Читать книгу Geliebter Unhold - Billy Remie - Страница 9

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»Urgh… ich glaub, er hat schon wieder gekackt.«

»Jetzt schieb es nicht auf den Schreihals.«

»He! Ich war das nicht!«, empörte sich Siderius, während er unbeholfen hinter Xaith über Wurzeln und Felsen durch die unwirtliche Wildnis stolperte. Er hatte Mühen, mit ihm mitzuhalten, dabei liefen sie in einem gemäßigten Schritt, immerhin war Xaith selbst noch geschwächt. Doch seinen Begleiter fehlten motorische Fähigkeiten und er litt offensichtlich unter einer Gleichgewichtsstörung, denn anders konnte er sich wirklich nicht erklären, warum der Junge bei jedem dritten Schritt stolperte oder taumelte.

Wie band er sich morgens eigentlich allein die Schuhe zu?

Kinder waren so anstrengend. Und doch zog er sie irgendwie magisch an, er hatte bereits zwei davon an der Backe, und einen davon ganz ungewollt. Nun ja, den Schreihals hatte er sich natürlich selbst zuzuschreiben, er hätte den Bengel ja auch in der Mutter sterben lassen können, aber er brauchte ihn für zweierlei Dinge. Und auch wenn er es nur widerwillig zugeben wollte, selbst wenn er ihn nicht bräuchte, hätte er ihn wohl kaum einfach im Leib der toten Mutter sterben lassen können, denn der Bengel war am Ende ja doch sein Neffe – und trug von allen am wenigsten Schuld an irgendetwas.

Ebenso sein Zwilling, den Xaith in der Hoffnung bei Desith und Vynsu gelassen hatte, dass er eine sichere Kindheit bekommen würde. Vielleicht sogar ein sicheres Leben, wenn Desith sich ein Herz fasste und niemals jemanden verriet, wessen Kind er Unterschlupf gewährte. Wenn Desith… in der Lage war, den Hass auf Riath nicht auf dessen Sohn zu übertragen. Doch Xaith war zuversichtlich, denn die Mutter der Kinder war Desith Schwester gewesen, so waren sie auch Desiths Neffen.

Lohna – Desiths Zwillingsschwester – hatte ihn gebeten, als er ihr half, in das Geburtenhaus in Carapuhr zu flüchten: »Bring die Kinder zu Desith, wenn ich die Geburt nicht überlebe. Bring sie zu ihm, ich weiß, er wird sie lieben, weil sie ein Teil von mir sind. Nur er wird sie beschützen.« Sie hatte gewusst, dass sie sterben würde, Vynsus Kinder Aegir und Heda hätten ihr bei der Niederkunft schon beinahe das Leben gekostet, doch Riath hatte ihr kein einzelnes Kind gemacht, sondern Drillinge. Xaith hatte zwei retten können, doch Riath wusste nur von einem. Und er wollte, dass es so blieb.

Xaith konnte Lohnas Bitte am Ende nur zum Teil erfüllen, doch er hoffte, dass sie Desiths Wut auf Riath nicht unterschätzt hatte.

»Können wir anhalten und ihn frisch machen?« Siderius klang nasal, als ob er krampfhaft versuchte, nicht durch die Nase einzuatmen. »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«

Xaith verdrehte die Augen. »Ein Stück weiter noch, ich höre in der Nähe ein leises Plätschern«, beschloss er und führte Baron – seinen ruhigen Fuchshengst – weiter den steinigen Trampelpfad entlang. Über den Baumkronen hörte er das dunkle, kratzige Schreien seiner Raben, die seinen Willen spürten und abbogen, um ihm die Richtung zum Bach zu weisen. Die schwüle Luft schmeckte bereits nach klarem Wasser.

Siderius blieb einen Moment hinter ihm stehen und legte den Kopf schief, um zu lauschen. Sein junges Gesicht war dabei zu einem »Hä« verzogen, und er lief verwirrt weiter. »Wie kannst du das hören? Ich höre gar nichts.«

»Weil du dich nicht anstrengst.« Xaith suchte den von Baumkronen verdeckten Himmel ab und konnte durch die raschelnden Blätter Petalits weißes und Gagats schwarzes Federkleid entdecken.

»Ich strenge mich an!« Siderius stolperte zu ihm auf, beide Arme um das stinkende Bündel geschlungen, das er mit einem Tuch eng an seine Brust gebunden hatte.

Sie wechselten sich mit dem Tragen des Bengels natürlich ab. Irgendwann zumindest. Wenn und falls ihm danach war. Vielleicht. Gegen Abend.

Möglicherweise.

»Du könntest den Kleinen auch mal nehmen«, beschwerte sich der Junge, als hätte er seine Gedanken erraten, und keuchte vor Anstrengung, als Xaith ihn und das Pferd durch die Bäume führte.

»Nein, ich bin noch zu geschwächt von den magischen Anstrengung der letzten Wochen«, gab er trocken und unverfroren zurück.

Er konnte förmlich den angepissten Blick des Jungen im Nacken spüren. »Ich habe gesehen, wie du zig Portale geöffnet und dich danach noch in einen Schwarm Motten verwandelt hast!«

»Lerne, die Erwachsenen zu ehren.«

»Was?«, bellte der Junge verständnislos.

Xaith verdrehte die Augen und brummte entnervt, dann versuchte er, sich so auszudrückte, dass selbst ein Dummkopf ihn verstehen konnte: »Ich bin älter, also bist du am Arsch.«

Endlich hielt Siderius die Klappe, mahlte grimmig mit den Kiefern, aber er hielt die Klappe, und süße, wundervolle Ruhe drang in Xaiths Ohren. Nun ja, von diesen lauten Brüllaffen, den schnatternden Papageien und Siderius` lautem Schnaufen abgesehen.

