Читать книгу Das Tagebuch des Schattenwolfprinzen - Billy Remie - Страница 10

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Gibt es keinerlei Chance auf einen Sieg, so hoffe, das deine Füße flinker als deine Hände und deine Beine stärker als deine Arme sind, denn beides benötigtest du zur erfolgreichen Flucht. – Fehlt es dir an beidem, so bete, dass du nicht allein fliehen musst.

Zehn Jahre zuvor ...

Es war ein schöner Morgen. Ein frühlingshafter Morgen, zumindest für Carapuhr. Die Sonne fiel durch die hohen Tannen und durchsetzte den Wald mit Lichtstrahlen. Mutter war mit uns in den Garten gegangen. Ich sah mich nach ihr um. Sie kniete in ihrem wunderschönen Kleid aus eisblauer Seide und weißer Spitze vor einem Blumenbeet und pflanzte die ersten Blumenzwiebeln in die feuchte Erde.

Es ist nicht lange Frühling in Carapuhr, das hatte sie mir einmal erklärt, als ich nachfragte, warum sie so früh die Beete bepflanzte und riskierte, dass aus den Zwiebeln nicht ihre geliebten Blüten wuchsen. Da die fruchtbaren Monate in Carapuhr nur kurz waren und nur in bestimmten Regionen eintraten, musste man so früh wie möglich pflanzen, auch das Korn der Bauern auf dem Feld wurde früh angepflanzt. Mutter erklärte mir im Jahr davor mit trauriger und mitleidvoller Miene, dass die meisten Bauern kaum die Hälfte Korn und Gemüse vor Wintereinbruch retten konnten, und von dem, was übrig war, mussten sie noch einmal den Großteil an ihren Gutsherrn abgeben.

Vor einem Jahr habe ich nicht verstanden, weshalb es sie traurig machte, bis sie mich im Winter mit in ein Dorf außerhalb der adeligen Ländereien nahm. Es war schlimm. Es stank, es war dreckig, aber am schlimmsten war die Kälte, selbst in den Häusern, die ehe einsturzgefährdeten Schuppen glichen. Die Kinder waren dünn, kaum mehr als etwas Haut auf knochigem Gerüst. Aber es war nicht der Anblick, der mich schockiert hatte, sondern die unbeschreibliche Traurigkeit und der Kummer in den Augen meiner geliebten Mutter. Ich wollte, dass diese Umstände sie nie wieder derart bekümmert dreinschauen ließen, ich wollte sie glücklich machen und sie wieder lächeln sehen.

Seither schmeckte mir das Essen aus unserer Küche nicht mehr. Oft nahm ich die Reste eines Mahls und flehte meine Mutter an, alles an die hungernden Bauern zu verteilen. Das taten wir auch und sie lächelte mich dabei immer fröhlich und voller Stolz an.

Doch eines Tages hatte Vater uns erwischt. Er schrie, er hob die Hand, und Mutter weinte, während sie mich schützend im Arm hielt. Seitdem haben wir nie wieder zusammen Brot an die Hungerten verteilt.

Bei diesem Vorfall war ich acht Jahre alt gewesen; und an diesem schönen Frühlingsmorgen, war ich bereits neun, fühlte mich aber schon ganz erwachsen. Ich fühlte mich stark und unbezwingbar, ich beschützte meine Geschwister und meine Mutter, zumindest stellte ich es mir gerne so vor, wenn auch gleich allen bewusst war, das der größte Schutz für uns allesamt die Leibwachen waren, ohne die wir niemals die Mauern unserer Burg verlassen würden. Ja selbst jetzt standen sie an den Mauern des Burggartens. Strammstehende Männer in glänzenden Rüstungen mit Schild und Schwert, die Wappenröcke waren in einem dunklem Blau und einem blutrotem Rot, auf den Schilden prangten die goldenen Umrisse eines Greifs.

Ich mochte die Wachen nicht. Soldaten mochte ich nicht. Alle, die Rüstungen trugen, mochte ich nicht. Sie waren so steif, wie Puppen, ihre Gesichter waren undurchdringlich, zeigten keinerlei Emotion, das mochte ich nicht. Es war besser zu wissen, wie die eigenen Untertanen zu einem standen, statt auf dämliche Förmlichkeiten zu bestehen.

Derrick konnte man zum Beispiel ansehen, was er dachte. Vater sagte, es sei eine Schwäche und deshalb wäre Derrick auch eine schlechte Leibwache. Doch ich sah das anders. Ich wusste, was Derrick wütend machte, was er mochte, was er nicht mochte, so konnte ich in schlechten Zeiten – immer dann, wenn seine Geduld mit mir am Ende war –, seine Motivation heben.

Wie ich meine Mitmenschen dazubewege, genau das zutun, was ich von ihnen erwarte, hat mir niemand beigebracht. Ich war jung, aber schlau.

Mein Lehrer Menard, der alte Schamane, sah meine Methoden nicht gerne. Er behauptete, so sei das Wesen des Bösen. Doch wenn er versuchte, mir Politik beizubringen, wies ich ihn jedes Mal daraufhin, dass es ein König mit seinen Untergebenen auch nicht anders handhabte. Jedenfalls ein kluger König. Ist es denn nicht friedvoller und wesentlich risikoärmer, jemanden zu manipulieren, statt ihm mit Gewalt zu drohen oder ihn mit einem Abkommen zu kaufen?

Loyalität kann man nicht kaufen, das hatte Mutter mir erklärt. Wer einmal Silber annimmt, der nimmt es wieder ... aber dann vielleicht von einem Feind.

