Читать книгу Geliebter Unhold - Billy Remie - Страница 17
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ОглавлениеVaaks war verschwunden.
Es ging Xaith nicht mehr aus dem Kopf, den ganzen Weg zur Siedlung nicht. Eine brüllende Besorgnis setzte sich in seiner Brust fest, andererseits war er nicht sehr überrascht. Vaaks war nie ein Mann der Krone gewesen, hatte sich immer nur danach gesehnt, in den Orden einzutreten oder anderweitig ein Leben als Kämpfer zu führen. Nun, nach dem Tod des Königs und der Auslöschung des Ordens war auch seine Zukunft ungewiss. Vielleicht suchte er lediglich nach sich selbst, vielleicht wollte er Abenteuer erleben, vielleicht floh er genau wie Xaith vor der leeren Festung, wo in jedem Gang zu viele schmerzhafte Erinnerungen lauerten.
Wäre Vaaks tot, beruhigte er sich, würde er es spüren, ganz gewiss, doch sein Echo war deutlicher als das aller anderen, als wollte es ihn zu sich locken. Wie ein ferner Stern am Nachthimmel, den man zwar sehen konnte, aber dennoch nicht wusste, wo er sich genau befand und wie man dorthin gelangte, so verhielt es sich mit dem Echo der göttlichen Magie, die sie beide in sich trugen. Sie verband sie, weil Xaith sie immer suchte. Alle anderen waren ihm gleich, er horchte immer nur auf Vaaks` Echo und bildete sich ein, dass auch Vaaks nur dem seinem lauschte, weshalb sie nur einander hörten und spürten.
Kein Grund zur Sorge, sagte er sich vor, Vaaks ging es gut! Und so groß die Versuchung auch war, ihn suchen zu gehen, Xaith hatte andere Pflichten. Wichtigeres als seine eigene Sehnsucht.
Sie staksten fern der Wege und Pfade durch das dichte Unterholz wie sie es auf ihrer Reise immer taten. Langsam schlugen sie sich durch Hecken und Sträucher, gingen Umwege und redeten Baron gut zu, damit er über Wurzeln sprang. Sie kamen langsam voran, gewiss, aber ihre Verfolger ebenso.
Immer wieder blickte Siderius ihn fragend an, doch Xaith ignorierte ihn und zeigte deutlich, dass ihm an keinem Gespräch gelegen war.
Dennoch platzte der Junge irgendwann und holte auf, um neben ihm her zu stolpern, trotz des Astes, den er als Stock und Stütze benutzte. »Ist dieser Vaaks, von dem er sprach, der, den du meintest, den du liebst?«
Xaith brummte.
»Der, den du oft zusammen mit dem Rothaarigen gezeichnet hast?«
Statt zu antworten, blickte er stur nach vorne und wich den Fragen aus. »Wir müssten bald die ersten Dächer im Dickicht sehen, schau, da vorne ist ein überwucherter Zaun. Der soll wohl ein paar Raubtiere fernhalten. Lächerlich, wenn man bedenkt, dass Jaguare sich einfach von den Bäumen auf ihre Opfer stürzen können.«
Sein Neffe, den er sich selbst umgebunden hatte, erwachte mit einem fröhlichen Quieken und strampelte so kräftig, dass Xaith ihn mit der freien Hand festhalten musste. Mit der anderen führte er Baron am Zügel neben sich her. Der rote Hengst streckte hin und wieder den Kopf und hob die Lippe, als witterte er etwas. Vielleicht frisches Heu oder andere Pferde. Oder er hatte einfach keine Lust mehr darauf, zu laufen, und versuchte, Xaith zu drohen.
Er wettete auf letzteres.
»Also ja«, gab sich Siderius selbst die Antwort.
Genervt schielte Xaith ihn an, hüllte sich aber bezüglich seiner Neugierde noch immer in Schweigen.