Aber immerhin wurde das Plätschern lauter und endlich schimmerte ein kristallblauer Bach durch das dichte Unterholz hervor. Petalit und Gagat saßen auf einem Felsen im fließendem Wasser und putzten sich gegenseitig das schimmernde Federkleid.

Die Wahrheit, die er seinem Begleiter nicht unter die Nase reiben wollte, war, dass er sich wirklich geschwächt fühlte und sich schonen musste, denn bald würden sie die letzte Etappe erreichen. Was bedeutete, dass sie eigentlich dorthin zurückgingen, wo alles angefangen hatte, um es zu vollenden.

Doch er wusste gar nicht, ob das, was er sich vorgenommen hatte, am Ende auch Früchte trug.

Er wusste es einfach nicht – und wollte nicht darüber nachdenken, was geschah, sollte er scheitern.

Oder sollte er Erfolg haben.

*~*~*

Sie schöpften etwas Wasser und lösten den kleinen, gusseisernen Topf, der während ihrer Reise an Barons Flanke am Sattel befestigt war, um es über einem kleinen Feuer abzukochen. Zwar wirkte der Bach klar und sauber, aber er wollte sicher gehen, denn er säuberte damit den Arsch des Neugeborenen.

Die Rast dauerte etwas länger. Xaith säuberte den Bengel und wickelte ihn neu, wusch die Tücher aus, während Siderius sich auf einen vom Wasserstrom glattgeschliffenen Felsen gesetzt und die Stiefel ausgezogen hatte, um seine Blasen zu versorgen.

»Komm.« Xaith ging vor ihm in die Hocke, gab sich genervt, als er nach den dünnen Fesseln griff und sich die Blasen ansah.

Der Junge zischte und zuckte zusammen, als ob Xaith ihm die Klinge eines Breitschwertes aus der Brust zog, dabei stach er nur die vollgefüllten Blasen auf und ließ das Wasser ab.

»So ist es besser«, sagte er und hielt seine Hand über das offene Gewebe an den Sohlen, sammelte etwas Energie aus dem Boden, auf dem er kniete, und sandte heilende Ströme in die Wunden, um sie verschorfen zu lassen. »Das muss reichen.«

Siderius beobachtete ihn mit unergründlicher, stummer Miene, wirkte plötzlich äußerst zurückhaltend, gar schüchtern.

»Ich dachte«, sagte er zögerlich, »du musst deine Kräfte sammeln.«

Xaith atmete mit einem Stoß aus und erhob sich. »Kannst du nicht einfach Danke sagen?«

»Nein«, gab der Junge trocken zurück, zuckte mit den Schultern, als Xaith ihn mit verengten Augen ansah. Ohne eine Miene zu verziehen, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Du hast mich lieb.«

Xaith drehte sich grunzend um und klopfte die Hände aneinander ab. Er blickte zum Himmel hinauf, Hochnebel zog sich um sie herum zu und verdeckte die Sonne, ein paar Vogelsilhouetten zeichneten sich im Dunst vor dem warmen, glühenden Ball des Himmelskörpers ab.

Er könnte behaupten, dass er Siderius nur geholfen hatte, weil es ihn nervte und aufhielt, dass er wegen der Blasen nicht schritthalten konnte, aber tatsächlich war es für ihn unerträglich, mitansehen zu müssen, wie er gelitten hatte. Diese großen, traurigen, dunkelgrünen Augen machten etwas mit ihm, etwas Unerklärliches, das ihn … berührte.

Er verzog das Gesicht, er mochte diese Gefühle nicht, obwohl sie ihn sein Leben lang begleiteten. Liebe, Zuneigung… schlicht die Fähigkeit, andere zu mögen, hatten ihm immer nur Kummer bereitet. Vaaks, Riath … Kacey. Die Liebe zu seinem Vater. Es tat weh, immer wieder, er wollte dieses zerreißende Gefühl nicht mehr fühlen, denn es wäre doch so viel einfacher, wäre ihm niemand wichtig.

Doch dem war nicht so, er konnte nicht ändern, wie sein Herz zu fühlen gedachte, sich nicht vor sich selbst verschließen. Wäre dem so, wäre er gar nicht erst auf dieser Mission.

Er konnte regelrecht das wissende Schmunzeln im Nacken spüren und hatte nicht übel Lust, den Kleinen ins Wasser zu schubsen. Aber die Aussicht darauf, sich die darauffolgenden Klagen darüber anzuhören, dass seine Kleider wegen der schwülen Hitze nicht trockneten und scheuerten war weniger erheiternd. Also ging er hinüber zu dem Bengel, der nach seiner Blutmahlzeit satt in seinen Decken am Ufer lag und den Schlaf der Gerechten schlief.

Xaith band sich seinen Neffen selbst um, schwer hing der kleine Klobs an seiner Brust, die warme Wange an den Streifen glatter Haut geschmiegt, der durch Xaith schwarzes, offenes Hemd hervorlugte. Das Neugeborene sabberte, Xaith glaubte bereits, winzige, nadelartige Fänge zu spüren. Er umhüllte das Kind mit seiner Aura und speiste dessen mit seiner Kraft, ließ sie kontrolliert in den winzigen Leib fahren, wie ein warmer Sonnenstrahl in die Poren der Haut, damit er wuchs und schneller alterte als je ein Kind zuvor.

Dies war die eine Sache, weshalb er das Kind brauchte, es war sein Versuch, ob es möglich war, ein Kind schneller heranwachsen zu lassen, als die Natur es vorgesehen hatte.

Er musste Erfahrungen sammeln, experimentieren. Damit er sie zu gegebener Zeit weitergeben konnte.