Ich selbst kam auf die Idee, dass ich mit Manipulation wesendlich mehr erreichte, als mit Diplomatie. Und wo die Manipulation versagt, gibt es immer noch das Schwert in der Scheide, das jederzeit gezogen werden kann. Wer nicht folgt, muss bluten. Ein Satz, der mir mein Vater beibrachte. Auch wenn er ein Tyrann und in meinen Augen ein Feigling war, jene Worte hatten sich früh in mein Gedächtnis eingebrannt, sie gehörten zu meinem Kodex.

Doch im Gegensatz zu ihm, drohe ich nicht, ich verhandle nicht. Nicht einmal beim Kartenspielen mit Derrick.

Mutter wäre empört, wenn sie wüsste, dass meine Leibwache mir lasterhafte Glücksspiele beibrachte, aber sie wusste zum Glück nichts davon.

Derrick hatte mich in den Grundlagen des Glücksspiels unterwiesen und innerhalb kürzester Zeit hatte ich es zu meinem Spiel erklärt. Niemand konnte hinter meine Fassade sehen, niemand hat es je geschafft, mich zu durchschauen, ich konnte jeden Spieler so manipulieren, dass er glaubte, ich sei immer im Vorteil, obwohl mein Blatt auf der Hand meist ziemlich mies war. Derrick verliert bei jedem Spiel sein ganzes Silber, das er von meiner Familie als Bezahlung erhält.

Ich habe damals schon gewusst, dass Derrick für mich nützlich sein könnte, als ich den König bat, sein Leben zu verschonen und ihn dafür zur Strafe ein Leben lang in meine Dienste zu stellen. Mal vom Training im Schwertkampf und den Glücksspielen abgesehen, hatte Derrick mir auch kleinere Tricks beigebracht, die ich weder von meinem echten Kampflehrer noch von Menard gelernt hätte. Dank Derrick konnte ich mittlerweile recht gut mit einer Armbrust umgehen, erst einen Tag zuvor hatte ich im Wald ein Kaninchen damit geschossen. Ich konnte Schlösser knacken, mich leise bewegen, in den Schatten verschwinden, selbst das Reiten hatte Derrick mir besser erklären können als der Reitlehrer, der von Vater bezahlt wurde. Mittlerweile konnte ich mich sogar im vollen Galopp im Sattel halten und dabei mein Schwert ziehen und eine Übungspuppe im Vorbeireiten in Zwei teilen.

Derrick war der große Bruder, der mir gefehlt hatte. Er unterwies mich in Dinge, die kein Gelehrter wusste. Natürlich alles auf mein Drängen und Quengeln hin. Auch beim Glücksspiel murrte Derrick, dass er wegen mir letztenendes doch noch hingerichtet werden würde, sollte je jemand erfahren, dass er mir solche Lasterhaftigkeiten beibrachte.

Beim Kartenspielen konnte ich mittlerweile gut bluffen – so nannte Derrick das – aber mir fehlte es noch an der Fähigkeit, andere beim bluffen zu durchschauen. Nicht beim Kartenspiel, sondern auch im wahren Leben.

Zum Beispiel vor zwei Wochen, als ein Botschafter der Elkanasai zu Verhandlungsgesprächen gekommen und meinen Vater aufgesucht hatte. Die Truppen der Elkanasai wollten unser Land friedlich passieren, sagte das Spitzohr. Freundlich und liebenswert hatte dieser Botschafter gesprochen, mit lieblicher Stimme und ebenso lieblichem Aussehen, ich hatte bis dorthin nie einen Mann mit spitzen Ohren in Echt gesehen ... Ich war vollkommen verblüfft von dessen Anmut und Schönheit. Nie hätte ich erwartet, hinter einem solch schönen Einband einen so hässlichen Text zu lesen. Noch während der angeblichen Verhandlungen hatte der Botschafter versucht, den Wein meiner Mutter zu vergiften. Zum Glück war mein Onkel, Baron Jostein, anwesend gewesen und hatte den Mordversuch untergraben. Mein Onkel – der Bruder meines Vaters – hatte den Kopf des Elkanasai per Katapult zurück zu dessen Truppen geschickt, während mein Vater untätig grimmig dreingeschaut hatte.

Ich habe mir zu diesem Zeitpunkt gewünscht, der Baron wäre mein Vater.

Außerdem war ich wütend auf mich, weil ich diesen spitzohrigen Bastard nicht von vorneherein durchschaut hatte.

»Seit nicht so streng zu Euch, Kleiner«, hatte Derrick versucht, mich aufzumuntern. »Mal gewinnt man, mal verliert man.«

»Du bist noch ein Kind«, sagte Mutter mit ihrer süßen Engelsstimme und ihrem Lächeln, das heller als die Sonne strahlte. »Kinder glauben, was sie sehen. Kinderherzen sind rein, sie sollten nicht mit schlimmen Absichten rechnen. Es war nicht dein Fehler.«

Aber ich war kein Kind! Durfte es nicht sein. Mein Vater war ein Feigling, und wer sollte diese Familie schützen, wenn nicht ich?

Mein Onkel? Das könnte ich aus Ehre und Stolz niemals zulassen.

Nein, es war meine Pflicht, sie zu schützen!

»Manchmal geht das nicht«, hatte Menard mir mit der geduldigen Stimme eines alten und weisen Lehrers erklärt. »Manchmal kann man die, die man liebt, nicht schützen. Das liegt aber nicht in deiner Hand.«

»In welcher Hand denn sonst?«, hatte ich wissen wollen.

