Читать книгу Geliebter Unhold - Billy Remie - Страница 8
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ОглавлениеDie Kanalisierung großer Magie über eine weite Entfernung hinweg konnte einen gewöhnlichen Magier auslaugen bis zum Herzstillstand.
Einen gewöhnlichen Magier.
Nicht den dunklen Prinzen. Und doch spürte natürlich auch er die große, mentale Anstrengung überdeutlich. Es war, wie nach einer langen, kräftezehrenden Krankheit zu erwachen und festzustellen, dass die Muskulatur abgebaut hatte, Beine und Arme sich wie flatternder, haltloser Stoff anfühlten, nicht wie Gliedmaßen. Wenn der Schwindel im Kopf zunahm, sobald man sich aufsetzte. Und wenn man Hunger hatte, aber bereits eine Keule Fleisch den Magen rebellieren ließ.
Immerhin schien das Blut zu helfen, das Marks ihm stündlich bringen ließ. Mit einem weiteren Tag Verspätung gelang es Riath dann endlich, aufzustehen und sich ein Hemd und eine Hose überzuziehen. Dafür hatte er den verdammten Schneesturm in Carapuhr allerdings loslassen müssen. Vermutlich klarte das Wetter im Norden bereits auf, was bedeutete, der Kaiser würde seinen Rückweg antreten.
Doch Riath glaubte ohnehin, dass Eagle längst Boten geschickt hatte, die das Kaiserreich über die »Wahrheit« informiert hatte. Anders konnte er sich Kaceys Schweigen nicht erklären.
Er musste ihn persönlich sprechen, es war höchste Zeit. Doch wenn ihn jemand in der Stadt erkannte, würde er wohl im Kerker und am Ende vor dem Henker landen. Dieses Mal, da war er sich absolut sicher, würden sie ihm den Kopf abschlagen. Da der letzte Angriff auf sein Leben nicht von Erfolg gekrönt gewesen war.
Nein, wenn er sich in der Stadt blicken ließe, müsste er zuvor einige Verbündete an Land gezogen haben.
Gedankenverloren strich er mit den Fingerspitzen über seine Narbe, die sich als hauchdünner Strich auf seiner Kehle abzeichnete. Sie war so gut verheilt, dass sie nur noch einer Falte glich, die keine Sonne abgekommen hatte. Dennoch spürte er, wenn er an sie erinnert wurde, die Atemnot, das Brennen, die Angst. Er hatte damals nicht gewusst, dass er den Anschlag überleben würde. Sterben war etwas Schreckliches, so voller instinktiver Furcht, voller Kälter, Schmerzen und Qual. Riath sah das Gesicht seines Mörders deutlich vor sich, immer wieder, jede Nacht, und in seinem Inneren brodelte eine so lebendige, heiße Wut, dass er brüllen und irgendetwas zerstören wollte, nur um dem Druck in seiner Brust ein wenig Luft zu verschaffen.
Er beherrschte sich, hob sich all die Wut für seinen allerletzten Zug auf, und wenn er Jahrzehnte darauf wartete, war es das wert.
Riath trat aus seinem Zelt in das Lager, wo seine Leute bereits tüchtig ihrer Arbeit nachgingen. Knechte kümmerten sich um die Feuer, das Essen, putzten Rüstungen, Stiefel, Zaumzeug und Sättel, leerten Bettpfannen aus, striegelte die kräftigen, ausdauernden Pferde aus Nohva.
Sie hatten die Zelte in einer dichten Baumgruppe aufgeschlagen, direkt ins Unterholz, das sie nun wie ein natürlicher Wall umgab. Das Blätterdach des Urwaldes war dicht, doch es gab diese eine Lücke, durch die die Sonne drang und direkt auf Riaths Zelt fiel.
»Mein Prinz!«, begrüßten ihn seine Getreuen ebenso wie die Knechte, die ihm begegneten, legte ihre Fäuste auf ihre Herzen und neigten huldvoll das Haupt, als er an ihnen vorüber ging. Er beachtete sie gar nicht, ihre Unterwürfigkeit war ihm so vertraut wie das Kribbeln der Sonne auf seinem Gesicht.