Sie machten sich wieder auf den Weg, Gagat und Petalit wiesen ihnen die Richtung, Baron trug ihre Lasten, die Wildnis bot ihnen Schutz.

Doch sie mussten sich sputen, denn er wusste, das Riath keinen Sichtkontakt brauchte, um ihn aufzuspüren. Und noch war nicht der richtige Moment und auch nicht der passende Ort erreicht, um sich mit Riath zu treffen.

Noch nicht, Bruder, aber bald.

Versprochen.

*~*~*

Kacey hatte eine grauenvolle Nacht verbracht, von Schmerzen gefoltert, gegen seine eigene Angst kämpfend, zitternd, panisch, erschöpft und kurz davor, einfach aufzugeben, hatte sich gegen die Magie aufgelehnt, die sich brennend wie Lava durch seine Venen gefressen hatte und hatte sie mit aller Macht zurückgedrängt, was ein weiteres verbrennendes Gefühl nach sich gezogen hatte. Übelkeit, Kopfschmerzen, Durchfall und Atemnot.

Auf die Qual folgte der schönste Morgen seines Lebens, denn als er die Augen blinzelnd öffnete – wobei er sich nicht erinnerte, wann er eingeschlafen war – leuchtete die Morgensonne sanft in sein Zimmer. Das Fenster stand auf, Nebel hatte sich gebildet, doch hinter ihm schien die rote Dämmerung hindurch. Es sah aus wie ein Bild, getünchte, zärtliche Farben. Weiße Häuser vor einem waldigen Hintergrund. Der Duft sich öffnender Blumen drang in seine Nase, wirkte beruhigend, ebenso der Gesang der Vögel. Es war ein unheimlich friedlicher Morgen, für den Kacey dankbar war.

Auf großes Leid folgte tiefe Ruhe, denn vor wenigen Stunden hatte er nicht ansatzweise so sehr wertschätzen können, sich gut zu fühlen.

Er hätte nicht erwartet, die Sonne noch einmal zu sehen.

Kacey fühlte sich schwach, seine Gliedmaßen zitterten als hätte er sie tagelang überanstrengt, in seinem Kopf herrschte ein dumpfer Druck, aber es ging ihm gut. Obgleich er deutlich in sich horchte und jedes Zwicken in seinen Muskeln ihn in Angst versetzte, doch seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Er setzte sich im Bett auf und die Schmerzen blieben fern.

Getrocknetes Blut spannte auf seinen Wangen, er kratzte sich im Gesicht, während er die Beine über die Bettkante streckte und vorsichtig die Füße auf den Boden stellte.

Just in diesem Augenblick hämmerte es energisch an der Tür und er erschrak.

»Mein Prinz?« Es war Ardor, und er klang besorgt. »Geht es Euch gut? Es ist fast Mittag, wir haben noch nichts von Euch gehört.«

Mittag. Doch kein so friedlicher Morgen, eher ein idyllischer Tag.

»Mein Prinz? …. Kacey?« Ardor klopfte erneut. »Ich werde diese Tür eintreten, wenn Ihr nichts sagt.«

Kacey musste schmunzeln und spürte für den großen, stillen Krieger eine unheimlich tiefe Wärme. »Mir geht es gut, Ardor«, sagte er und erschrak ob seiner dünnen Stimme. »Ich bin jetzt wach.«

Es blieb still, doch er hörte keine Schritte.

Die Augen verdrehend, jedoch schmunzelnd zog er sich am Baldachin hoch, sodass seine hochgerutschte Robe herabfiel und sich um seine Fesseln schmiegte. Seine Knie waren noch zittrig und er schlurfte vorsichtig durch den Raum zur Tür. Kaum hatte er sie aufgeschlossen, wurde sie auch schon aufgerissen und sein Leibwächter stürmte an ihm vorbei in den Raum, die Hand auf dem Schwert und zugekniffene Augen, bereit, sich auf jeden Eindringling zu stürzen.

Dann stockte er, als er den Raum erblickte, richtete das breite Kreuz etwas auf, wobei sein Brustpanzer leise klimperte, und ließ die Augen über die Einrichtung wandern. »Bei den Göttern«, raunte der Elkanasai mit dem volkstypischen dunklem Haar und langen, spitzen Ohren, »was ist hier geschehen?« Er wandte sich zu Kacey um und weitete die Augen, als er ihm ins Gesicht sah.

Kacey hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«

Aber das beruhigte seinen Leibwächter keineswegs, und er konnte es ihm auch nicht verübeln. Der Raum war verwüstet, obwohl Kacey sich nicht erinnern konnte, wie und warum es geschehen war. Bücher, Vasen, Blumen und loses Papier lagen am Boden, die Fenster standen alle offen, als ob eine Druckwelle sie aus den Rahmen gedrückt hätte. Das Bett war zerwühlt, die Kissen zerbissen, sodass alles von weißen Federn bedeckt war, als hätte es in seinem Schlafgemach geschneit. Und er selbst gab gewiss auch einen schaurigen Anblick ab.

Alles nicht so schlimm. Ja klar…, das hätte er sich nicht einmal selbst abgekauft.

»Ihr blutet.« Ardor bemühte sich sichtlich darum, die Fassung zu bewahren, wofür Kacey ihm sehr dankbar war.

Nickend schwankte er an seinem Leibwächter vorbei, zurück zum Bett, wo er sich erschöpft auf die Kante fallen ließ.

»Mein Prinz…« Der Leibwächter machte einen mutigen Schritt auf ihn zu, blieb dann aber stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Noch nie war er Kacey zu nahegekommen, wenn nicht ausdrücklich erwünscht.