»In Gotteshand«, war seine Antwort gewesen.

Ich stellte keine weiteren Fragen mehr, die mir keiner ehrlich beantworten konnte. Wenn ich Gott den Schutz meiner Familie überließ, war ich nicht besser als mein feiger Vater, der nur gegenüber Frauen und Kindern die Fäuste erheben konnte.

»Steht auf, Kleiner!« Derricks Stimme holte mich aus meinen zornigen Gedanken. Er stand plötzlich neben mir, fein gekleidet in seine Leibwächter Rüstung und dem blauroten Wappenrock meiner Familie, er trug keinen Helm, tat er nie, und der kühle Frühlingswind strich ihm durch sein zotteliges, schwarzes Haar. »Ihr erkältet Euch sonst noch, Euer Gnaden«, brummte er zu mir hinab.

Ich saß im feuchten Gras, neben der Decke, auf der die Zwillinge, meine Schwestern Irmi und Ann – beide gerade erst ein Jahr alt – , im Schatten einer Tanne lagen. Die kalte Nässe war schon durch meine Hose durchgedrungen, aber ich würde nicht aufstehen, ich musste meine Schwestern beschützen und ein wachsames Auge auf meine Brüder haben, die unweit entfernt von Mutter einem gelben Schmetterling nachjagten. Melvin war fünf und Haakon erst drei Jahre alt, ich musste auf sie achten, solange Mutter mit ihren Blumen beschäftigt war.

Ich nahm es ihr nicht übel, das sie sich die Zeit nahm und Blumenzwiebeln einpflanzte, während sie mir die Aufsicht meiner Geschwister überließ, denn die Freude in ihrem Gesicht, sobald die erste Blüte aus einer Knospe geboren wurde, war unbezahlbar. Nichts auf der Welt konnte mein Herz so erwärmen wie das Lächeln meiner wunderschönen Mutter, mit ihrer dunkleren Haut und ihrem ebenholzschwarzen Haar, das ihr in langen Wellen wie ein Wasserfall über den schmalen Rücken fiel.

»He!« Derrick wollte mich mit seinem Fuß anschupsen, weil ich ihn ignorierte. Doch er kam gar nicht dazu, denn ich stieß ihm meinen Ellebogen in den Schritt.

Derricks schmerzerfülltes Grunzen glich dem eines Stieres; ich musste schmunzeln.

Im Augenwinkel sah ich ihn auf den Hintern fallen, unmittelbar neben mir. Er fluchte unterdrück, aber leise genug, damit Mutter es nicht hörte.

»Ihr solltet einen Lendenschutz tragen, Sir Derrick Einar«, spottete ich.

»Wie kann ein Bursche in diesem Alter nur schon so ein verdammter ...« Derrick suchte nach einer passenden Bezeichnung, seine Stimme klang vor Schmerz erstickt, er hielt sich noch immer den Schritt.

Ich sah ihn neugierig an, denn mein Wortschatz hatte sich seit Derricks Bekanntschaft um ein Vielfaches an Beleidigungen erweitert.

Doch Derrick besann sich und schenkte mir ein aufgesetztes Lächeln. »Ihr seid ... so ein reizendes Kind ... Euer Gnaden.«

Ich schnaubte und drehte mein Gesicht wieder in Mutters Richtung. ›Reizendes Kind‹ war aus Derricks Mund gleichzusetzen mit der Bezeichnung ›Drecksack‹. Er beschimpfte mich oft als Drecksack, aber auch als Bengel, Plagegeist, Satansbraten und Teufelsbrut. Aber ich wusste, er meinte es nicht ernst, zumal es sich bei ihm fast wie Komplimente anhörte. Zugegebenermaßen hatte ich diese Bezeichnungen auch oft verdient ... und irgendwie mochte ich es, wenn er mir derartige Spitznamen verlieh.

»Ich bin kein Kind«, brummte ich verdrossen in die Stille hinein, in der nichts weiter als Derricks schwerer Atem und das Zwitschern der Vögel in den Tannen zu hören gewesen war.

»Dann lasst Euch sagen, von Mann zu Mann«, begann Derrick und versuchte, sich richtig hinzusetzen, wobei er das Gesicht zu einer hässlichen Maske verzog, als täte ihm der Schritt noch immer furchtbar weh. »Ein Mann tritt oder schlägt niemals und unter gar keinen Umständen einem anderen Mann in die verdammten Kronjuwelen!«

Neugierig musterte ich ihn. »Und wenn es um Leben oder Tod geht?«

Derrick verengte skeptisch seine Augen.

»Angenommen, man verliert im Kampf Schwert und Schild, und die einzige Möglichkeit, das eigene Leben zu retten, wäre ein gezielter Tritt oder Schlag in die Weichteile des Feindes ... ich würde diese Chance nicht verstrichen lassen.«

Ich konnte sehen, wie es in Derricks Schädel arbeitete.

Doch er erwiderte nur ausweichend: »Es ist nicht ehrenhaft, so zu kämpfen.«

»Dann soll ich sterben, um ehrenhaft zu bleiben?«

Derrick öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich darauf wieder und zog die Stirn kraus.

»In einem Kampf um Leben und Tod würde ich nie ehrenhaft kämpfen.« Ich wandte meine Augen von Derrick und blickte durch den Garten zu einer Wache, die in der Nähe meiner Mutter stand. Etwas an dieser Wache war seltsam. Vielleicht war es nur die Tatsache, dass sie ungewöhnlich nahe bei Mutter stand, doch ich hatte plötzlich ein ungutes Gefühl, als ich sie erblickte.

