst glauben, dass Xaith echt war, wenn seine Bartstoppeln die zarte Haut in seinem Gesicht aufgerissen hatten.

Xaith war wie erstarrt, erwiderte die Umarmung nicht. Roch es plötzlich nach warmen Apfelkuchen?

Er vermisste Nohva mit einem Schlag, als ob man ihm das Herz aus der Brust gerissen hätte.

Neugierig spähte Siderius um ihn herum, musterte Jin. Das Kind in seinem Arm greinte.

Und da war noch etwas, das Xaith wahrnahm, schleichend aber unaufhaltsam. Es kitzelte in seiner Nase, stieg langsam wie Nebel in seinen Verstand und breitete sich kribbelnd über Kopf und Nacken aus.

Blut.

Jin blutete. Xaith hatte ihn verletzt. Nur leicht, aber genug, um seinen Durst zu wecken. Ihm wurde heiß und seine Kehle wurde mit einem Mal staubtrocken.

Grob packte er Jin an den Oberarmen und drückte ihn von sich weg. Er sah noch dessen überraschtes Gesicht, die wässrigen, riesigen Iriden, eher er die Augen zusammenpetzte und die Luft anhielt.

»Xaith…« Siderius` Stimme klang, als hätte Xaith Wasser in den Ohren. Gedämpft, weit weg, unverständlich. Doch die Besorgnis war ihm anzuhören.

»Jin…«, Xaith knurrte, »… Blut.«

Er spürte die Bewegung, als der Rotschopf sich an die Kehle fasste und ein trockenes »Oh« ausstieß.

»Ich … ich kann… ich hab ein Tuch!« Jin wollte zurücktreten, fischte in seiner Tasche nach dem besagten Tuch, doch Xaith konnte nicht loslassen, seine Finger krallten sich in Jins Oberarme und wollten sich nicht mehr lösen.

Siderius` Herzschlag wurde schneller, das konnte Xaith hören, er machte einen Schritt auf Xaiths Rücken zu, seine gesamte Körperhaltung wirkte angespannt und bereit, dazwischenzugehen.

Doch überraschenderweise bemerkte Xaith bei Jin keinerlei Furcht, hörte keinen erhöhten Herzschlag, keine schnellere Atmung. Entweder er sehnte sich danach, dass man ihm die Kehle aufriss, oder er verkannte die Gefahr. Immerhin hatte Xaith seiner eigenen Mutter die Kehle aufgerissen und sie getötet, was in Nohva schon recht bekannt, sprich, ein riesiger Skandal gewesen war.

»Xaith, du musst mich loslassen«, sprach er ruhig auf ihn ein, »damit ich zurücktreten kann.«

Noch immer hielt Xaith die Augen geschlossen, hielt den Atem an. Das Blut zog ihn wie immer in seinen Bann, doch er wusste, dass er sich beherrschen konnte. Er hatte es bei Kacey geschafft.

Er hatte es geschafft!

Doch Jins Blut… es hatte eine unbegreiflich starke Anziehung.

»Xaith…« Siderius angespannte Stimme war dicht hinter ihm. »Lass ihn …«

»Schon gut!«, gab er barsch an beide zurück, drehte den Kopf wie angewidert zur Seite und ließ einen von Jins dünnen Armen los, um blind in Richtung seiner Kehle zu tasten.

Dessen Puls flatterte nun doch, als Xaiths schwarze Fingerspitzen seinen Hals federleicht streiften. Das machte es beinahe noch schlimmer, würde er jetzt zubeißen, würde dessen Blut warm und schnell in Xaiths Mund fließen, als hätte er eine Axt in ein volles Fass Wein geschlagen.

Er konzentrierte sich auf seine Magie, drang mit seiner Aura in die oberflächliche Wunde und ließ sie kraft seines Willens zusammenwachsen.