Kacey rieb sich die Stirn und versuchte, die Erschöpfung abzustreifen. »Ein… kleiner …Anfall«, versuchte er, es zu beschreiben.

»Anfall?«, echote der Krieger irritiert.

Kacey hob den Blick, sie sahen sich an, als sprächen sie beide eine andere Sprachen.

Niemand durfte je erfahren, dass seine Magie die Kontrolle hatte übernehmen wollen. Niemals. Es gehörte zu den Grundkursen, die ein Student bereits im ersten Lehrjahr absolvierte. Die Kontrolle über die eigenen Fähigkeiten. Ein Magier beherrschte seine Magie stets, er wurde nicht von ihr beherrscht. Eigentlich eine leichte Übung, vor allem wenn man mit Magie geboren wurde, wenn man innerlich im Reinen war und wenn man seine eigenen Gefühle kannte und einschätzen konnte. Denn Magie war Gefühl, Magie war an die Launen jedes einzelnen gebunden. Deshalb war Kontrolle wichtig, sie war das oberste Gebot. Wie Atmen um zu Leben.

Und er hatte niemals Probleme damit gehabt, bis zum gestrigen Abend.

Niemand durfte je davon wissen, sonst würden sie ihm seines neuen Amtes entheben, ihn nicht mehr lehren lassen, aber gerade jetzt brauchten die Magier ihn. Er musste stark sein.

Ardor stand mit ratloser Miene vor ihm, den Mund halb geöffnet, und wartete auf eine weitere Erklärung.

Er war sein Leibwächter, dachte Kacey, als er ihn betrachtete. Sein engster Vertrauter, sein Freund, er würde sein Geheimnis immer wahren, seine Treue galt nur ihm. Ihm allein. Er könnte mit ihm diese Bürde tragen.

Doch würde er es als Nicht-Magier verstehen? Oder würde er wie alle anderen Angst bekommen?

Niemand außer denen, die dabei gewesen waren, wussten von der fremden Macht, die er zusätzlich in sich trug und bändigen musste. Sollte er Ardor etwa auch davon erzählen?

»Diese verdammten Politiker«, er zwang sich zu einem Auflachen und machte eine wegwerfende Geste mit der schmalen Hand, an der noch Blut klebte.

Ardor runzelte die Stirn.

»Sie haben mich so aufgeregt«, fuhr Kacey fort und lachte unsicher auf. Er musste seine Verlegenheit nicht vortäuschen, es war echt, als er sich peinlich berührt über die Wangen strich. »Es hat mich alles etwas aufgewühlt.«

Skeptisch schielte der Leibwächter von links nach rechts und betrachtete dann wieder Kaceys Gesicht. Sein Argwohn war ihm nicht übel zu nehmen, immerhin hatte Kacey noch nie die Fassung verloren, für alle anderen war er immer der besonnene, der sanfte Prinz, jung und immer freundlich, ein stiller Teich, ein friedlicher Morgen, eine zärtliche Seele.

Tatsächlich war er das nur nach außen hin. Wer würde denn auch schon in aller Öffentlichkeit ausrasten? Das überließ er den Barbaren. Er selbst ließ sich erst gehen, wenn er allein hinter verschlossenen Türen war. Und natürlich hatte er auch schon das ein oder andere Mal in sein Kissen gebrüllt oder hineingeboxt, weil ihn die Machenschaften des Kaiserreichs in den Wahnsinn getrieben hatten. Das falsche Spiel in der Politik, die Lügen, das Heucheln, die Intrigen, die Auftragsmorde. Ja, auch er, der sanfte Kacey, hatte eine zornige Seite. Er wusste sie nur stets gut zu verbergen.

»Ihr habt geblutet.« Ardors dunkle Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück.

Kacey blickte zu ihm auf, verstand zuerst weder seine Worte noch seinen fragenden Blick. Dann, als wollte das Blut selbst auf sich aufmerksam machen, spürte er, wie es auf seinen Wangen spannte wie leichte Verbrennungen.

»Oh ach das?« Er wandte das Gesicht ab und kratzte unwillkürlich die rostbraunen Überreste von seiner hellen Haut. »Ich … ich habe mich geschnitten und …«

Ihm fiel spontan keine gute Ausrede ein, die plausible geklungen hätte. Er stand auf und blickte Ardor entschuldigend an. »Es ist nichts Schlimmes, mir geht es gut. Siehst du«, er hob die Hände und Arme und drehte sie, »keine Verletzungen.«

Die dunklen Augenbrauen des Leibwächters zogen sich leicht zusammen, für einen Moment wirkte er enttäuscht. Er wusste, dass Kacey etwas verbergen wollte.

Entschuldigend und mit einem deutlichen Flehen, lächelte er Ardor an.

Die nackten Schultern des Leibwächters sanken herab, unter seinem Brustpanzer dehnten sich seine Rippen aus, als er tief einatmete.

»Magister?« Moonies helle Stimme erklang zögerlich hinter Ardor aus dem Empfangszimmer.

Kacey schloss die Augen, seufzte erschöpft, denn er wollte nicht schon wieder das Chaos erklären. Er war müde, er war verwirrt und verängstigt, und er wollte einfach nur alle Spuren verwischen. Vergessen. Sich in den Alltag stürzen.

Plötzlich drehte Ardor sich um und ging mit großen Schritten zur Tür, schirmte das Zimmer mit seiner großen Gestalt ab.

Kacey blickte verwundert auf.

»Der Prinz macht sich etwas frisch, er war sehr erschöpft und litt unter schlimmen Kopfschmerzen. Sorg dafür, dass ein Tablett mit Essen gebracht wird und ein Becher mit frischem Tierblut.«

»Wie Ihr wünscht, Herr!« Die Studentin eilte davon, ihre Stimme hatte ob der Aufgabe erleichtert geklungen.