»Ich verstehe.« Siderius machte ein einsichtiges Gesicht. »Du liebst diesen Vaaks, aber er liebt diesen Rotschopf. Deshalb bist du von Zuhause abgehauen, man hat dir das Herz gebrochen.« Aber dann schien ihm plötzlich ein weiterer Geistesblitz zu kommen. »Moment!« Er ergriff Xaiths Arm, als müsste er sich festhalten. »Ist Vaaks nicht dein Bruder?«
»Nein, ist er nicht.« Doch, ist er. »Ziehbruder«, lenkte er ein, als Siderius ihn argwöhnend musterte. Seufzend blieb Xaith stehen und wandte sich ihm zu. »Hör gut zu, ich rede nur einmal darüber, danach schweigen wir über dieses Thema, kapiert?«
Der Junge nickte eifrig, voller Begeisterung darüber wieder einmal mehr über Xaith zu erfahren, wobei Xaith sich beim besten Willen einfach nicht erklären konnte, womit er das überschwängliche Interesse dieses Straßenjungen verdient hätte.
»Vaaks ist der leibliche Sohn von Cohen, einem gefallenen Gefährten meines Vaters, und von Sigah, Lady des Schwarzfelsgebirges, er ist der kleine Halbbruder von Marks und dessen Schwester Ilsa. Marks kennst du, er gehört zu Riath.« Xaith hatte ihn erwähnt. »Aber Vaaks wuchs bei uns auf, Vater sah ihn als Sohn, vor allem, nachdem Cohen sein Leben für meinen Vater gab. So kam Vaaks zu uns, er ist auch ein Prinz. Aber er ist nicht mein leiblicher Bruder.« Er wartete, bis Eri verstehend nickte, und als er fortfuhr, musste er den Blick in die Wildnis richten, weil er dem Jungen dabei nicht in die Augen sehen konnte. »Und ja, ich habe sehr früh mein Herz an Vaaks verschenkt, er hatte aber oft nur Augen für Jin. Sie waren beste Freunde oder vielleicht noch mehr. Es gab eine Zeit, als ich mit Vaaks allein war, auf dem Weg zum Portal, als er und ich uns … näher als je zuvor waren. Doch … als wir zurückkamen, als Vater tot war…« Er presste die Lippen zusammen. »Ich war zerstört von Trauer, Vaaks fand Trost bei Jin.« Er sah Siderius an, fest und entschlossen dieses Mal. »Ich liebe ihn, aber ich kann ihm nicht geben, was er will und braucht. Jin ist warmherzig, Jin ist wunderschön, Jin ist ein Mensch. Sie leben beide gleich lang, sie können gemeinsam alt werden. Es ist besser so.«
Siderius verzog bedauernd die zarten, jungen Gesichtszüge. »Warum sagst du das? Was hat das damit zu tun? Ihr habt euch geliebt, was hat eure Abstammung damit zu tun?«
»Dass ich es einfach nicht ertrage, zuzusehen, wie er ohne mich alt wird und Jahrhunderte vor mir stirbt, mich allein lässt, so wie mein Vater es getan hat.«
Da verstand er endlich und wirkte schockiert, untröstlich. Aber wenigstens sprachlos.
»Und nein«, erklärte Xaith endgültig, »sie waren nicht der Grund, weshalb ich von Zuhause wegging. Ich bin gegangen, um einen Weg zu finden, meinen Vater von der anderen Seite zurückzuholen. Nichts anderes hat noch eine Bedeutung ohne ihn, also lass uns weiter gehen!«
Damit wandte er sich ab und schnalzte mit der Zunge, eher er an den Zügel zog und Baron wieder in Gang setzte, der es sich neben ihm schon recht gemütlich gemacht und ein Bein angewinkelt hatte.
Ein paar Schritte noch, dann waren sie da.
»So wie du es schilderst, ist Jin also dein Konkurrent.«
»Ich dachte, wir waren uns einig, das Thema fallen zu lassen.«
Siderius stolperte ihm hinterher. Wer auch immer dem Jungen das Laufen beigebracht hatte, der hatte auf ganzer Linie versagt. »Ich versprach, nicht mehr über Vaaks zu sprechen, von dem Rothaarigem war jedoch keine Rede.«
»Du solltest Politiker werden.«
Siderius ignorierte den Kommentar: »Warum zeichnest du ihn, wenn er dein Feind ist?«
Kinder … sie sahen immer nur in Schwarz und Weiß. Feind? Das war ein hartes Wort, das Xaith tatsächlich nie gegenüber Jin gedacht hatte. Jin und er waren… er wusste nicht, was sie waren. Und genau das war die Wahrheit: sie waren Nichts.