Dann brach er fast zusammen, weil seine Zurückhaltung mehr Kraft gekostet hatte als der winzige Zauber. Er ließ Jin los und taumelte rückwärts, wanderte kurz durch den Raum und sog modrige Luft in seine Lungen, da er so lange den Atem angehalten hatte.

Der Geruch des Blutes verflog, zusammen mit dem Durst.

Diese Gier hatte er schon lange nicht mehr gespürt, aber er hatte sich auch schon einige Wochen nicht mehr genährt.

Schwer atmend rieb er sich die Brust, dann wandte er den Blick zu den anderen.

Jin strich gerade mit einem weißen Tuch seine Kehle sauber, seine zimtbraunen Augen lagen besorgt auf Xaith. Besorgt um ihn, nicht um sich.

Er machte einen Schritt auf ihn zu, ließ das Tuch fallen, als fürchtete er, das Blut daran könnte ihn wieder quälen, und legte Xaith eine Hand auf die Schulter. »Geht es wieder?«

Xaith sah zu Siderius, der ihn mit verengten Augen genaustens beobachtete, bereit, ihm wenn nötig irgendetwas über den Schädel zu ziehen.

Er liebte den Jungen, auf ihn war Verlass.

»Ja.« Xaiths Stimme klang rau, aber menschlich, er spürte wie seine Augen erloschen und sich von feurigem Rot in das übliche Gelbgrün wandelten. Dann richtete er die geschlitzten Pupillen auf Jin.

»Es tut mir leid«, beteuerte dieser mit reuevoll zusammengezogenen, rötlichen Augenbrauen.

Ihm tat es leid? Xaith hatte ihn verletzt und ihn dann angesehen wie ein Löwe ein blutiges Stück Fleisch. Was tat ihm leid? Dass er blutete?

»Du musst zurückgehen«, sagte er barsch und richtete sich derart heftig auf, dass er Jin beinahe von sich stieß. »Was tust du überhaupt hier?«

Überrumpelt von dem plötzlich groben Ton, brachte Jin kein Wort hervor, sein hübscher Mund stammelte.

»Du musst gehen!« Xaith stampfte an ihm vorbei.

Jin sah ihm nach, erlangte seine Fassung zurück und konterte: »Ich habe euch gerettet!«

»Und wer rettet jetzt dich?« Xaith spähte aus einem Fenster in die Morgendämmerung, der Wald zeigte noch tiefes Zwielicht, wirkte bedrohlich wie der Schlund eines Drachen. »Wo hattest du die Lichtphiole überhaupt her? Du hast uns fast geblendet!« Er sah wieder zurück, wohlwissend, dass er ungerecht war. Doch er wollte gegenüber Jin keine Dankbarkeit zulassen, selbst wenn sie mehr als angebracht war.

Jins Kopf zuckte zurück, er konnte nicht fassen, wie undankbar Xaith war. »Ich habe sie … gekauft.«

Xaith hob eine Augenbraue.

Jin sah auf seine Füße. »Ich… habe sie mir aus Riaths Vorräten… geborgt…«

Zugegeben, Xaith kämpfte mit einem Schmunzeln. Riss sich aber schnell zusammen und wurde wieder ernst. »Du musst nach Hause reisen, Jin. Das ist kein Ort für dich.«

Wie hatte er ohne Waffe überhaupt überlebt?

Beleidigt stemmte der Kaufmannssohn die Hände in die Hüften. »Ich verfolge dich seit Jahren und komme bestens zurecht. Vergiss nicht, wer gerade wem den Arsch gerettet hat!«

Xaith wandte sich grunzend ab, wanderte durch die Hütte und sah in einer Ecke einen Reisesack liegen, der offensichtlich Jin gehörte, denn er war das einzige Objekt, das noch nicht vermodert, überwuchert oder angefressen war.