Derrick starrte mich nachdenklich von der Seite an. Er sah mich oft so an. Weder schien er meine Ansichten zu teilen noch schien er sie zu missbilligen. Ich glaube, er fragte sich, wie ein Neunjähriger derartige Gedankengänge formen konnte.

Weder hatte ich diese Lehren von Menard, noch von sonst einem Lehrer. Nein, ich hatte diese Weisheiten aus Büchern. Aus all den Räubergeschichten, die meine Mutter so gerne las. Sie wusste nicht, dass ich mich nachts in die Bibliothek schlich und im Schein einer winzigen Kerze jedes Buch las, das auch nur im Geringsten mit Dieben und Räubern zu tun hatte.

Die Straße, oder besser gesagt, das Leben auf der Straße, hatte einen verlockenden Ruf, dem ich gerne gefolgt wäre. Doch Mutter und meine geliebten Geschwister brauchten mich und ich würde nie ernsthaft darüber nachdenken, sie zu verlassen.

»Manchmal frage ich mich, woher Ihr Eure ganzen Gemeinheiten nehmt.« Derrick rieb sich den Schritt kopfschüttelnd.

Woher ich meine Gemeinheiten hatte? Nun, Weisheiten erhielt ich aus meinen Büchern und deren Geschichten, aber meine Fähigkeit, ohne Gewissen jemanden wehzutun, war vermutlich angeboren. Oder ein faules, ekliges Stück der Gene meines Vaters, der ebenfalls nie Reue zeigte, wenn er Gewalt anwandte.

Ich kratzte mich am Ohr, ehe ich gelangweilt erwiderte: »Wie gesagt, tragt das nächste Mal einen Lendenschutz. Oder wagt es einfach nicht, mich jemals wieder treten zu wollen.«

»Ich werde es unter die anderen zehntausend Dinge setzen, die ich nie wieder in Eurer Nähe tun sollte«, erwiderte Derrick.

Ich drehte ihm das Gesicht zu und wir schmunzelten uns belustigt an.

Er hatte Recht, es gab viele Dinge, die man im Umgang mit mir beachten sollte. Mutter hatte schon immer gesagt, mit mir sollte man vorsichtig verfahren, mit Sturheit käme man nicht weiter. Sie erklärte anderen immer, ich sei ein ›aufbrausendes Kind‹, leicht reizbar. Mit anderen Kindern konnte ich nicht gut, nur mit meinen kleinen Geschwistern. Befreundete Adelige nahmen nach einem Besuch unserer Burg meist weinende oder verletzte Kinder wieder mit nach Hause. Doch Mutter entschuldigte sich nie für mich, Mutter sagte immer nur, es sei die Schuld der anderen, wenn sie nicht wussten, wie sie mit mir umzugehen haben. Die meisten adeligen Kinder, samt ihrer Eltern, hatte ich von der Burg vergrault. Kindern konnte man eben nicht beibringen, einem anderen Kind zu gehorchen. Das nervte mich, ich konnte es kaum erwarten, erwachsen zu sein, um Erwachsenen beizubringen, vor mir zu knien.

So wie Derrick, er hatte schnell gelernt, zu knien. Derrick war schlau, er murrte zwar, er fluchte, er gab mir Spitznamen, aber ich wusste, er war mir gegenüber loyal. Er war der erste, den ich dazu gebracht hatte, mir allein seine Treue zuzusichern, und ich wusste, er würde sich mit mir zusammen jedem Feind entgegenstellen. Ich hoffte, dass Derrick nicht der einzige blieb, auf den ich mich verlassen konnte. Aber noch war ich jung und die Armee meines Vaters zahlreich, darunter würde ich im Laufe der Jahre sicher genug Männer finden, deren Loyalität ich mir irgendwie sichern konnte.

Das Quengeln eines Kindes riss mich unstet aus meinen Überlegungen. Ich warf den Kopf herum und beugte mich eiligst über Irmi, ehe sie mit ihrem Weinen noch Ann aufweckte. Irmi machte mir oft Sorgen, Mutter sagte, sie habe Schmerzen und der Heiler fand einfach nicht heraus, welche Art von Schmerz. Aber was auch immer es war, meine Schwestern konnte sich auf mich, ihren großen Bruder, verlassen. Zwar konnte ich Irmi nicht die Schmerzen nehmen, aber wenn sie weinte, war ich sofort da um sie abzulenken.

Auch an diesem Tag beugte ich mich über sie und lächelte ihr in das niedliche Gesicht mit seinen dicken Pausbäckchen. Die Zwillinge hatten dunkles Haar wie Mutter und mein Bruder Melvin, nur Haakon und ich hatten Vaters helles Haar.

»Sieh her, Irmi«, säuselte ich und kitzelte ihren kleinen Bauch. Sofort lachte sie und das Weinen hörte auf. Dann hatte sie zum Glück doch keine Schmerzen, sondern vielleicht nur einen bösen Traum gehabt.

Melvin und Haakon kamen herangestürmt und warfen sich vor der Decke auf die Knie, ihre Hosen wurden dreckig, Vater würde deswegen wieder schimpfen, und Mutter die Strafe dafür erhalten.

»Was hat sie?«, fragte Melvin besorgt.