Disziplin musste sein, er hatte bei Wexmell gesehen, wohin zu intime Vertraulichkeit mit den Untertanen führte. Wie sie den Respekt vor dem Amt verloren hatten, wie sie den König als Freund, denn als Herrscher angesehen und geglaubt hatten, sich alles erlauben zu dürfen, einschließlich öffentlichen Beleidigungen und Drohbriefen. Und das nur, weil Wexmell sich weigerte, Zauberkundige in Nohva in Gefängnisse zu stecken oder sie zu Sklaven der Allgemeinheit zu machen. Es war sogar von magischer Kastration die Rede gewesen, was für einen Magiebegabten bedeutet, seiner Fähigkeiten beraubt zu werden.
Riath ließ unter seinen Leuten niemals zu, dass sie vergaßen, wer er war. Er war nahbar, er trank und kämpfte Seite an Seite mit seinen Getreuen, er unterhielt sich mit Knechten, er machte sich auch mal die Finger schmutzig, doch er erlaubte niemals, dass sie in seiner Gegenwart vergaßen, dass er ihr Prinz war und sie ihm Respekt schuldeten. Und Treue.
Und bisher hatte ihn niemand aus den eigenen Reihen verraten, im Gegenteil, er hatte dadurch sogar mehr Leute gewonnen, darunter Marks, der zuvor gegen die Magier rebelliert hatte.
Allerdings musste Riath gestehen, war es nicht mehr sonderlich schwer gewesen, den Krieger zu überzeugen, nachdem er mit eigenen Augen gesehen hatte, dass die Hexenjäger sinnlos brandschatzten und mordeten. Er würde niemals Marks ratloses, schmutziges Gesicht vergessen, als er ihn mitten in dem brennenden Dorf erblickt hatte, inmitten der völlig außer Kontrolle geratenen Hexenjäger, die wie die Barbaren über unschuldige Bauern hergefallen waren, wegen eines angeblichen Hexenmädchens. Eine Lüge, erschaffen von den Jägern, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Um das Volk mit Gewalt zu zwingen, den Magiern keinen Unterschlupf zu gewähren.
Da war dieser Junge gewesen, Riath erinnerte sich genau, als er im Lager vor einem der Feuer zum Stehen kam und die züngelnden Flammen erblickte. Er sah es noch vor sich, als wäre es gestern gewesen, ein Bursche im Alter von zehn Sommern rannte über die Straße und schrie so spitz, dass seine Stimme den Kampflärm übertönte. Ein helles, gellendes Kreischen, das von einer ungeheuren Qual zeugte. Er hatte gebrannt, lichterloh in Flammen gestanden, geschrien und war an Marks vorbeigerannt, eine Qualm- und Hitzewolke hinter sich herziehend, bis er einfach zusammengebrochen war, nicht mehr als ein zu Kohle verbranntes Stück Menschenfleisch. Marks hatte ihm mit grauenhaftem Unglauben nachgesehen und dann Riath am Ende der Straße erblickt. Er hatte geblinzelt, den Kopf geschüttelt, und Riath war langsam auf ihn zugegangen und hatte ihm die Wahl gelassen. Marks war auf die Knie gefallen – und versuchte noch heute Wiedergutmachung zu leisten. Riath war sich sicher, dass sein Getreuer noch immer von dem Jungen träumte.
Sie hatten die Hexenjäger gemeinsam vertrieben, aber der Schlange noch nicht den Kopf abgeschlagen. Es wäre zu riskant gewesen, in ihre Nachhut einzufallen.
Mak kam durch die Zelte auf Riath zugetrabt, die langen Ohren eingeknickt und mit der Rute wedelnd.
Riath begrüßte ihn, ging in die Hocke und ließ zu, dass der kleine Racker seine Pfoten auf seine Brust stellte, damit sie auf Augenhöhe waren. Mak hechelte erhitzt, als wäre er stundenlang gerannt, in seinen Augen glitzerte absolute Zufriedenheit und an seinen Lefzen klebte frisches Blut.