»Er hat ein ästhetisches Gesicht«, gab er knapp zur Antwort, »das sich wunderbar zeichnen lässt.«
Xaith spürte förmlich das tiefe Stirnrunzeln des Jungen, aber immerhin hatte ihn die Grübelei zum Schweigen gebracht. Ein Künstler würde niemals einem Nicht-Künstler erklären können, warum er malte, was er malte – oder was in seinen Gedanken vor sich ging.
»Da vorne ist es«, sagte Xaith, als sie aus dem Dickicht traten und auf eine Straße gelangten, die breit genug für Händlerwagen und große Reisegruppen war. Sie führte in eine kleine Ansammlung eines hufeisenförmigen Gehöfts. »Ortschaft« war dafür die falsche Bezeichnung, selbst ein Weiler war größer. Nein, es handelte sich vielmehr um einen sich selbst versorgenden Gasthof. Große Stallungen für die Pferde der Reisenden, Schankraum, über dessen Tür ein wackelndes Schild hing, auf dem ein schäumender Bierkrug abgebildet war. Zäune, Weiden, Ställe für Vieh, ein Gemüse- und Kräutergarten, Gästehaus, Wohnhaus, zwei Türme aus Holzbrettern, deren Schießscharten mit Luken verdeckt waren. Gewiss unterhielt der Wirt auch eigene Wachen, wobei es sich dabei vermutlich eher um kampfunerprobte Stallknechte handelte, denen man stumpfe Schwerter oder verbeulte Knüppel in die Hand drückte, um das Gemüt angetrunkener Gäste zu beruhigen und die Schankmägde zu schützen, die aber keineswegs eine echte Bedrohung für Marodeure darstellten, die Spaß am Brandschatzen und Vergewaltigen hatten.
Xaith war schon einmal hier gewesen, für eine Nacht, daher wusste er das.
Doch an diesem Tag war etwas anders, das roch und spürte er bereits, bevor sie die Straße entlang auf die Siedlung zugingen.
»Da rauchts«, bemerkte Siderius, dabei hatte er die Stimme gesenkt.
Sie tauschten einen ernsten, stummen Blick.
»Bleib hier«, sagte Xaith und ging weiter.
Er hörte Schritte auf Matsch und sah über die Schulter. Natürlich blieb Siderius nicht stehen, hatte nicht einmal gezögert.
Nun gut, mehr als ihm zu sagen, dass er warten sollte, konnte Xaith nicht tun, er musste es selbst wissen.
Über dem Eingang prangte ein großes Holzschild, auf dem der Name des Gasthofes eingeritzt war. Er stand dort in der Sprache der Elkanasai und in der Gemeinsprache. »Der rauchende Drache.«
Was für eine Ironie. Oder nein, das war keine Ironie mehr, sondern bittere Grausamkeit.
Rauch war das Stichwort, denn er stieg in unscheinbaren Säulen von den Viehstallungen und dem Gästehaus auf, wie von Glut und nicht mehr von züngelnden Flammen. Es war still, zu still, nicht einmal ein Tier war zu hören.
Weil sie alle tot waren.
Er wusste es, bevor er es sah, genauso wie Siderius es wusste, der ihm zögerlich folgte und doch nicht mit sicherem Abstand warten wollte. Es stank nach Tod, Unrat, verbranntem Holz, Stroh, Fell und Fleisch, ebenso nach angesengtem Haar. Ein beißender Geruch, der ihnen die Tränen in die Augen trieb, wie purer Pfeffer. Wobei er den Pfeffer bevorzugt hätte.
Der erste Tote lag bereits um die Ecke, als sie den Hof betraten, und er sollte nicht der einzige sein. Ein junger Elkanasai, mit dem Gesicht voran im Dreck, die Waffe – ein Hufkratzer – noch in der Hand.
Ein Stallknecht.
Weitere Leichen lagen verstreut umher, verkrampft oder ausgestreckt. Sie waren noch nicht steif, das Blut auf dem Boden noch nicht getrocknet.