Ardor schloss die Tür und drehte sich dann zu Kacey um.

Es bedurfte keiner Worte, sie sahen sich an. Ardor nickte ihm zu. Und Kacey lächelte ihn aus tiefster Dankbarkeit gerührt an.

*~*~*

Ardor half ihm, das Chaos zu beseitigen, ohne ein Wort, ohne weiter Fragen zu stellen. Sie mussten nicht darüber sprechen, Blicke sagten alles. Kaceys Leibwächter war ihm ob seines Schweigens nicht böse, er verlangte keine Erklärungen. Er vertraute ihm.

Es war ein schönes Gefühl, einen Freund zu haben, einen Komplizen, der nicht einmal verlangte, zu wissen, was vor sich ging, sondern schlicht ohne Gegenleistung für ihn da war.

Ardor erinnerte ihn seit diesem Tag ein wenig an Doragon, der Kacey vor Jahren aus der Sklaverei befreit und hierher zu seiner Familie gebracht hatte. Doragon, dem er alles verdankte und den er als Beschützer ebenso vermisste wie als Freund. Manchmal sehnte er sich sehr danach, sich einfach wieder wie ein Junge auf die Stärke und Klugheit seines Retters zu verlassen, auch wenn seine kleine, kindische Schwärmerei für diesen längst tiefer, unschuldiger Zuneigung gewichen war. Aber Kacey war gewiss nicht schwach oder unfähig, sich selbst zu schützen, auch wenn es verlockend klang, Sorgen auf andere abzuwälzen und sich auf den Schutz starker Arme zu verlassen, war er mittlerweile auch ein klein wenig zu eitel, um nicht für sich selbst zu sorgen.

Selbst wenn es schön wäre, sich wenigstens hin und wieder auf einem anderen ausruhen zu können, um selbst zu verschnaufen.

Eine Partnerschaft, das wünschte er sich, einen Gefährten, und gewiss nicht einen Gatten, der alles für ihn entschied und ihn bevormundete wie ein Kind, oder wie ein Hausfrauchen. Weshalb er die Kuppler aus der Stadt vehement abwehrte, denn trotz Magier-Konflikt standen die Freier Schlange und wollten den Bastard des Kaisers zu ihrem Eigen machen, um sich in die kaiserliche Familie einzuschleichen.

Der Tag war bereits angebrochen und Kacey kam viel zu spät zu seiner ersten Vorlesung. Der Saal war voller als die Monate zuvor, was ihn sofort lächeln ließ. Aber nicht nur Studenten des dritten Semesters saßen in den Reihen, es hatten sich auch einige ältere Magier dazugesellt und ihm zugesehen. Viele von ihnen waren keine Lehrer, sondern Heiler, Vagabunden, einfache Bauern aus Elkanasai, oder Söldner. In Ungnade gefallene Magier, die sich nicht an die Regeln gehalten hatten oder nicht bereit gewesen waren, ihre Fähigkeiten dem Allgemeinwohl zu opfern. Denn noch immer arbeiteten die Magier der Akademie selbstlos und baten allerhöchstens um Spenden. Kranke und Bauern durften an ihre Pforten klopfen und um Hilfe bitten, wenn sie bereit waren, Schülern die Möglichkeit zu geben, ihre Magie an ihnen zu üben. Einnahmen machten sie nur durch den Verkauf von Büchern und Forschungen.

Kaum stand Kacey am Podium und begann über die Grenzen zwischen dunkler und helfender Magie zu sprechen, rückte die qualvolle Nacht in den Hintergrund und er konnte seine Furcht und Verwirrung erfolgreich aus seinen Gedanken verdrängen.

Bis zum Nachmittag war er mit Kursen beschäftigt, dann drang Ardor ihn zu einem üppigen Mahl in den Garten der Akademie. Es gab Rebhuhn und gedünstetes Gemüse, Honigwein aus dem Palast und Törtchen. Kacey speiste an seinem Lieblingsplatz, unter einer Linde aus Nohva an einem Tisch mit feiner Mosaikplatte mit Blick auf die stille Parkanlage. Grünes, gestutztes Gras breitete sich wie ein Teppich zwischen hohen Rosenbüschen aus und wurde von Kieswegen durchzogen. Es gab viele Blickdichte Orte, jeder bot eine andere exotische Pflanzenwelt. Es gab den Kirschblütengarten, den Rosengarten, den Lindenweg, den düsteren Tannengarten. Magier kümmerten sich darum, dass die Bedürfnisse jeder fremdländischen Pflanze gestillt wurden. So wie in der Stadt, war auch der Park der Akademie riesig und artenreich, ein kleines Paradies, um Ruhe zu finden.

Nachdem Essen luden Studenten im Park ihn ein, sich zu ihnen auf eine Decke unter einen Baum zu setzen, während die letzten warmen Sonnenstrahlen auf den Rasen fielen. Ardor blieb wie eine Statue in der Nähe, so wie immer, während Kacey mit der Gruppe aus sechs jungen Elkanasai zusammensaß und über die Magier Situation diskutierte. Nervosität und Zwiespalt herrschte unter den Zauberkundigen.

»Magister, habt Ihr gehört, was heute in der Stadt los war?«, fragte ihn ein junger Mann mit spitzen Ohren und feurigen Augen, dem die Jugend noch ins Gesicht geschrieben stand.

Nicht, dass Kacey als Luzianer älter ausgesehen hätte, aber bei kurzlebigen Völkern strahlte das jugendliche Blut immer sehr hell, dafür erlosch es auch umso schneller.