»Hast du eine Gazelle gerissen, kleines Reißzähnchen?« Riath kraulte ihn ausgiebig, der dünne Kopf des Schakals wirkte winzig und zerbrechlich in seinen großen Pranken, doch er ging so sanft mit ihm um wie mit einem Neugeborenen. »Keine Nachricht von unserem Schönling, hm?«
Riath griff in den Beutel, der um Maks Rumpf gebunden war und runzelte verwundert die Stirn. Seine Finger ertasteten ein Stück Pergament.
Damit hatte er nicht gerechnet.
Während Mak an ihm hochsprang und seinen Hals voller Zuneigung leckte, tätschelte Riath ihn nur noch halbherzig, da all seine Gedanken auf den Brief gerichtet waren. Obgleich es kein richtiger Brief war, sondern ein kurzer, winziger Zettel ohne Sigel und unsauber gefaltet. Er klappte ihn auseinander und las die wenigen Worte. Nur ein Satz, keine Namen. Das war auch nicht nötig.
Riath warf die Nachricht ins Feuer, seine Miene war undurchdringlich, aber in seinem Inneren verspürte er ein erdrückendes Gefühl.
»Komm«, sagte er dann ernst, »gehen wir ein Stück.«
Er wollte sich die Beine vertreten, auch wenn sich seine Knie noch immer anfühlten, als bestünden sie aus eingeschmolzenem Stahl.
Vom Lager führte ein schmaler Trampelpfad durch den dichten Urwald eine Anhöhe hinauf.
Er verscheuchte alle Gedanken.
Die schwüle Hitze legte sich bald nicht nur auf Riaths Haut und sorgte dafür, dass sein schwarzes Hemd an ihm klebte, sondern drang auch in seine Lunge ein und ließ ihn schwer schnaufen.
Mak sprang leichtfüßig neben ihm her, seine lange Zunge hing fast auf dem Boden, doch er jagte weiterhin begeistert allem nach, was sich bewegte.
Der Weg unter Riaths Stiefeln wurde steinig und immer steiler. Neben ihm plätscherte ein breiter Nebenarm des Blue Water, dem Hauptfluss Elkanasais. Der Fluss mündete in einem riesigen See, der von hohen Felsen umsäumt war. Riath stieg seitlich einige Klippen hinauf, bis er die Baumkronen des Urwaldes durchbrochen und über dem Dach des Waldes auf einem großen, braunen Felsen herauskam.
Mak hatte eine Schlange im Maul, sie bewegte sich nicht mehr, und zog sich in den Schatten eines kantigen Felsen zurück, um sie in aller Ruhe zu zerfleischen. Riath hatte nie erlebt, dass einer seiner Schakale von einem anderen Tier gebissen oder gestochen worden war, selbst als Welpen waren sie ungeheuer schlau und treu gewesen, weshalb er erst auf die Idee gekommen war, sie als Boten einzusetzen. Wenn sie nicht gesehen werden wollten, wurden sie auch nicht gesehen.
Riath ging langsam zum Rand der Klippe, braunes Gestein bröselte und rieselte hinab in die Tiefe, plätscherte ins weit entfernte, stille Wasser.
Ob dort unten gefräßige Alligatoren lauerten? Wasserschlangen? Drachen?
Heute war ein schwermütiger Tag, bereits nach dem Aufwachen hatte Riath sich in Grübeleien verloren. Vergangenes ließ ihn nicht los. Manchmal war es genau wie in den Jahren kurz nach dem Tod seines Vaters, als er dieser haltlose, verwirrte Junge gewesen war, der nicht wusste, was er eigentlich wollte und wohin sein Weg ihn führte. In gewisser Weise wusste er es immer noch nicht, er folgte einfach den Pfaden, die sich ihm boten, und jagte denen hinterher, die ihm Böses wollten, ohne Gnade, ohne Rücksicht auf Verluste. Was sollte er auch sonst tun, es kam gar nicht in Frage, dass er einen von ihnen verschonen würde. So war er einfach nicht gestrickt.
