Читать книгу Das Tagebuch des Schattenwolfprinzen - Billy Remie - Страница 7
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ОглавлениеWer einen getretenen Hund provoziert, muss mit dem Biss des Todes rechnen.
Carapuhr. Land des Schnees. Heimat der Barbaren. Meine Heimat.
Ich ging in die Hocke und fuhr mit den Fingerspitzen über die lose Schneedecke. Ein Sturm hatte über Nacht unsere Spuren verwischt.
Darauf konnte ich mich stets verlassen: darauf, dass mein Land mir treu blieb. Das es mich vor meinen Feinden beschützte. Mich versteckte.
Mein Land, meine Heimat, war meine größte Liebe. Wobei ich erwähnen sollte, dass ich ansonsten keine Sympathien für irgendetwas oder irgendwen hegte. Carapuhr war meine einzige Liebe. Eine Liebe, die mittlerweile tiefer reichte als die Liebe zu meiner Mutter, die nicht mehr unter uns weilt.
»Das sieht übel aus, mein Bruder.«
Ich hob den Blick und schirmte meine Augen mit der verletzten Hand ab, da mich die Morgensonne blendete. Die weiße Schneedecke brannte sich in meine Augäpfel.
Derrick, der mit Egid Einauge – den Namen hatte er seit unserer ersten Begegnung – an einem entfachten Lagerfeuer saß, deutete mit einem Kopfnicken auf meine nackte Schulter.
Mir konnte die Kälte nichts anhaben, ich war hier geboren und aufgewachsen. Neunzehn Jahre hatte ich bereits auf dem Buckel, und Schnee und Eiswind konnten meine dicke Haut kaum durchdringen.
Zugegeben, ich war seltsamerweise schmerzresistenter als andere Männer. Immer wieder wurde ich bestaunt, wenn ich mit verheerenden Wunden immer noch kämpfen konnte. Ich redete mir gerne ein, dass es an meiner mentalen Stärke lag, dass ich Schmerz anders wahrnahm als meine Begleiter, dass ich einfach Unwillens war, Schmerz zuzulassen. Ob es stimmte, vermochte ich jedoch nicht zu sagen.
Ich blickte auf die Wunde in meiner Schulter, sie schien sich entzünden zu wollen. Es machte mich wütend, dass mein Körper mich derart verriet. Wieso war er nicht in der Lage, sich selbst zu heilen? Der Pfeil hatte wohl eine rostige Spitze gehabt, oder ich hatte mir den Schaden selbst zugefügt, als ich ungeachtet der Folgen den Pfeil einfach herausgerissen hatte.
Ich knirschte mit den Zähnen.
Conni kroch hinter mir aus meinem Zelt. Schwester Conni, die schöne Barbaren-Conni, die zu meiner Bruderschaft zählte. Die Conni, die mit ihren sechsunddreißig Jahren meine Mutter hätte sein können. Jene Conni, die manchmal das Lager mit mir teilte, seit sie mich damals, als ich noch ein Junge gewesen war, auf ihres gelockt hatte.
Gerne behauptete sie mit ihrer rauen, lüsternen Stimme, sie habe mir die »Unschuld« genommen. Mich ärgerte diese Behauptung und mir juckten jedes Mal die Finger, wenn sie sich anmaßte, zu behaupten, an mir wäre je etwas unschuldig gewesen.
Ja, sie war die erste Frau gewesen, die mich berührt hatte, aber niemand hätte mir eine »Unschuld« nehmen können, wenn ich nie zuvor so etwas wie Unschuld besessen hatte.
Conni ging mir allmählich auf die Nerven. Ich bestieg ihren wollüstigen, weiblichen Körper nur, weil sie die einzige Frau unter uns war. Nach all den Jahren schien sie jedoch anzunehmen, ich hätte eine Schwäche für sie. Aber ich besaß keine Schwächen. Nicht eine einzige. Jeder war entbehrlich, vor allem Conni.
An diesem Morgen hätte ich mich ihr beinahe entledigt, als sie aus dem Zelt kam und sofort fürsorglich rief: »Ich helfe dir mit der Wunde!«
Sie wollte an mir vorbei zum Feuer, wohl um Utensilien zu besorgen.
Ich erhob mich und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Ihr schmales Gesicht flog herum, ihre verfilzten, langen, blondroten Haare folgten.
Das Geräusch, das meine Hand auf ihrer Wange verursachte, dieses Klatschen, war herrlich und wie Musik in meinen Ohren. Ich spürte, wie die Wut verflog und meinen Brustkorb freigab. Ich hatte nicht übel Lust, sie zu verprügeln. Aber ich war ja kein Monster.
»Derrick, mach mal eine Dolchklinge heiß«, trug ich meinem Freund auf.
Wenn es um die Versorgung meiner Wunden ging, ließ ich stets nur Derrick an mich heran. Conni hatte das auf die harte Weise lernen müssen. Dummes Ding!