Es sah nach einem Kampf aus, bei dem sich jeder gewehrt hatte, der Schweinestall war niedergebrannt, davor war die Schlachtbank blutig, Schweinsköpfe und Hufe lagen umher.
»Räuber?«, fragte Siderius mit dünner, angeekelter Stimme.
»Möglich.« Xaith ging weiter. Die Türen der Gebäude standen offen, einige Blutlachen zogen Schleifspuren vom Hof zum Zaun und verschwanden im Wald.
Raubtiere, die nicht nur das Vieh gestohlen hatten, auch lecker duftende Leichen. Ein Festmahl für alle Bewohner des Urwaldes, die Reißzähne besaßen.
Das Blut war alt und der Leichengeruch überdeckte den Duft der roten Flüssigkeit so gut, dass Xaith nicht in Versuchung kam. Blut schmeckte ohnehin nur gut, wenn es aus einem lebendigen Körper kam, von einem schlagendem Herzen.
»Oder… «, Siderius stellte sich schluckend über eine ermordete Elkanasai, die schon so alt gewesen war, dass ihr einst schwarzes, geflochtenes Haar schneeweiß schimmerte und ihre spitzen Ohren viele Kerben aufwiesen, dennoch hatte sie gekämpft, der blutige Dolch in ihrer Hand bewies es. »Waren es die Getreuen deines Bruders?«
Xaith schüttelte langsam den Kopf, auch er stand über einem reglosen Körper. Er erkannte ihn, den älteren Elkanasai, der Wirt, der hier mit seiner Familie und seinen Schwiegersöhnen und Töchtern eine Zuflucht für Reisende unterhalten hatte.
»Riath schlachtet keine Unschuldigen ab.« Nicht ohne erheblichen Grund.
Siderius sah Xaith zweifelnd an. »Aber er will dich aufhalten, dich in die Knie zwingen. Vielleicht wollte er hier alles niederbrennen, damit wir unsere Vorräte nicht auffüllen können.«
»Das waren nicht Riaths Leute.« Xaith ging in die Hocke, ließ Barons Zügel länger, und ergriff die Schulter des Wirts, um ihn auf den Rücken zu drehen. Das schwarze Haar klebte in seinem schmutzigen, zerschlagenen Gesicht. Die Angreifer hatten ihren Spaß mit ihm gehabt, ihn fast bis zur Unkenntlichkeit verprügelt.
Das Schlimmste an dem Anblick des abgeschlachteten Gasthofes war jedoch nicht die Grausamkeit, mit der jedes Leben hier einfach ausgelöscht worden war, sondern dass Xaith bei diesem Anblick nichts fühlte. Kein Bedauern, keine Empörung, keinen Ekel. Vielleicht ein wenig Mitleid, aber das brachte den Opfern weder Gerechtigkeit, noch schenkte es ihnen Trost. Und… nun ja, wer so fern jeglicher Städte und deren Schutz lebte und auf Besuch von Fremden angewiesen war, musste wohl mit Marodeuren rechnen.
War er wirklich schon so kalt?
Ein Schatten fiel auf die offenen, starren Augen des Wirts, als Siderius neben ihn trat und hörbar schluckte.
»Wieso klingst du so überzeugt?«, fragte der Junge unsicher.
»Hier.« Xaith ergriff das dicke Stück Holz, das aus dem einfachen Wams des Wirts ragte, und riss es mit einem Ruck heraus. Der Körper bäumte sich kurz auf, aber nur durch die Gewalt, mit der er von dem tödlichen Werkzeug befreit wurde. »Ein Armbrustbolzen. Ich habe seine Spitze aus dem Rücken ragen gesehen.«
Er hielt den Bolzen, an dem das Blut frisch schimmerte, in die Sonne und Siderius unter die Nase.
Der Junge sah bleich aus und er drehte sich weg, als sei ihm übel. »Barbaren«, hauchte er dann verstehend.