Sein Problem war, dass er nicht so einfältig handelte wie seine Feinde, er wollte sie nicht bloß töten, das hätte er längst gekonnt, wenn er es beabsichtigt hätte. Oh nein, er wollte sie vernichten. Er wollte, dass sie zusahen, wie alles, was sie kannten, brannte. Er wollte ihnen ihre Welt rauben und sie brechen, wollte sie in eine kalte, einsame Zelle stecken und sie zusehen lassen, wie die Welt zu einem Ort wurde, den sie hassten.
Rachsüchtig, so hatte Wexmell ihn genannt. »Du bist rachsüchtig, Riath, und das bringt dir irgendwann den Tod, oder den Menschen, die du liebst. Lass ihn ziehen, er will doch nur, dass wir uns entzweien, er will dich rauslocken, damit ich dich nicht mehr schützen kann.«
»Du bist der, der uns entzweit, Wexmell! Er hat versucht, mich zu töten, und du lässt ihn einfach flüchten!«
»Ihm zu folgen würde Kriege nach sich ziehen, Riath, du musst umsichtiger werden!«
»Und du musst endlich anfangen, etwas zu unternehmen, statt da zu sitzen und an die Vernunft zu appellieren. Er hat uns verraten!«
»Und im Gegenzug willst du ihn jetzt töten, woraufhin irgendein anderer wiederrum Rache an dir üben wollen wird. Verstehst du es nicht? Rache hört niemals auf, wenn man einmal damit anfängt. Gib ihm nicht das, was er von dir erwartet!«
Das hatte er nicht und das würde er auch nicht, oh nein, Riath würde grundsätzlich immer genau das tun, was man gerade nicht von ihm erwartete. Genau wie vor wenigen Wochen in Carapuhr, womit niemand von seinen Gegnern gerechnet hätte.
Aber es ist alles ein wenig schiefgelaufen.
Beinahe wäre es ihm gelungen, beinahe hätte er Großkönig Melecay alles geraubt. Wäre dieser fanatische Ziegenhirte nicht größenwahnsinnig geworden und hätte versucht, den Großkönig zu töten. Nein, das wäre viel zu einfach für diesen Mistkerl. Riath hatte sich einmischen und Desith und Vynsu zu Melecays Rettung schicken müssen.
So einfach würde er diesen Hurensohn nicht davonkommen lassen. »Du stirbst mir nicht einfach davon, Melecay, so leicht mache ich es dir nicht.«
Für sie beide hatte das Spiel gerade erst begonnen. Es wurde Zeit für den nächsten Zug.
Riath riss sich die Stiefel von den Füßen und warf sie zur Seite, dann trat er barfuß weiter vor. Der Fels war heiß, verbrannte ihm die Sohlen. Er blickte hinab, spürte den Sog der Tiefe, hörte wie sie flüsterte und ihn verlockte. Er machte noch einen Schritt, direkt ins Leere, und stürzte sich mit den Füßen voran in den Abgrund. Sein Körper zischte wie ein Pfeil nach unten, die Landschaft rauschte an ihm vorbei und wurde von einem Bild zu einer undeutlichen, grünbraunen Kulisse. Seine Füße tauchten ins kühle Nass, er sank wie ein kerzengerader Baumstamm in den See. Das Wasser schlug über ihm zusammen, bremste seinen Fall, sodass seine Zehen den Grund des Sees nur sanft berührten, statt auf ihm zu zerschlagen.
Er setzte sich im Schneidersitz hin, die Arme vor der Brust gekreuzt, und schloss die grünen Augen. Durch das Wasser drangen die Geräusche und das Licht der Welt nur gedämpft zu ihm herab und er nutzte diese Ruhe, um intensiv über seinen nächsten Schritt nachzudenken.
Ich weiß, was du ihr angetan hast, Prinz Unhold.