Auf die Frage hin schüttelte Kacey verwundert den Kopf. Tatsächlich war er sonst immer viel unterwegs und vor allem besuchte er den Palast und die kaiserlichen Gärten, doch an diesem Tag hatte es zu viel in der Akademie zu tun gegeben.

»Lizzi« - er wusste nicht, zu welchem seiner Studenten dieser Kosename gehörte - »war heute in der Einkaufsgasse, im Handelsviertel. Sie wollte Pergament und Tinte besorgen, da wurde sie doch tatsächlich aus dem Laden gejagt.«

Kacey glaubte, sich verhört zu haben. »Was?«, er schüttelte irritiert den Kopf. »Aber wieso denn…?«

Er wusste es im ersten Moment wirklich nicht, konnte sich keinen Grund vorstellen, weshalb eine seiner Studenten aus einem öffentlichen Geschäft geworfen werden sollte.

»Weil sie eine Magierin ist«, entgegnete der junge Mann und schnaubte verachtend.

»Moment!« Kacey hob einhaltgebietend die Hand, bevor voreilige Schlüsse gezogen wurden. »Aber er konnte doch nicht wissen, dass sie zauberkundig ist, man sieht uns das wohl kaum an.«

»Sie trug eine Robe«, klärte ihn eine junge Schülerin von rechts auf. Sie hatte dunkle Locken und ein hartes Gesicht, bedauernd schüttelte sie den Kopf, als sie die Arme vor der flachen Brust verschränkte.

»Der Ladenbesitzer«, erzählte der junge Elkanasai, der von der Geschichte angefangen hatte, an die Gruppe gewandt weiter, »hat Lizzi sofort zur Tür hinaus verwiesen ›Dich bediene ich nicht, Magierschlampe, raus hier‹. Und als sie sich weigerte, hat er sie grob am Arm gepackt und rausgeschleift, sie in den Dreck gestoßen und angespuckt. Passanten blieben stehen oder machten einen Bogen, aber niemand hat ihr geholfen.«

»Warst du dabei?«, fragte ein anderer schockiert.

»Ich stand auf der anderen Straßenseite und habe sie gesehen, habe sie dann hierher zurückbegleitet, während sie mir alles erzählt hat. Die Arme ist noch sehr aufgelöst, liegt im Bett.«

Kacey fühlte sich, als ob er fallen würde. Seine Hand begann wieder zu zittern und in seiner Brust wurde es enger, doch er drängte das Gefühl zurück. Unglauben ließ ihn für einen Moment nicht einmal begreifen, was ihm dieser Junge gerade erzählt hatte.

»Das ist unerhört«, brach es leise, aber nicht minder empört aus ihm heraus. »Sie muss das sofort melden.«

Der junge Magier sah ihn wieder an und hob ratlos die mageren Schultern. »Hab ich auch gesagt, aber sie möchte nicht, sie hat Angst und möchte keinen Ärger bereiten.«

»Dann werde ich in ihrem Namen eine Beschwerde einreichen«, beschloss Kacey mit einer unbeschreiblichen Wut im Magen. »Es war nicht ihre Schuld.«

Er sah die anderen an, deren junge Gesichter zu Boden starrten und ihre Unsicherheit und Zweifel preisgaben. Es zerriss ihm das Herz, er wollte sie alle in den Arm nehmen und ihnen versichern, dass nichts falsch an ihnen war. Er kannte das Gefühl zu gut, sich ungewollt zu fühlen, wertlos. Als ob sie keine Menschen, sondern Ungeziefer wären.

»Das Gesetz ist immer noch auf unserer Seite«, machte er ihnen Mut, »niemand hat das Recht, uns aus irgendwelchen Läden rauszuschmeißen oder uns wie Streuner auf der Straße anzuspucken! Er wird dafür eine saftige Strafe erhalten.«

Sie nickten, lächelten schwach. Er wusste, dass es für sie nur ein schwacher Trost war, vor allem für die Betroffene, denn die Demütigung würde dadurch auch nicht wiedergutgemacht werden.

Er wünschte, er könnte mehr tun, aber er konnte und durfte nur den offiziellen, diplomatischen Weg über die Behörden gehen. Persönliche Rache wäre zwar typisch für das Kaiserreich, würde diesen widerlichen Mistkerl jedoch nur zum Märtyrer machen. Viel wütender machte es Kacey, dass kein Passant dazwischen gegangen war.

»Was denkt Ihr?«, wollten sie von ihm wissen. »Sollten wir uns wehren? Ich habe gehört, in Nohva hätten sich die Magier gewehrt und seitdem wäre es dort etwas stiller geworden.«

»Es sieht wohl so aus, dass bei einem Aufstand in Nohva die Magier gezwungen waren, sich zu verteidigen«, stimmte er zu, betonte aber, dass sie nicht mit der Gewalt angefangen hatten. »Im Moment kam es nicht zu weiteren Gewalttaten, auf keinen Seiten, doch die Situation bleibt angespannt, denn jetzt ist Nohva gespalten, in Magier und ihre Feinde, und dazwischen stehen die, die zu König Wexmell halten und das Volk wieder geeint sehen wollen. Es ist… eine verzwickte Lage dort, doch im Moment bleibt es ruhig.«

»Die Magier dort haben wenigstens einen Prinzen, der für sie einsteht und sie anführt, sie beschützt«, sagte der Student, der auch Lizzis Geschichte erzählt hatte, und kratzte sich an seinem rechten Spitzohr, während er in die Runde blickte. »Ich meine, sie haben jemanden, der die Stimme für sie erhebt.«

»Wir haben doch auch einen Prinzen«, scherzte eine Magierin und lächelte Kacey zu. »Er spricht für uns bei den Versammlungen und er gehört zum Kaiserhaus.«