Xaith nickte und sah sich um. »Carapuhrianer.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Aber wieso? Was wollten sie hier? Banditen? Deserteure? Carapuhr und Elkanasai sind doch verbrüdert, oder bedeutet ein Friedensbündnis auf dieser Seite der Welt etwas anderes als bei uns?«
»Nein.« Xaith warf den Bolzen auf die Brust des toten Wirts, seine Lippen waren ein dünner, grimmiger Strich. »Sie sind hier, weil sie nach etwas suchen, und Barbaren sind nun mal … barbarisch. Wobei du deine nächste Frage vermutlich schon selbst beantwortet hast.«
Er sah zu Siderius auf, der fragend den Kopf schief legte. Unter seiner Fischermütze schwitzte er, seine grünen Augen leuchteten in der Sonne wie zwei Tümpel.
»Sie sind hier, weil sie mich suchen. Jedenfalls gehen sie davon aus, dass wir zum nächsten Hafen wollen, womit sie recht haben.« Er verengte die Augen und überblickte den blutgetränkten Innenhof. Bald würde es hier nur so von Aasfressern wimmeln. »Ich möchte wetten, sie haben im näheren Umkreis alle Gaststätten geplündert, um uns aufzuhalten. Oder sie lauern uns dort auf.«
Siderius kratzte sich unter der Mütze, er wirkte ratlos. »Du meinst, um dich aufzuhalten?«
Er bezweifelte, dass Melecay wusste, oder dass es ihn überhaupt interessierte, was er vorhatte. Nein, es ging ihm nicht darum, ihn von irgendeinem Plan abzuhalten, er verfolgte lediglich seinen eigenen.
»Weil Melecay mich gegen Riath einsetzen will«, erklärte Xaith und streckte die Hand nach dem Wirt auf, legte sie ihm auf die Brust und konzentrierte seine Macht auf seine Fingerspitzen. »Er will mich in seine Gewalt bringen, um Riath anzulocken – um uns dann beide zu töten.«
Mit ausgestoßenen Atem setzte er den Leichnam in Brand und zog dann die Hand zurück, er stand auf. Sie traten zurück und sahen zu, wie der Körper in Windeseile von den magischen Flammen restlos verbrannt wurde. Das war alles, war er hier noch tun konnte.
Säuberung und Sorge dafür tragen, dass diese Unschuldigen wenigstens zu Asche wurden, die der Wind wegtrug, statt Raubtierfutter zu werden.
»Der Großkönig ist clever, er weiß, wie er Riaths Schwächen ausnutzen…« Xaith brach mitten im Satz ab und runzelte die Stirn. Nur ein nachdenkliches, ärgerliches »Hmmm«, entkam ihm, er kaute auf der Unterlippe.
Siderius sah ihn von der Seite an. »Wenn sie den Händler finden, könnten sie ihn auch gegen dich verwenden, habe ich Recht?«
Unheimlich dieser Straßenjunge, seit wann konnte er Gedanken lesen?
»Ist mir egal, er bedeutet mir nichts.«
Aber er bedeutet Vaaks etwas, und auch wenn dieser verschwunden war, wusste er so sicher wie er wusste, dass hier Barbaren am Werk waren, dass Vaaks es weder sich noch ihm verzeihen würde, wenn Jin etwas zustieß, während er ihm ungefragt nachreiste.
Fluchend griff Xaith nach den Stoffbahnen, mit denen er sich das Kind umgebunden hatte. Sein Neffe zog protestierend die Fänge aus seiner Brust und hinterließ einen kreisrunden, leuchtend roten Zahnabdruck in der Mitte seiner Brust. »Bleib hier. Und diesmal meine ich es ernst!«, wies er Siderius an, als er ihm das Kind in die Arme drückte und losließ, sodass der Junge schnell zugreifen musste, damit das Bündel nicht zu Boden fiel. »Versteckt euch, bis ich zurück bin.«
Er machte sich keine Sorgen um die Jungen oder um Baron, sie wussten was zu tun war, wenn er sie allein ließ, hundertfach hatte er Siderius auf diese Situationen vorbereitet und dieser hatte bewiesen, dass er imstande war, sich zu verstecken.
Nein, seine Sorge galt allein einem närrischen Kauffmanns Sohn.
*~*~*
Er hatte nicht den Wunsch verspürt, an jenem Tag noch weit zu reisen. Der Mut war ihm entflohen und nur matte Trostlosigkeit war zurückgeblieben. Schließlich hatte er das schwere Reisebündel von seiner Schulter gleiten lassen und in der Nähe der Quelle ein winziges Lager aufgeschlagen.