Es interessierte keinen der Brüder, dass ich Conni geschlagen hatte. Unter uns Männern war ihr gewiss schon Schlimmeres widerfahren. Vor allem dann, wenn wir lange unterwegs und weit und breit keine einzige Menschenseele in Sicht gewesen war. Als einzige Frau unter schlimmen Schurken musste man sich eben behaupten können. Es war nicht meine Schuld, wenn Conni sich mal nicht wehren konnte und gegen ihren Willen genommen wurde. Sie hätte uns ja auch verlassen können.
Am amüsantesten fand ich es, wenn Manolo der Berg – der Name beschrieb wohl deutlich genug seine äußerliche Erscheinung – sie benutzte. Weil ich wusste, das Conni ihn nicht leiden konnte. Oft machte sie fiese Witze über sein bulliges Gesicht, das dem eines Stiers nicht unähnlich war. Meiner Meinung nach verdiente sie es, gerade von ihm gebumst zu werden.
Ich schubste Conni in den Schnee, sie hielt sich noch immer die Wange, als sie mit hasserfüllter Miene auf dem Boden landete. Dann ging ich zu Derrick und Egid Einauge und setzte mich zu ihnen.
Derrick hielt die heiße Dolchklinge hoch.
»Einauge, halt mich fest«, trug ich Egid auf, weil ich wusste, dass ich Derrick umbringen wollen würde, sobald er meine Wunde ausbrannte, obwohl ich ihn darum gebeten hatte.
Die Pranken des großen Egid legten sich um meine Oberarme. Ich nickte Derrick zu, der mit einem – man konnte es fast schon sadistisch nennen – Grinsen das heiße Eisen auf meine Wunde drückte.
Ich hielt Blickkontakt mit Derrick, der es genoss, mir Schmerzen zuzufügen. Aber versteht mich nicht falsch, er hasste mich nicht, er fügte anderen Männern einfach nur gerne kontrollierte Schmerzen zu. Das machte ihn immer fröhlich.
Die ersten Augenblicke spürte ich kaum etwas, aber dann fraß sich der Schmerz durch mich hindurch und ich brüllte aus zusammengebissenen Zähnen.
Ich hätte ihn wirklich am liebsten umgebracht.
Es roch nach verbranntem Fleisch – nach meinem verbrannten Fleisch.
Als es vorbei war, trat Lazlo das Narbengesicht zu uns und zog genüsslich den Duft ein. »Ah ... köstlich.«
Ich lachte humorlos auf. Gleich darauf verlangte ich von ihm zu erfahren: »Verfolgen sie uns?«
Lazlo war unser Späher und ich erwatete von ihm Perfektion. Gut, ich gestehen, ich verlangte von allen meinen Männern Perfektion. Wir waren zu wenige um uns Fehler zu erlauben. Unsere Feinde machten Fehler, wir aber nicht. Das erlaubte ich nicht.
Lazlo schüttelte gelassen den Kopf, er ließ sich am Feuer nieder. »Nein, nein. Hier ist weit und breit niemand.« Sein Blick zuckte zu Conni, die noch im Schnee saß und wegen mir schmollte. Lazlo zog die Nase hoch – er hatte ständig Schnupfen – und fragte mich: »Bist du fertig mit ihr?«
Ich überging die Frage, als ich wissen wollte: »Ist es noch weit bis zum nächsten Gasthof?«
»Nein«, antwortete Lazlo. »Bis zum Mittag sind wir dort.«
Ich nickte zufrieden. Dann deutete ich auf Conni und sagte zu Lazlo: »Nimm sie dir. Aber beeil dich, wir brechen bald auf.«
Mit einem lüsternen Grinsen ging Lazlo auf Conni zu.
Conni zog einen Dolch. Lazlo lachte.
Sie kämpften.
Lazlo wurde verletzt und Conni rannte davon.
»Ich wusste, dass das passiert«, lachte Derrick neben mir.
»Versuch du doch dein Glück und fang sie wieder ein«, rief Lazlo sauer. Fluchend wischte er sich das Blut von der Hand, durch die Conni ihre Dolchklinge gestoßen hatte.
Derrick schüttelte nur den Kopf, denn Derrick fasste Conni nicht ein. Aber nicht, weil er Mitleid mit ihr gehabt hätte, er ekelte sich nur vor benutzten Frauen. Jedenfalls behauptete er das stets.
Mir war das egal, ich bestieg alles. Ich hätte auch mit einem Astloch vorliebgenommen, wenn es denn eng und warm gewesen wäre. Viel Freude empfand ich dabei ohnehin nicht, mir ging es nur darum, den stetigen Druck in meinen Lenden loszuwerden. Und das konnte ich bei Conni ebenso gut wie ich es bei unberührten Frauen oder einer bezahlten Hure loswerden konnte. Am liebsten mochte ich es ohnehin, wenn sie sich wehrten. Aber Conni werte sich nicht, nicht einmal, wenn ich sie schlug oder sie würgte. Sie hatte für mich über die vielen Jahre einfach an Reiz verloren. Während mir als Junge nur ihre großen Brüste und ihr warmes Fleisch genügt hatten, spürte ich nun immer mehr, dass ich mehr benötigte als das.