Er lächelte zurück, musste sich jedoch dazu zwingen, denn eigentlich war er nur ein Bastard, und so sehr sein Vater und seine Stiefmutter sich auch bemühten, ihn aufzunehmen, spürte er doch noch immer, dass er nicht vollwertig zur Kaiserfamilie gehörte. Nur zum Teil, einem großzügigen Teil, für den er sich dankbar zeigen musste. Doch je mehr die Unruhen sich verstärkten, je mehr spürte er, dass die Bürger ihn mehr und mehr als Magier wahrnahmen, denn als Sohn des Kaisers. Was vermutlich auch ein wenig daran lag, dass Kacey wie sein Großvater ein Luzianer war, während sein eigener Vater, Kaiser Eagle, nur die Gene seiner Mutter besaß und somit als Mensch geboren worden war. Kacey war im Palast der einzige Prinz, dessen Blut luzianisch war.

»Ich meine ja nur.« Der Student wirkte vorsichtig, als ob er das, was er dachte, unbedingt sagen wollte, aber wusste, dass seine Worte ihn nicht bei allen beliebt machen würden. »In Nohva wird unseresgleichen angegriffen, gejagt, und wir sitzen hier und müssen tatsächlich noch mit dem Kaiser und dem Rat darüber diskutieren, ob wir uns selbst schützen dürfen, obwohl die Hexenjäger bereits hier Anhänger gefunden haben?«

»Nun ja, sie fürchten, wir könnten unsere Magie gegen sie wenden«, erklärte Kacey. Insgeheim fiel es ihm schwer, noch Rechtfertigungen für das Verhalten der Bürger zu finden.

»Aber wir sind doch alle gleich!«, entgegnete der junge Mann aufgebracht. »Wir sind alle ein Volk, warum sollten wir gegen uns selbst kämpfen? Unser Schutz ist doch auch der Schutz des gesamten Reichs!«

»Ja, das ist wohl wahr. Und wir müssen darauf vertrauen, dass der Rat dementsprechend entscheidet.«

»Aber Ihr glaubt nicht daran.«

»Das habe ich nicht gesagt«, warf Kacey schnell ein und lächelte nachsichtig. »Ich sage nur, dass wir derzeitig nur abwarten können.«

»Oder wir tun es einfach«, forderte der enthusiastische Magier, »sie müssen ja nicht wissen, dass wir uns vorbereiten. Niemand bekommt mir, was wir hier tun.« Seine Augen leuchteten und er wartete gespannt auf Kaceys Erwiderung. »So wie Ihr das Alptraumfeld beschworen habt, obwohl der Zauber dazu in dem verbotenen Teil der Bibliothek untergebracht war. Niemand wird wissen, was wir in den Vorlesungen lernen.«

Der Zauber für das Alptraumfeld hatte Xaith aus dem verbotenen Teil entwendet und auf Kaceys Tisch liegen lassen. Es war ein Band über allerlei verrufene Zauberei, darunter auch, wie man totes Gewebe wieder lebendig macht. Ein Buch, das Kacey längst hätte zurückschmuggeln müssen, wovon ihn seine verdammte, gefährliche Neugierde abgehalten hatte.

»Wir brauchen keine Zustimmung, wenn wir uns selbst schützen müssen!«

Wie gerne er ihm zustimmen würde. Doch Kacey wich ihm gekonnt aus: »Es würde sicher nicht jedem gefallen, wenn wir verbotene Zauberei in der Akademie lehren und somit alle, die hier Schutz suchen, zu Mittätern machen.«

Der junge Mann seufzte enttäuscht, er schüttelte den Kopf. »Ich denke, wir sollten uns wehren und diesen Hexenjägern zeigen, dass wir nicht hilflos sind. Genau wie der dunkle Prinz in Nohva!«

»Riath«, - Kacey konnte nicht erklären warum, aber er hasste es, wenn Riath als dunkler Prinz bezeichnet wurde - »hat gewiss seine Gründe gehabt, zurückzuschlagen. Sie haben ihm keine Wahl gelassen, Gewalt ist ausgebrochen und er kam mit einer Armee, um die Ausschreitungen zu beenden.«

Der Student sah ihn mit klugen Augen direkt an. »Und hätten nicht viel mehr Menschenleben gerettet werden können, hätte König Wexmell ihm gestattet, seine Übermacht schon zuvor einzusetzen, um die Ausschreitungen gar erst zu verhindern?«

Kacey wusste, dass er eine Position besetzte, die ihm die Pflicht auferlegte, seine jungen Schüler zu besänftigen und ihnen mit weisem Rat zu begegnen. Doch er nickte, bevor er sich davon abhalten konnte. Er war nur ein paar Jahre älter als sie, hatte seine Prüfungen schneller abgeschlossen als je ein Magier vor ihm, war der jüngste Oberste Magister aller Zeiten und hatte jeden Abschluss mit Bestleistung absolviert. Sie sahen zu ihm auf, und sein Herz war genauso jung und feurig wie ihres, wenn es darum ging, ihre Zunft in Schutz zu nehmen.

Natürlich hätten Menschen gerettet werden können, hätte man in Nohva früher gehandelt. Doch in einer Ecke seines Herzens wollte er so nicht denken. Er wollte vernünftig sein und ein Sprecher des Friedens, versuchte angestrengt, seine eigene Wut über die Ungerechtigkeit, mit der man seinesgleichen behandelte, niederzuringen und objektiv zu bleiben.

Doch es fiel ihm zunehmenden schwerer und er musste sich mehr denn je eingestehen, dass man nicht immer der war, der man gerne wäre. Das Herz wollte, was es wollte, und seines sehnte sich nach Gerechtigkeit und nach mehr Respekt gegenüber der Magie.