»Danke«, brachte er zynisch hervor, ohne Jin eines Blickes zu würdigen. Siderius sah hingegen sehr aufmerksam zwischen ihnen hin und her, als säße er zum ersten Mal in einem Theaterstück. »Aber nun trennen sich unsere Wege, und zwar ganz schnell.«

»Was?« Jin wirkte tiefverletzt. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?« Er ging auf Xaith zu, wagte aber nicht noch einmal, ihn zu berühren, da er endlich die Mauer spürte, die nach all den Jahren noch immer unermüdlich zwischen ihnen stand und dort auch immer stehen würde.

Sie waren keine Freunde. Jin würde ihn nicht für sich gewinnen, würde nicht seine Zustimmung und seinen Segen erhalten, damit er mit Vaaks glücklich werden konnte.

Das konnten sie gern allein, ohne seine Vergebung. Er wollte das nicht, er war stur und egoistisch und wollte nicht mit ihnen Hochzeit feiern oder ihnen ewige Liebe wünschen. Das hatte er außerdem in dem Moment getan, als er weggelaufen war.

»Ich habe dich gesucht, Xaith!«, sprach Jin auf ihn ein, wollte ein Gewissen in ihm wachrufen. »Ganz allein. Bin jahrelang wie ein Schatten hinter Riath her, weil ich wusste, dass er nach dir sucht. Ich habe mich über die See, durch Ödnis und Wildnis gekämpft, um dich zu finden und heim zu bringen! Du musst nach Hause kommen, Xaith! Willst du nicht wenigstens … Freust du dich nicht, mich zu sehen?«

Um ihn heimzubringen. Xaith sah ihn ungerührt an und zuckte mit den Achseln. »Freuen? Warum sollte ich mich freuen, ausgerechnet dich zu sehen?«

Nein, tatsächlich hatte sein dummes Herz all die Jahre die Hoffnung gehegt, dass er eines Tages in ein Gasthaus trat und dort mir nichts dir nichts Vaaks vor ihm stand. Groß, gebaut wie ein Schrank, mit mittlerweile vielleicht einem bärigen Vollbart und braunen, liebenden Augen, die ihm ewige Treue schworen und ihn anflehten, zu ihm zurückzukommen.

Träumen darf man ja noch, selbst wenn man es besser wusste.

Stattdessen stand Jin vor ihm, der letzte Mensch, den er sehen wollte. Er war der Grund, warum Vaaks` Herz niemals gänzlich Xaith gehören konnte. Er war der Grund, nicht nach Hause zu gehen.

Nun ja, einer der Gründe.

»Weil… wir uns so lange nicht gesehen haben? Weil ich extra nach dir gesucht habe? Ist dir das egal?«

Wieder zuckte Xaith mit den Achseln. »Nein, nicht egal, es stört mich.«

Jin kämpfte mit seinen Gefühlen, worin er nicht sehr gut schien, denn in seinem Gesicht zuckte und zitterte es wie bei einem Kind, dem gerade das Herz gebrochen wurde.

Sie sahen sich in die Augen, keiner blickte weg. Xaith wollte seine Kälte beweisen, Jin wollte ihn zu einem Gewissen zwingen. Es war ein unerbittlicher Kampf und einer war sturer als der andere.

Er würde kein Mitleid haben. Nein, ganz bestimmt nicht. Vor allem nicht mit Jin, dessen bloße Existenz ihn vor Neid wahnsinnig machte.

»Oooooh!«, ertönte plötzlich Siderius‘ Stimme. Und es gefiel Xaith gar nicht, wie wissend sein Ausruf klang. »Ach er ist das!«

Jin drehte sich um und legte verwundert den Kopf schief.

»Wer ist was?«, schnauzte Xaith, wobei er so ernst wie möglich den Jungen anstarrte, damit dieser bloß nichts Falsches sagte.

Siderius zeigte auf Jin, sprach aber zu Xaith. »Na er ist der, den du liebst. Aus deiner Heimat.«

Jin fuhr wieder zu Xaith herum. Was auch immer sein seltsamer Blick bedeuten sollte, Xaith nahm sich nicht die Zeit, ihn zu deuten.