»Nichts«, beruhigte ich meine kleinen Brüder. »Sie hat nur schlecht geträumt.«

»Sie kann träumen?« Melvins große Kinderaugen starrten mich verblüfft an.

»Du kannst doch auch träumen«, erwiderte ich. »Wieso sollen Irmi und Ann keine Träume haben?«

»Sie sind noch so klein«, antwortete Melvin. »Ich erinnere mich nicht, ob ich in diesem Alter geträumt hab, Mel.« Er kratze sich am Kopf.

»Ich auch nicht, aber es muss so sein.«

»Wieso, Mel?«

Kinder in diesem Alter konnten anstrengend sein ...

Ich streckte schmunzelnd einen Arm aus und verwuschelte sein Haar. Er versuchte, meine Hand genervt wegzustoßen.

»Stell deine komplizierten Fragen Menard, ich bin sicher, er findet auch dafür Antworten.«

Mit heruntergezogenen Mundwinkeln versuchte Melvin seine Haare glatt zu streichen; sein schönes, dunkles und seidenglattes Haar.

»Ich hab mich dreckig gemacht, Mel«, wehte mir Haakons helle Stimme entgegen. Er saß mit hängendem Kopf eingeschüchtert und beschämt vor mir. Er hatte keine Angst vor mir, sondern vor der Reaktion unseres Vaters. Flehendlich sahen seine eisblauen Augen zu mir auf und es tat mir im Herz weh, das er solche Furch hatte.

Mit einem Schmollmund zog er das seidene Hemd tiefer, in dem armseligen Versuch, die Schmutzflecken an den Knien zu bedecken.

»Zwecklos!« Ich hinderte ihn daran und legte meine Hand um sein Kinn um ihn dazu zu bringen, zu mir aufzusehen. »Wenn du kein Kleid aus deinem Hemd machen willst, wird das nichts nützen.«

Melvin sah an sich hinab und erkannte, dass auch seine Knie schmutzig waren. Er sah sich besorgt nach Mutter um, ehe sein Kopf zu mir flog und seine kindlichen Augen ebenso flehend wie Haakons zu mir aufblickten. »Was sollen wir jetzt tun, Mel?«

Ich seufzte, doch böse war ich ihnen nicht. In ihrem Alter habe ich mich viel schmutziger gemacht und seit Derrick da war, war ich nicht einmal mit unversehrter Kleidung zurückgekehrt. Vater hatte mich deshalb schlagen wollen, doch ich trat ihm trotzig entgegen und habe erklärt, dass ich lediglich mein Kampftraining absolviert habe. Er ließ daraufhin eine leichte Lederrüstung für mich anfertigen, die ich seit drei Monaten trug. Aber Haakon und Melvin waren noch zu jung für Rüstungen und Kampftraining. Sie konnten nicht einmal mit zwei Händen ein Holzschwert festhalten.

»Wir gehen zum Fluss«, erklärte ich ihnen und erhob mich.

Melvin blinzelte mich nervös an. »Aber wir dürfen nicht ohne Eskorte zum Fluss!«

»Derrick wird uns begleiten.« Kaum hatte ich es ausgesprochen, erhob sich Derrick bereitwillig.

»Und Irmi und Ann?«

»Wir nehmen sie mit.«

Aber Melvin schüttelte hastig den Kopf. »Wenn Vater uns erwischt ...«

»Er wird nicht kommen«, warf ich ein. In den Jahren seit meiner Geburt habe ich ihn noch nie im Garten gesehen, schon gar nicht, wenn Mutter und ich hier waren.

Melvin knetete seine Finger und starrte zu Boden. Er knetete immer seine Finger, wenn er nervös war, es war so seine Eigenart, die ich nie wieder bei irgendwem sonst gesehen habe.

»Na kommt schon«, drängelte ich. »Bevor Mutter fertig ist und ihr mit dreckigen Hosen zurückmüsst.«

»Vielleicht können wir uns umziehen, bevor Vater uns sieht, Mel?«, fragte Melvin.

Ich warf ein: »Und wenn er am Tor wartet? Wenn er bei den Ställen ist?« In letzter Zeit war Vater oft außerhalb der Burg zu sehen, er rüstete seine Armeen für die Verteidigung gegen die Elkanasai und hatte dahingehend viel mit den Heerführern zu besprechen.

Ich war erst neun Jahre alt und sein erstgeborener Sohn, aber er würde mich dennoch in die Schlacht schicken, das hatte ich erfahren, als Vater und Mutter lautstark deshalb gestritten hatten. Vater hatte sich natürlich durchgesetzt, es schien, als wollte er mich loswerden. Ich konnte jedenfalls nur hoffen, dass ich bis dorthin noch Zeit zum Üben hatte, denn gut war ich nicht wirklich mit Schwert und Schild, nicht einmal nur mit dem Schwert. Und bis zu diesem Zeitpunkt muss ich meinen Brüdern gezeigt haben, wie sie Streit mit Vater umgingen, sie mussten so klug sein wie ich, bevor ich ging und vielleicht nicht zurückkehrte. Denn sollte das der Fall sein, lag es an Melvin, Mutter zu beschützen.

Sie war das kostbarste Juwel in dieser düsteren Burg. Von mir aus konnten Feinde unsere Schatzkammern plündern, aber Mutter bekamen sie nicht!

Derrick räusperte sich und lehnte sich ein Stück zu mir: »Bedenkt die Strafe für Eure Brüder, sollte Euer Vater am Fluss sein oder zufällig doch in den Garten kommen.«

Ich presste die Lippen zusammen, während ich nachdachte.