Als Kaufmann war er zwar kein Kämpfer, kein Krieger, aber sein Vater und er hatten immer gewusst, wie man ohne Dach über dem Kopf überlebte, man musste nur gut vorbereitet sein. Jin war kein Jäger, doch er hatte genügend Vorräte dabei, Wegzehrung, die er sich gewissenhaft einteilte. Sauberes Wasser, es war sogar noch ein Schlauch Wein da, gepökeltes Fleisch, hartes, aber haltbares Brot, stinkender Käse und ein paar Früchte, die er kannte und aufgesammelt hatte.
Er hatte jedoch keinen Appetit, und das kleine Lagerfeuer entzündete er nur, um etwas zu tun zu haben, er hatte eine Fackel danebengelegt. Tatsächlich war Feuer sehr erfolgreich, um einige Raubtiere zu vertreiben, erfolgreicher als eine blank gezogene Klinge, denn Tiere wichen instinktiv vor den heißen, zuckenden Flammen zurück.
Einzig und allein fürchtete er sich vor Schlangen und Insekten, die giftig waren und unheimlich gerne nachts in die Decken krochen. Es war nicht ratsam, auf dem Boden zu schlafen, wenn man ein einfacher Mensch war, weshalb Jin stets eine kleine, aber nützliche Hängematte bei sich trug. Sie war aus robustem Bullenleder, starken Seilen und diente tagsüber als Schutz seines Reisebündels, am Abend rollte er sie auseinander und spannte sie zwischen zwei eng stehenden Bäumen.
Es war ein kleiner Aufwand, aber bisher hatte ihn keine giftige Schlange gebissen.
Was Räuberbanden betraf, so gab es für ihn nur zwei Möglichkeiten, entweder er rannte weg oder er gab ihnen alles, was wertvoll war. Am klügsten war es, nicht bewaffnet zu sein, das lockte sie zwar an, aber es reizte sie nicht, zu Mördern zu werden. Vielleicht hatten sie auch Mitleid.
Jedenfalls war nicht jeder Räuber auch gleich ein Mörder, meistens begnügten sie sich damit, einsame Reisende zu bedrohen, bis sie ein oder zwei wertvolle Güter oder einen Beutel Silber ergattern konnten, dann machten sie sich schnell vom Acker, um nicht erwischt oder eingeholt zu werden. Tatsache war, Diebe wurden nicht so vehement verfolgt wie Mörder, das wusste auch jeder Bandit. Jin konnte wohl von Glück sprechen, denn als Nicht-Magier hatte er in Nohva keine unangenehmen Begegnungen gehabt, auch in Elkanasai waren ihm bisher vergleichsweise friedliche Räuber begegnet, meistens jedoch gelang es ihm, ihnen auszuweichen und sich still zu verhalten, nicht entdeckt zu werden.
Die meisten Räuber lauerten an Straßen zwischen den Städten, wo sie am besten Reisende in einen Hinterhalt laufen lassen konnten. Selten schlichen sie an abgelegenen Orten entlang, es sei denn, sie verfolgten jemanden geduldig.
Jedenfalls hatte Jin ein Bündel voller teurer Schmuckstücke dabei, die er selbst herstellte und verkaufte, und einige von ihnen hatte er Räubern im Tausch angeboten, damit sie ihn ziehen ließen und er es als Geschäft betrachtete.
Also kam er bestens allein zurecht, er fürchtete sich nicht.
Dennoch hatte er weder Hunger noch den Wunsch, zu reisen. Er wollte nicht zurück, nicht allein. Jahrelang hatte er ein Ziel verfolgt, es immer vor Augen gehabt. Es hatte ihn angetrieben, Xaith einzuholen, ihn zu finden. Und jetzt fühlte es sich an, als hätte er an Lebenssinn verloren.
Was sollte er bloß tun?
Es gab kein Zuhause mehr, zumindest keines, in das er gern zurückkehren würde, und das hatte nicht einmal etwas mit der Tatsache zu tun, dass man seinen Vater ermordet hatte.