»Ist er nicht«, sagte er scharf und ging an Jin vorbei, dessen ungläubige Miene ihm folgte.

»Aber…«, Siderius konnte nicht die große Klappe halten, betrachtete Jin verwirrt, »…er sieht aus wie der von den Zeichnungen aus deinem Buch.«

»Tut er nicht.«

»Doch, wie der eine...«

»Klappe!« Xaith legte ihm die Hand über den Mund. »Das ist er nicht«, knurrte er genervt, schob sich auch an Siderius vorbei und schritt auf einen Türrahmen zu, spähte in den anderen Raum, durch dessen Bretterwände noch mehr Licht fiel.

Sie waren hier nicht sicher vor dieser Kreatur, sie würde die Hütte mit einem Schnauben auseinanderreißen. Ein sanfter Schmetterlingsflügel könnte das.

Als er zurückkam, starrte Jin ihn an, als hätte er ihm ewige Liebe geschworen, zutiefst gerührt und gleichzeitig voller Bedauern. »Du hast mich gezeichnet?«

»Nein«, gab er zurück und beugte sich dabei drohend über ihn, bevor er weiter ging und auf Jins Sachen zusteuerte.

Es fehlte ihm gerade noch, dass ein weiterer Schönling dachte, er wäre ihm verfallen. Bei Kacey war er schwach geworden, das gab er zu, aber er hatte genug Männer begehrt, die sich nach anderen sehnten. Jin gehörte gewiss nicht dazu, das hatte er auch nie.

»Doch, hat er«, sagte Siderius. »Häufig sogar.«

»Der Junge hat Wahnvorstellungen.«

»He!«

»Xaith…«

Jins flehender, lieblicher Tonfall wurde von dem grellen Kreischen eines wahrlich wütenden Monsters unterbrochen.

Sie fuhren herum und starrten zur Tür. Offenbar ließ die Wirkung der Lichtexplosion nach und das Biest schüttelte die Verwirrung ab.

Wie aufs Stichwort greinte der Schreihals, als ob er auf den Ruf antworten wollte.

Er machte seinem Vater alle Ehre, brachte Xaith doch immer wieder in richtig beschissene Schwierigkeiten.

Xaith fluchte, er packte Jins Arm und drehte ihn zu sich um. »Gibt es hier irgendwo ein sicheres Versteck? Eine Höhle, ein Felsspalt? Irgendetwas, das nicht brennt?«

Jin blinzelte ihn als, als musste er die Fragen erst einmal im Kopf wiederholten und fachkundig inspizieren, eher er ihre Bedeutung begriff.

»Keller«, spuckte er dann aus, »es gibt einen Keller unter dem Haus.« Er zeigte an Xaith vorbei zu seinem Sack, daneben zeichnete sich auf dem Boden eine Eisenluke ab.

Der Wald krachte, als ob die Kreatur auf dem Boden durch die Bäume brach und direkt auf sie zuhielt.

»Besser als nichts«, beschloss Xaith, schob Jin an sich vorbei und griff dann nach Siderius, der mit dem Kind nur zu gerne auf die Luke zueilte.

Xaith überlegte ernsthaft, ob er sich freiwillig auslieferte, nur um nicht auf unbestimmte Zeit mit Jin in diesem dunklen Keller festzusitzen.

Jin. Warum denn ausgerechnet Jin?

Vermutlich wollte er Vaaks damit beeindrucken, so wie er es sein Leben lang getan hatte. Sicherlich malte er sich bereits aus, wie Vaaks‘ Liebe für ihn überfloss, wenn er ihm den verschollenen Bruder zurückbrächte.

Nein, er hatte wahrlich keinen Funken Freude daran, in dieses Loch zu steigen, aber am Ende tat er es doch, und keinen Augenblick zu früh, denn die Hütte brach über ihnen zusammen und sperrte sie unter polternden Trümmern ein.

»Was für eine Scheiße.« Das letzte Wort gebührte Siderius.

Geliebter Unhold

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