*~*~*
Der Tag verging in Windeseile, kaum war er angebrochen, verabschiedete sich die Sonne bereits wieder und ging mit einem letzten Aufbäumen in einem roten Inferno am Himmel über der weißen Hauptstadt Solitude unter. Ein Spektakel, an dem sich Kacey nie sattsehen konnte. Dieser heiße, brennende Himmel, durchzogen von einer Nova aus Licht und Wolken, die über dem satten, grünen Blätterdach des Urwaldes unterging, der die Stadt wie eine dichte Mauer umgab.
Er sah es sich jeden Abend an, vom Balkon seiner neuen Zimmer aus – die er von dem vorherigen Magister übernommen hatte – oder von den perfekt gepflegten Gartenanlagen der Akademie. Selbst wenn er wie in den letzten Tagen Stunde um Stunde in Arbeit versunken war.
Einige Schüler waren tatsächlich zur riesigen, aus dunklem Gemäuer erbauten Akademie mit ihren zahlreichen Türmen und Erkern und Buntglasfenstern – womit sich die Anlage deutlich von der aus weißem Marmor errichteten Stadt abhob – zurückgekehrt, sowie einige ausgelernte Magier und Illusionisten aus aller Welt, deren Namen und Fähigkeiten Kacey in den Archiven ausfindig gemacht und angeschrieben hatte. Sie kamen zum Lehren an die Akademie. Auch diese Entscheidung hatte er allein getroffen, denn für seine älteren Kollegen war es ein Unding, dass Magier, die nur einen einfachen Abschluss absolviert hatten – aus welchem persönlichen Grund auch immer – Kurse geben durften. Kacey hingegen hielt es für klug, so viele Magiebegabte wie möglich zu versammeln, denn er hatte das dumpfe Gefühl, dass die Unruhen erst ihren Anfang fanden. Außerdem fand er es wertvoll, ihre Erfahrungen zu nutzen, um seine Studenten weiter zu bilden. Praktische Erfahrungen im Umgang mit Magie im Alltag war sehr viel wichtiger als jede Theorie, die seine Schüler in den sonstigen Kursen paukten.
Der Magie-Konflikt durfte nicht so ausarten wie in Nohva, es durften keine ganzen Dörfer brennen, nur weil die Bewohner einen zauberkundigen Freund versteckten. Nein, lieber sollte ein einziger, abgesicherter Ort Ziel zum Hass ihrer Gegner werden, dann waren sie auf einen Angriff vorbereitet und konnten ihresgleichen schützen. Er hatte auch andere Schulen und ihre Magister angeschrieben und viele waren auf seiner Seite, riefen ihre Schüler zu sich und stellten Anträge, um Kraftfelder errichten zu dürfen.
Ihm war bewusst, dass er damit auch Argwohn säte, dass Bürger das Gerücht verbreiten konnten, er würde eine Armee aus Zauberkundigen zusammenstellen. Doch vorrangig war ihm das gleich, zuerst zählte der Schutz derer, die unschuldig dem Hass anderer ausgesetzt waren.
Es war ein regelrechter Ansturm aus Zurückkehrern und Neuankömmlingen, Kacey wäre dankbar gewesen, hätten sie ihm durch einen Boten von ihrer Anreise unterrichtet. Doch er verstand auch, dass dazu vermutlich bei einem schnellen Aufbruch keine Zeit gewesen war. Unter Furcht dachte man nur daran, so schnell wie möglich einen sicheren Hafen zu erreichen.
Gemeinsam mit den Studenten und Verwaltern hatte er dafür gesorgt, dass niemand lange auf ein Zimmer warten musste, nebenher hatte er noch Führungen für diejenigen organisiert, die seit Jahrzehnten nicht mehr hier gewesen waren, hatte alle über das Alptraumfeld informiert, Fragen beantwortet. Seine Tür zu seinen Räumlichkeiten hatte immer offen gestanden, den ganzen Tag. Er hatte Vorlesungen abgehalten, wobei seine Studenten überwiegend mehr über das Kraftfeld erfahren wollten und was bei der Versammlung herausgekommen war. Ardor, Kaceys Leibwächter, war natürlich mit undurchdringlicher Miene stets an seiner Seite gewesen.