Schließlich seufzte ich erneut und streckte fordernd meine Hand aus. »Gebt mir eure Hosen, ich werde alleine zum Fluss gehen und die Flecken raus waschen.« Was tat man nicht alles für seine Brüder? Sagen wir mal so, es gab nichts, was ich nicht getan hätte.

»Aber du kannst nicht alleine gehen!« Melvin hatte Angst um mich.

»Vertrau mir, kleiner Bruder«, ich lächelte zu ihm hinab und zwinkerte. »Keine Sorge, ich und Derrick kommen unbeschadet zurück.«

Melvin sah Derrick an und bat ihn: »Passt gut auf Mel auf, Sir Derrick.«

Derrick schmunzelte, doch ehe er etwas sagen konnte, brummte ich: »Wenn, dann passe ich auf Derrick auf!«

Ich brauchte doch keinen Wachhund!

Sie gaben mir ihre Hosen. Zusammen mit Derrick verließ ich den Garten über die Mauer an einer Stelle hinter dichten Tannen. Derrick hatte mir den Ort gezeigt. Na ja, mehr oder weniger. Ich habe ihn einst beschattet, weil ich das Gefühl hatte, das er etwas verheimlicht. So verfolgte ich ihn in einer Nacht von seinem Zimmer aus in den Garten, über die Mauer, durch den Wald und durch die Felder bis hin zu einem Dorf und in ein Bordell. Sein Gesicht, als er mich dort erblickte, war unbezahlbar. Mein Gesicht, als ich von Dirnen schamlos angemacht wurde, obwohl ich nur ein Kind war und nur, weil ich feine Kleidung am Leib trug, wollte ich gar nicht sehen; Derrick lacht heute noch darüber.

Er sagte: »Ein Kind weiß nichts mit weiblichen Kurven anzufangen.« Und verscheuchte die Dirnen, ehe er mich zurück zur Burg brachte, ohne jemanden etwas von diesem Vorfall zu erzählen. Sein Schweigen darüber hatte mich vor Schlägen meines Vaters bewahrt.

Je näher Derrick und ich nun dem Waldfluss kamen, je kühler wurde es. Im klaren Flusswasser schwammen sogar noch Eisbrocken vom langen Winter, erst vor kurzem war die dicke Eisfläche über dem Fluss aufgebrochen.

Ich ging hinunter zum Flussbett, Derrick wartete oben am Rande der Waldstraße, die Hand lag abgestützt auf dem Schwertknauf an seiner Hüfte. Allseits bereit, unser Derrick. Er würde nie zulassen, dass mich jemand von hinten angriff. Ich vertraute ihm blind. Wenn man einem Mann das Leben rettete, konnte man sich beinahe voll und ganz auf seine Treue verlassen. Ich konnte nicht sagen warum, bis dorthin wurde mir von niemand das Leben gerettet.

Ich streckte eine Hand in das eiskalte Flusswasser, der Schmerz störte mich nicht, ich hatte mich bereits an die Temperaturen gewöhnt und besaß die angeborene dicke Haut eines Eingeborenen. Barbaren froren nicht.

Nachdem ich einen sauberen Stein herausgefischt hatte, tunkte ich die Kniepartie von Haakons Hose in das Wasser und versuchte mit dem Stein, den Dreck abzuwaschen.

Gut, eine Waschfrau würde ich nicht werden, aber das wollte ich zum Glück auch nicht, nach einiger Zeit war der Fleck aber kaum noch zu sehen. Allerdings waren die dreckigen Stellen nun nass. Ich hoffte, sie würden trocken, bevor wir den Garten verließen.

Als ich oben bei Derrick ankam, schüttelte dieser belustigt seinen Kopf. »Ihr habt wahrlich für nichts ein Talent.« Er schnallste mit der Zunge und nickte spöttisch auf die Hosen, die ich über meinen Arm gelegt hatte. »Nicht einmal waschen kann er ...«

Ich schnaubte abfällig und ging an ihm vorbei. »Ich bezweifle, dass du es kannst.«

»Aber ich kann kämpfen ... und reiten.«

Ich hätte darauf gerne etwas Passendes erwidert, doch was sollte ich gegen die Wahrheit hervorbringen? Weder war ich ein guter Reiter noch ein talentierter Schwertkämpfer. Also trottete ich durch den Wald zurück zum Garten.

Derrick folgte. »Ich sag’s Euch, Euer Gnaden, der Trickreichtum und die List sind Eure Talente.« Damit wollte er mich wohl beschwichtigen. Derrick wusste, wenn ich nichts mehr erwiderte, war ich meistens verärgert. Aber nicht an diesem Morgen, ich hatte ein ungutes Gefühl seit ich diese Wache gesehen hatte und wollte nur schnell zurück.

»He! Wartet mal!« Derrick keuchte hinter mir vor Anstrengung. Das war wohl so, wenn man ein gewisses Alter erreichte. Er war zehn Jahre älter als ich, ich hätte ihn nie als alt bezeichnet, aber wenn es um schnelles Laufen oder lange Strecken zu Fuß ging, hing ich ihn jedes Mal ab, und er geriet ins Schwitzen, wie die zahlreichen Mätressen meines Vaters, wenn Mutter den Raum betrat.

»Warum so eilig, Kleiner?«, keuchte Derrick hinter mir.