Das Schlimme war, er konnte Xaith gut verstehen, und doch wollte er ihn nach Hause bringen, hoffend, dass er alles richten könnte, dass es wieder ein Zuhause wäre, wenn sie gemeinsam Heim gingen.
So gesehen verfolgten Xaith und er die gleichen Absichten, hielten an dem gleichen Hirngespinst fest, denn Xaiths Rückkehr würde vermutlich genauso wenig etwas verbessern oder ändern, wie ein wiedererweckter König. Wobei Jin ohnehin der festen Überzeugung war, dass es schlicht nicht möglich wäre, nicht so, wie Xaith es sich wünschte.
Riath war losgezogen, um Xaith mit Gewalt heim zu schleifen. Jin wollte und hatte das nicht zulassen können, er hatte Xaith schon gesucht, als dieser nur seit zwei Herzschlägen als »vermisst« galt. Wobei König Wexmell darauf bestand, ihn seines Weges gehen zu lassen.
Und Vaaks… oh Vaaks. Sein Verhalten, bevor er verschwand, hatte Jin so sehr enttäuscht. Und nun bereute er die vielen Streitigkeiten und harschen Worte zwischen ihnen, fühlte sich schuldig, da Vaaks spurlos verschwollen schien, nachdem Riath mit ihm auf die Jagd gegangen war.
Irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas war passiert, und Jin wollte fest daran glauben, dass Xaiths Liebe und Besessenheit von Vaaks helfen würde, ihn zu finden. Oder zumindest aufzudecken, was dort im Wald wirklich geschehen war.
Riath kam allein zurück, blutüberströmt, so erzählte man später. »Ein Puma in den Bergen. Vaaks viel mit dem Raubtier verkeilt in eine Schlucht, ich suchte ihn flussabwärts, aber ich fand nichts mehr von ihm. Wenn er lebt, kommt er heim.«
Wexmell hatte nach ihm suchen lassen, die Schwarzfelsburg hatte nach ihm suchen lassen, Jin selbst hatte mit dem Ersparten seines Vaters Söldner angeheuert und nach ihm suchen lassen. Doch sie fanden nur seltsame Spuren einer Bestie, die einen Puma um eine Mannslänge überragte. Oder sogar mehr. Tiefe Kratzer im Baum, angegriffene Jäger, getötete Reisende, ein ganzer Weiler wurde evakuiert. Keine Spur von Vaaks und dem, was ihn angegriffen hatte.
Jin traute es Riath zu, dass er all das nur inszeniert hatte, auch wenn der Aufwand enorm schien. Doch, er traute es ihm zu. Denn seltsam war auch, dass seitdem hunderte Jäger – vor allem Trophäenjäger – nach dem mysteriösen Biest suchten, aber es nicht finden konnten.
Jin saß lange am Feuer, bis es fast niedergebrannt war, und grübelte über die Vergangenheit und über die Frage, wohin er jetzt gehen sollte. Wobei sein Herz nicht imstande war, loszulassen. Tatsächlich trieb ihn nur eine Überlegung um: wann und mit wie viel Abstand sollte er wieder beginnen, Xaith zu verfolgen? Denn wenn dieser endlich begriff, dass sein Vorhaben zum Scheitern verurteilt war, würde er ganz gewiss jemanden brauchen, der ihn auffing. Und vielleicht würde er ja dann endlich loslassen und anfangen können, seinen Verlust zu betrauern und zu verarbeiten.
Vielleicht konnten sie es gemeinsam.
Der knackende Ast verriet denjenigen, der sich an ihn heranschlich. Unmittelbar hinter seinem Rücken ertönte das kurze, aber überlaute Geräusch in der von Vogelgesang erfüllten Wildnis.
Jin lächelte gerührt, er hatte fast nicht mehr damit gerechnet, dass sie zurückkommen würden. »Xaith, ich…« Als er sich umdrehte, brach er sofort ab.
Es war nicht Xaith. Und der massive, wenn auch schmucklose Schwertknauf traf ihn unvorbereitet an der Schläfe, sodass er gar nicht mehr spürte, wie er auf dem Boden aufprallte und sich die Schulter ausrenkte. Es war Segen und Fluch zu gleich.