Es gab den ganzen Tag so viel zu tun, dass Kacey seine Verabredung mit seinem Lieblingsschneider hatte ausfallen lassen müssen, was ihn ein wenig traurig stimmte, denn er hätte gerne eine neue Robe in Auftrag gegeben. Nur um etwas Normales zu tun, das ihn für einen Moment die brisante Lage hätte vergessen lassen. Aber er sollte wohl ohnehin sparen, denn die Höhe der zu zahlenden Strafe stand noch aus, der Brief würde gewiss erst in einigen Tagen eintreffen. Dann würde er wissen, ob er sich danach noch eine Robe leisten konnte, oder sogar die anderen verkaufen musste.
Was soll´s, dachte er bei sich, er umgab sich gern mit schmucken Dingen, mit Prunk und allem was extravagant war oder glitzerte, aber es würde ihn nicht umbringen, ohne all das zu leben.
Obwohl er es vermissen würde, das gab er ehrlich zu. Nachdem er seine Jugend nur mit dem Nötigsten verbracht hatte, sehnte er sich nun umso mehr nach all den Dingen, die ihm verwehrt gewesen waren. Abgesehen von Nähe zu lebendigen Wesen war das nun mal auch goldener Schmuck, Edelsteine, Seide, Samt und Damast. Oh und natürlich edler Wein und nahrhaftes Essen.
Und von letzterem hatte er an diesem Tag wenig zu sich genommen. Als er sich also etwas schwach fühlte, schob er es auf die Erschöpfung und den Mangel an Essen und Trinken.
Er zog sich gegen Abend, als das letzte Sonnenlicht verblasste, in seine mit dunklen, edlen Kirschbaumholzmöbel eingerichteten Räume zurück. Im Empfangszimmer saß noch eine Studentin und sortierte seine Unteralgen für den nächsten Tag.
Ardor hatte ihm ein Tablett mit Essen bringen lassen, dann hatte Kacey den großen Mann mit der Narbe über dem rechten Auge und dem polierten Brustpanzer für den Rest des Tages fortgeschickt, doch wie er seinen übereifrigen Leibwächter kannte, blieb dieser sicher in der Nähe und abrufbereit. Ardor war noch immer ein klein wenig vernarrt in Kacey und dementsprechend ein äußerst ambitionierter Leibwächter. Vielleicht der treuste Mann im ganzen Reich, zumindest würde Kacey sein Leben immer blind in seine Hände legen. Dennoch konnte er dessen Gefühle nicht erwidern.
Nein, stattdessen verliebte er sich in Männer, die zwielichtig und undurchschaubar waren.
Kacey ließ denn Abend über seinen Forschungen ausklingen und schrieb ein paar Seiten über das Alptraumfeld, das er beschworen hatte, auch wenn er sich sicher war, dass er diese Schriften niemals veröffentlichen würde. Doch er wäre kein Magister, würde er nicht jeden seiner Handgriffe niederschreiben. Er gab zu, dass er auf seine Arbeit stolz war.
Er hatte keine Lust, ins Bett zu gehen und sich herumzuwälzen, während seine Gedanken um Riath oder Xaith, und im schlimmsten Fall um beide kreisten, also blieb er wach, solange er konnte, bis er zu müde sein würde, um überhaupt noch an irgendetwas denken zu können.
Er spürte die Übelkeit urplötzlich, sie kroch ohne Vorwarnung seine Brust hinauf. Instinktiv legte er die Feder nieder und griff zu seinem rubinbesetzten Kelch, weil er das schlechte Gefühl einfach hinunterspülen wollte. Erst da bemerkte er, dass seine Hand stark zitterte. Stirnrunzelnd blickte er auf seine Finger und zog sie langsam zurück, um sie inspizieren zu können.