»Ich habe kein gutes Gefühl, Derrick.«

Sofort wurde Derrick hellhörig. »Wie meinen?«

Das letzte Mal als ich ein schlechtes Gefühl äußerte, wurden Derrick und ich im Wald beim jagen von Banditen überrascht. Es war das erste Mal, das ich einen echten Kampf miterlebt hatte, zum Glück war ich im Besitz der Armbrust und hatte die Möglichkeit, Derrick zu unterstützen. Aber jetzt besaß ich keine Armbrust, nicht einmal einen Bogen – mit dem ich hätte noch weniger umgehen können – oder einen Schild. Die einzige Waffe war das Schwert meiner Familie, das mir Vater bei meiner Geburt vermacht hatte. Ich trug das silberne Schwert mit mir, seit ich groß genug war es umzuschnallen. Doch es war schwer und meine Arme zu ungeübt für die breite Klinge, ich würde es nicht halten können.

Wir hatten die Waldstraße verlassen und folgten einem kleinen Pfad durch das Unterholz, die Mauer war schon in Sicht, als ich urplötzlich stehen blieb.

Derrick schloss zu mir auf. »Was ist los?«

Ich hatte den Sog unter meinen Füßen schon gespürt, ich stand im tiefen Match. Der Geruch machte mir sorgen. Ich blickte nach unten und erkannte, dass wir in Blut standen.

Ich hob den Kopf und plötzlich war ich allein.

Es kam mir vor wie eine Vision. Die Atmosphäre um mich herum war drückend, der Wald leuchtete nicht mehr, rosaroter Nebel schmiegte sich um die Baumstämme, die Tannen waren nicht mehr grün, sondern rot. Alles war Rot, wie durchwässertes Blut.

Ich taumelte zurück, drehte mich um mich selbst. Ich hörte Derricks Stimme durch den Nebel, konnte ihn aber nicht sehen. Alles war verschwommen, wie in einem Traum.

Träumte ich?

Und dann kamen sie. Hände, tote Hände. Ich sah ihre Körper nicht durch den Nebel, nur die Hände und Arme. Halb verwest oder blutbeschmiert. Kleine Hände, Kinderhände, Babyhände. Die Hände einer Frau.

Ich stolperte rückwärts, fiel beinahe über eine Baumwurzel, die aus dem matschigen Boden ragte.

Die Mauer war verschwunden, ich sah nur einen roten Wald und Hände im Nebel, die nach mir griffen. Ich hörte meinen Namen, hörte meine Mutter unter all dem Stimmengewirr. Sie rief mich nicht, sie schrie und weinte unter Qualen ... ich konnte sie nicht retten.

Und dann war da das Weinen eines Babys. Eines Kleinkindes. Der Zornesschrei meines Bruders, das klagende Heulen meiner Schwestern und der helle Schrei aus Haakons Kehle, der mir in den Ohren klingelte. Er wurde lauter und lauter. Ich konnte die Tonlage nicht ertragen und klatschte meine Hände gegen meine Ohren, ich versuchte, mein Trommelfell mit den Handballen abzuschirmen, aber die Stimmen waren noch zu hören, denn sie waren in meinem Kopf.

»Nein!«, brüllte ich voller Zorn. »Verschwindet! Haut ab!« Ich presste die Hände auf die Ohren und petzte die Augen zu, meine Knie gaben nach und ich ging in die Hocke, kauerte wie ein kleiner Junge im roten Wald.

»Schnappt ihn!«, hörte ich die Rufe. »Er darf nicht entkommen! Holt ihn euch!« Gepanzerte Hände griffen durch den Nebel nach mir, versuchten, mich zu packen.

Ich riss mich los, fiel aber vorne über und kroch wie ein Wurm durch blutigen Matsch. Es stank, es war kalt. Im Traum fühlt man nicht, roch man nichts, kam es mir in den Sinn. Aber es musste ein Traum sein! Es musste einer sein!

Etwas packte mein Bein und versuchte mich zurück zu ziehen. »Lass mich los!« ich versuchte, zu treten, doch mein Tritt ging ins Leere. »Nein!« Ich wehrte mich, jedoch vergebens. Unaufhaltsam wurde ich durch den Matsch gezogen, immer schneller und schneller durch den blutigen Wald. Als ich zum Stillstand kam, drehte ich mich auf den Rücken und sah nur noch die silberne Klinge auf mich herab rasen ...

***

»Träume sind die einzigen Orte, zu denen wir stets alleine reisen müssen.«

Schweißgebadet erwachte ich und saß aufrecht auf meinem Nachtlager. Zwei Tage hatten wir zwischen uns und dem Dorf gelassen, das ich zuerst befreit und dann niedergebrannt hatte, um den Elkanasai die Schuld dafür zu geben. Die Dorfbewohner feierten den Namenlosen und seine Schattenwölfe, weil sie dank uns nun jetzt immerhin ein freies Leben hatten ... Nun ja, jedenfalls so lange, bis die Elkanasai einen anderen Trupp schickten und diesmal würden sie alle niedermetzeln, soviel stand fest. Zu helfen und ein Dorf zu befreien war nicht immer die gute Entscheidung. Hätte ich einfach nichts getan, würden einige Bewohner immerhin ihr Leben behalten, nun stand ihnen eine grauenhafte Strafe bevor, die Elkanasai sahen es nicht gerne, wenn man sich gegen sie stellte.

»Geht es dir gut?«

Derricks dunkle Stimme ließ mich den Kopf drehen. Er saß auf der anderen Seite des fast erloschenen Lagerfeuers und rieb sich die Hände in dessen Wärme. Es war dunkel und aus dem Wald konnten wir das Heulen echter Wölfe hören, die unweit von unserem Lager am Rande des Tannenwaldes umherstreiften.