Die Wahrheit war, dass er Riath bewunderte, für das, was er war und für seine Entschlossenheit. Und ja, er hasste sich dafür, denn Riath war kein guter Mann, er intrigierte, er verriet, er ging über Leichen. Das war Kacey genauso bewusst, wie die Tatsache, dass alles nur noch schlimmer kommen würde, wenn die Magier sich gegen ihre Feinde auflehnten.

Denn je mehr man ihnen nachsagte, eine beständige Gefahr für die Normalsterblichen zu sein, je mehr mussten sie zeigen, wie friedlich sie waren.

Riaths Handlungen waren unter den Magiern gefeiert, gelobpreist, aber Kacey wusste, dass sie auch dazu führten, dass sich das Bild des bösen Magiers verstärkte. Dass Riaths Mut zum Einsetzen der Magie dazu führte, dass sie alle noch mehr gefürchtet wurden.

Man hielt Riath bereits für einen Gott – einen Gott, der sie alle in die Knechtschaft zwingen könnte.

Und doch war er auch ein Schild, ein Vorbild, ein … Retter.

Denn für die Magier fühlte es sich derzeit an, als müssten sie sich nackt und mit Kissen als Schilden gegen ein gepanzertes, bis an die Zähne mit scharfen Klingen bewaffnetes Heer stellen. Und wehe dem, der einen Stein warf, um sein Leben zu verteidigen, derjenige würde aufgrund der Tatsache niedergestreckt, dass sich zu wehren für einen Magier immer den Tod bedeutete.

»Der dunkle Prinz«, eine andere Schülerin erhob zaghaft das Wort und suchte Kaceys Blick, »es heißt, er sei ein Dämon oder gar ein Dämonenfürst. Dass man ihn nicht töten kann und dass viele seiner Getreuen ihn mit ihren Seelen speisen und danach willenlose Untote sind. Ist das wahr?«

Alle Blicke ruhten auf ihm, ein halbes Dutzend Studenten warteten auf seine Einschätzung. Er konnte nicht sagen, ob er Furcht oder Begeisterung in die Augen dieser jungen Magier las, es war eine Mischung aus beidem, würde er behaupten.

Riath war unter den Magiern ein Lauffeuer, das in jeden Verstand eingedrungen war. Er war ein lebendiger Mythos, etwas, über das heiß debattiert wurde. War er gut oder böse? War er mächtig oder übertrieben die Geschichten?

Wer war er denn nun, dieser dunkle Prinz.

Kacey hasste es, dass er dieser Tage immer häufiger diesen Namen hörte. Prinz Riath M`Shier, Sohn des Blutdrachen, Erbe Nohvas. Dunkler Hexenprinz. All die Gespräche über ihn, das Geflüster an jeder Ecke der Akademie. Immer wieder die Erinnerung an ihn und das Wissen, dass er Riath auf eine Art kannte, wie es sich seine Schüler nicht vorstellen konnten. Sie wussten, dass Kacey zusammen mit ihm gereist war, dass er mit ihm zusammen das Götterportal geschlossen hatte.

Sie wussten nicht, dass sie sich geliebt hatten, dass sie sich in den Armen gelegen und sich gegenseitig bis auf den Grund ihrer Seelen geblickt hatten. Sie hatten keine Ahnung, wie verräterisch sich sein Herz zusammenzog, wann immer er nach Riath gefragt wurde.

Kacey musste den Kopf schütteln, um sich in die Gegenwart zurückzubringen. »Er…«, begann er und versuchte, unbeteiligt zu klingen, »ist gewiss eine … einzigartige Persönlichkeit.«

Milde ausgedrückt.

»Aber Ihr seid mit ihm gereist!«, drängte der junge Student, der die meiste Zeit redete und offensichtlich der Mittelpunkt der Gruppe war, denn ob Jungen oder Mädchen, sie alle schienen ihn und seine schönen dunklen Augen und dunklen Haare anzuhimmeln. »Wie ist er so? Ist er wirklich böse, oder wird er nur dazu gemacht?«

Kacey hob die Augenbrauen, während er die Decke anstarre, auf der sie saßen. Sie hatte schöne Stickereien und war gewiss von einer tüchtigen Schneiderin gefertigt worden.

War Riath böse? Gute Frage, die er sich jeden Tag selbst mehrfach stellte, er grübelte manchmal nächtelang darüber.

Aber was war schon Böse und Gut, wer bestimmte das, und konnte man die Welt wirklich in Gut und Böse einteilen?

»Wie ist er wirklich?«, wollten seine Studenten von ihm wissen und warteten gespannt auf seine Antwort, wie Vogelküken, die vor der Mutter saßen und warteten, dass sie das Essen verteilte.

Wie war Riath wirklich…

Arrogant, schnöselig? Egoistisch? Ja, manchmal. Gierig, temperamentvoll? Auf jeden Fall. Nervtötend. Unbändig. Unbeugsam. Er ließ sich nicht so einfach abwimmeln und er akzeptierte kein Nein – außer von seinem Vater, der nicht mehr lebte. Er war ungezähmt, ungeschliffen. Aber Kacey hatte ihn auch aufopfernd erlebt. Selbstsicher, fürsorglich, heldenhaft. Stark. Verwirrt, verletzlich und auch sanft, auf seine Art. Er war ein Beschützer. Er war humorvoll. Intelligent, charmant, eine strahlende Sonne, die wärmte und die verbrannte.

»Er…«, Kacey starrte noch nachdenklich auf die Decke, bemerkte die verwirrten Blicke nicht, während sich seine Lippen zu einem geheimnisvollen Lächeln verzogen, »… hat ein Herz aus goldenen Flammen.«

Geliebter Unhold

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