Das Schwächegefühl in seinen Armen und Beinen wurde stärker und wanderte in seinen Kopf, innerhalb von wegen Herzschlägen brach ihm der Schwindel aus. Kalter Schweiß drang aus seinen Poren, die Übelkeit kroch ihm bis in die Kehle und seine Brust wurde eng.
Die Erschöpfung, dachte er. Vermutlich war es an der Zeit, sich einfach ins Bett zu legen und zu schlafen.
Sein Teller war nur halb aufgegessen, worüber er nun froh war. Vermutlich war das Essen daran schuld, dass ihm übel geworden war. Nachdem er den ganzen Tag wie ein Spatz gegessen hatte, hätte er am Abend keine halbe Gans verspeisen sollen.
Ruhe und Entspannung würden ihm gewiss helfen, sich besser zu fühlen, also verschloss er das Tintenfässchen, steckte die Schreibfeder in ihren Halter und stand auf.
In dem Moment, als er die Knie durchstreckte, spürte er einen Druck im Kopf und einen Hammerschlag in seiner Brust, der ihn beinahe zu Boden stürzen ließ. Keuchend hielt er sich an der Tischkante fest. Die Welt verschwamm, er blinzelte, das Zimmer wurde wieder klar, dann noch klarer … zu klar… Kacey petzte die Augen zusammen, die Kerze auf seinem Tisch war auf einmal zu hell, der Raum wirkte, als sähe er ihn aus fremden Pupillen. Eine seltsame Sicht stellte sich ein, als dehnte sich das dunkle Arbeitszimmer aus. Er nahm Dinge wahr, die er noch nie gesehen hatte. Die einzelnen Fasern des Teppichs, die feinen Risse im Leder der Buchrücken, das Schwitzen des Kerzenwachses. Er konnte die toten, schwarzen Auren des Holzes der Möbel erkennen, die kalt und trostlos alles im Raum umgaben.
Er wusste sofort, dass dies nichts mit Erschöpfung zu tun hatte, und für einen Moment befürchtete er, jemand hätte sein Essen vergiftet.
Doch dann brüllte etwas in ihm, drängte nach draußen, drängte in seinen Kopf. Krallen bohrten sich in seinen Verstand, er konnte es spüren, wie heiße Dolche in seinem Schädel. Er riss den Mund zum Schrei auf, doch es kam nichts heraus, nur ein ersticktes Keuchen.
Etwas kitzelte seine Wange und er wischte es instinktiv fort, spürte warme Feuchtigkeit an seinen Fingerspitzen und blickte verwirrt auf seine Finger. Zuerst verstand er nicht, was er sah, er verrieb grübelnd die Flüssigkeit, bis ihm bewusstwurde, dass es sich dabei um dunkelrot schimmerndes Blut handelte, das regelrecht wie ein flüssiger Rubin auf seiner weißen Haut leuchtete.
Sein Herz erlitt einen kleinen Aussetzer, er war zu geschockt, um zu begreifen, erst als ein Bluttropfen unter ihm auf einer Pergamentseite landete und sich langsam wie eine öffnende Rosenblüte ausbreitete, begriff er, dass sein Gesicht blutete.
Beunruhigt sah er sich um, entdeckte den Silberspiegel an der Wand und stürzte darauf zu. Dass er seinen Stuhl dabei umriss und er polternd zu Boden fiel, war ihm gleich, er bemerkte es nicht einmal.
Nach vorne stolpernd fing er sich links und rechts neben dem winzigen Spiegel mit den Händen an der Wand ab, hinterließ einen roten Fleck wegen des Blutes an seiner Hand. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Er erblickte sich selbst, ohne jeden Zweifel, das war sein zartes Gesicht, seine goldenen, mittellangen Haare, sein Stirnreif auf der kleinen Stirn, seine Stupsnase, seine geschwungenen, einladenden Lippen, seine langen Wimpern, das schmale Kinn, der schlanke Hals. Nur seine Augen waren ein Abbild skurrilen Grauens. Um die schwarzen, geweiteten Pupillen flammte ein goldener Kreis, ebenso umrandete ein weiterer goldener Schimmer seine eisblauen Iriden. Doch was ihm am Meisten den Atem raubte waren die blutigen Tränen, die sich wasserfallartig über seine hohen Wangenknochen ergossen hatten und von seinem Kinn tropften.