Ich lehnte mich nach vorne und rieb mir das Gesicht. »Schlecht geträumt«, murmelte ich in meine Hände. Dann stand ich auf, ohne Derrick anzusehen und stampfte barfuss und nur halb bekleidet über den kalten Boden zu einem der Karren, die wir für unsere Vorräte benötigten. Dort hing ein Wascheimer mit Wasser.

Ich hatte keine Ahnung, wie viele meiner Brüder sich darin schon die Hände gewaschen hatten, oder Schlimmeres, und es war mir auch egal. Ungeachtet wie dreckig es wohl sein mochte, schöpfte ich mit meinen Händen etwas von dem Wasser und spritzte es mir ins Gesicht und auch in den Nacken, das half meistens, die Träume zu verscheuchen.

Hinter mir im Wald hörte ich das Hecheln eines Wolfs, vielleicht waren es auch mehrere. Aber sie zogen wieder ab, nachdem ich einen Stock in ihre Richtung geworfen hatte. Wölfe griffen selten Menschen an, es sei denn, man provozierte sie, sie gingen uns aus dem Weg. Die einzigen Wölfe, die ich fürchten musste, waren meine eigenen.

Derrick trat um den Karren herum und lehnte sich lässig dagegen. »Mein Bruder?«

Mein Blick war noch in den düsteren Wald gerichtet, dessen Tannen so dicht beieinanderstanden, dass nicht einmal das grelle Licht des Mondes sie durchdringen konnte. Ich stand vor einer schwarzen Wand.

Die Augen weiterhin in die Schwärze gerichtet, sagte ich zu Derrick: »Ich war wieder da. Vor zehn Jahren.«

Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich spürte deutlich, wie sich auch sein Körper verspannte.

»Aber es war nicht wie damals«, erklärte ich weiter, mein Blick geriet nun in Dimensionen, die ein anderer außer Derrick nicht hätte erfassen können. »Wir gingen zum Fluss, du und ich, und als wir zurückkamen ...«

»Ich war da, Mel, du musst es mir nicht beschreiben«, blockte Derrick ab.

Ich schluckte schwer, doch mein Blick war eine grimmige Maske. Ich drehte mich zu ihm um und sprach unbeirrt weiter. »Wir kamen nicht zur Mauer, in meinem Traum.«

Nun runzelte Derrick doch neugierig seine Stirn. Er wartete ab.

Ich starrte zu Boden, als ich weiter berichtete: »Ich blieb stehen und ... da war Blut ... überall. Überall war Blut. Ein blutdurchtränkter Wald ...«

»Ein Traum, Mel, nichts weiter.«

»Menard sagte, Träume zeigen uns unsere größten Ängste«, flüsterte ich. Und ich wollte doch vor nichts Angst haben! Das durfte nicht sein.

»Es ist lange her ...«

»Alles war verschwommen«, unterbrach ich Derricks armen Versuch, das Thema abzutun. »Und ich war plötzlich allein. Ich hörte sie schreien. Meine Mutter ... meine Geschwister ... Und ... und da waren ihre Arme ... Blut verschmiert und verwest ... als lägen sie schon zehn Jahre unter der Erde ... Sie griffen nach mir ... und ich rannte vor ihnen davon.«

»Dämonen«, glaubte Derrick. »Sie kommen in Träumen und lassen dich sehen, was nicht echt ist. Das war nicht deine Familie.«

»Vielleicht«, gab ich zurück. Aber wusste ich das mit Sicherheit? Sie hätten es auch wirklich sein können. Aus dem Totenreich. Es könnte doch möglich sein, oder?

»Vielleicht finden sie keine Ruhe.« Ich sah Derrick direkt in die Augen. »Möglicherweise war es ein Hilferuf. Sie verfolgen mich, weil ich der einzige bin, der ihnen ewige Ruhe bringen kann.«

»Mit Rache?« Derrick hörte sich skeptisch an.

»Mit Gerechtigkeit«, konterte ich und ballte eine Faust.

»Der Spalt zwischen Rache und Gerechtigkeit ist dünn«, warf Derrick ein. »Du verwechselt das eine sehr oft mit dem anderen, mein Bruder.«

Witzig, das sagte Menard auch stets zu mir.

Nachdenklich kaute ich auf der Innenseite meiner Wange.

Plötzlich stand Derrick vor mir und legte eine Hand auf meine Schulter. Er drückte brüderlich zu und versuchte sich an einem schiefen Lächeln. »Es war nur ein Traum. Wir sind über die Mauer. Du und ich. Und du warst nicht allein. Wir waren nicht allein. Wir haben getan, was wir konnten, Bruder. – Mal gewinnt man, mal verliert man.«

Doch ich schüttelte den Kopf.

»Du warst nicht allein!«, sprach Derrick auf mich ein. »Es war nur ein Traum, nicht die Wirklichkeit.«

»Damals war ich nicht allein«, stimmte ich zu, entfernte jedoch mit ernstem Blick seine Hand von meiner Schulter. »Aber in Träumen ist jeder auf sich gestellt.«

»Es war nur ein Traum«, wiederholte Derrick eindringlich.

»Vielleicht«, erwiderte ich und lief an ihm vorbei.

Ohne ein weiteres Wort ging ich zurück zum Lager, aber an Schlaf war eine Weile nicht mehr zu denken.

Das Tagebuch des Schattenwolfprinzen

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