Rote Tupfer landeten auf dem weißen, hochgeschlossenen Stoff seiner Robe und breiteten sich zu großen, dunklen Kreisen aus.
Kacey erschrak vor sich selbst, zuckte zurück, entfernte sich von dem Spiegel, als hätte er darin einen Dämon erblickt.
Er wusste, was mit ihm passierte. Und er hatte Angst, dass er nicht stark genug sein würde.
Taumelnd wanderte er durch sein Arbeitszimmer, stieß mit den Schultern gegen Bücherregale, riss Stühle um, fegte Dokumente vom Tisch, während er sich zur Tür voran arbeitete.
Er schaffte es bis ins Schlafzimmer, dann überkam ihn eine neue Welle. Wieder ein Schlag von innen gegen sein Brustbein. Es war, als ob Knochen barsten. Er schnappte nach Luft, stolperte vorwärts und hielt sich an der geschnitzten Säule des Bettgestells aufrecht.
»Magister, geht es Euch gut?« Die junge Studentin erhob sich im Vorzimmer aus ihrem Stuhl, Kacey konnte ihre Schritte hören.
»Nein!«, rief er und streckte die Hand aus. Die Tür flog zu, obwohl er nicht einmal in ihrer Nähe gewesen war.
Er hörte einen erschrockenen Aufschrei.
Selbst verwundert blickte er auf seine ausgestreckte Hand, als erkenne er sie nicht wieder.
Die Krallen griffen nach seinem Verstand, der Schmerz raubte ihm die Sicht.
»Magister?« Die Studentin klang ängstlich und besorgt zugleich.
»Ich bin… unpässlich«, presste er hervor und stolperte zur Tür, während er sich zwei Finger in die Schläfen drückte. »Verzeih, Moonie, ich… ich brauche etwas Schlaf. Komm morgen wieder.«
Stille. Kacey erreichte die Tür, schloss sie ab und lehnte sich schwer atmend dagegen.
»Soll ich nach einem Heiler rufen?«, fragte sie unsicher durch das dicke, dunkle Holz.
»Nein, ich bin nur erschöpft.« Seine Stimme klang beunruhigend gepresst, doch so sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht, gesund zu klingen.
Sie zögerte noch, doch dann hörte er, wie sie sich entfernte und ihren Umhang vom Nagel nahm. Er konnte noch hören, dass sie etwas sagte, vermutlich verabschiedete sie sich, aber er verstand die Worte nicht mehr, denn in seinem Kopf dröhnte es.
»Neiiiiiiin!«, knurrte er leise und nahm den Kampf gegen sein Innerstes auf. Er stolperte zum Bett und zog sich darauf wie ein verletzter Panther auf seinen Ast. Er wusste nicht, was er tun sollte, er wusste nur, dass er das, was in ihm vorging, aufhalten musste. Und das konnte er vielleicht nur, indem er sich dem Schmerz entgegenstellte. Es fühlte sich an, als ob sich ein Loch in seine Brust brannte, und gleichzeitig saß ein Drache in seinem Geist hinter dicken Gittern und wütete.
Vor knapp acht Jahren hatte Sarsar, Riaths und Xaiths Bruder, in Zadest im Gewölbe eines Turmes, die außer Kontrolle geratene Magie eines Götterportals auf die damals Anwesenden übertragen und sie mit einem Siegel verschlossen, damit sie niemals in falsche Hände geraten konnte. Sie alle, Kacey eingeschlossen, waren Gefäße, Gefängnisse für eine intelligente, gefährliche Macht.
Und genau diese Magie versuchte nun das Siegel zu brechen und Kaceys Verstand zu übernehmen.