Aber meine fleischlichen Gelüste waren mir ohnehin nicht so wichtig. Wie gesagt, solange ich irgendwo Druck loswerden konnte, war ich zufrieden, wenn auch nicht befriedigt.
Wichtiger war mir nur, mein Leben endlich drastisch zu verändern. Es war an der Zeit, dass ich zurückeroberte, was mir nun rechtmäßig zustand.
Und zwar mir allein.
Ich stand auf und drängte meine Männer zur Eile. Ich schickte Lazlo, damit er Conni zurück zerrte. Ich kannte sie, sie würde uns nicht verlassen, egal was wir ihr antaten. Sie war vom gleichen Schlag, sie war auch eine Schurkin, eine Schwester, sie brauchte uns. Und ich vergeudete kein nützliches Leben, wenn es nicht unbedingt von Nöten war.
»In zwei Wochen müssten wir zurück bei Menards Zuflucht sein«, vermutete Derrick, als wir nebeneinander auf unsere Pferde stiegen.
Ich ließ meinen Blick über das Waldgebiet wandern, das sich vor uns erstreckte. »Meinst du?«, fragte ich gedankenverloren, mein Gesicht war unergründlich und spiegelte nicht die Ungeduld wieder, die ich seit einigen Monaten nicht mehr auszuhalten versuchte.
Ich ließ sie einfach zu.
Menard war schuld an meiner schlechten Laune. Er bremste mich aus, ich wusste nur noch nicht, wieso mich der Mann, der mir einst wie ein Vater gewesen war, an meinen Plänen zu hindern versuchte.
Ich drehte Derrick das Gesicht zu und sagte: »Es wird Zeit, das wir heimkehren, Sir Derrick Einar.«
Und ich sprach nicht von der Zuflucht des Schamanen.
»Alles zu seiner Zeit«, sprach Derrick auf mich ein. »Vielleicht spuckt der Alte noch etwas Nützliches aus.«
»Das hoffe ich.«
Oh, und wie ich hoffte, dass er noch etwas ausspucken würde.
***
»Unser Land ist vom Feind besetzt und Menard schickt mich in Tempel um Abschriften anzufertigen.« Ich schüttelte verdrossen den Kopf, meine Arme waren vor meiner Brust verschränkt und die Gerüche aus der Küche des Gasthauses kitzelten mir in der Nase.
Was war das? Wildbret? Mir lief das Wasser im Mund zusammen, ich hatte seit Tagen nichts Warmes mehr gegessen.
»Der Feind besetzt unser Land nicht«, warf Derrick ein, der vor mir saß und ebenso hungrig aussah wie ich. »König Amon hat sich mit dem Feind verbündet«, erinnerte er mich. »Wir gehören jetzt zum Kaiserreich der Elkanasai.«
Ich schlug wütend die Faust auf den von Kerben gezeichneten Tisch, die einzelne Kerze, die uns Licht spendete, hüpfte dabei einmal und drohte, umzukippen.
Derrick verstummte.
Ich konnte nicht genau sagen, ob ich wütend darüber war, weil er mich daran erinnerte, das Carapuhr sich unterworfen hatte, oder weil er den Namen des Mannes ausgesprochen hatte, den ich zu meinem Erzfeind ernannt hatte, nachdem er meine Familie abschlachtete.
König Amon ... Dieser Verräter, der sein eigenes Volk verkaufte, nur um sich weiterhin König nennen zu können. Wenn der alte Mann Mut gehabt hätte, dann wäre er den zahlreichen Armeen der Elkanasai trotz seiner Unterlegenheit entgegengetreten, statt sich auf ein feiges Abkommen einzulassen.
Gut, man sollte ihm zugestehen, dass er dadurch viele unschuldige Leben vor dem Tod bewahrt hatte. Allerdings lebte die Hälfte dieser verschonten Leben nun in Sklaverei. Denn das ist es, was die Elkanasai mit Menschen machten. Sie versklavten uns.
»Carapuhr ist noch nicht verloren«, knurrte ich und lehnte mich zurück.
Mein Blick durchforstete das düstere Innere des Gasthauses. Seit dem frühen Nachmittag besetzte ich mit meiner Truppe aus siebenundsiebzig Mann – Conni eingeschlossen – dieses Gebäude und den angrenzenden Hof. Nur meine engsten Vertrauten hatten das Privileg mit mir im warmen Inneren an Tischen zu sitzen, alle anderen durften bei den Tieren hausen.
»Das sage ich auch gar nicht«, hörte ich Derrick erwidern.
Ich sah ihn an. Sein Antlitz machte mich wütend. Es machte mich oft wütend, ich wusste aber nicht einmal, wieso. Sein Gesicht war mittelmäßig. Markant. Ohne besondere oder abscheuliche Merkmale, die mich stören könnten. Derrick war äußerlich betrachtet durchschnittlich. Weder hässlich noch besonders hübsch. Aber irgendetwas in seinem Gesicht machte mich wütend. Wenn ich ihn ansah, brodelte Zorn in mir. Die Wut bezog sich nicht auf ihn, sondern auf mich selbst. Aber genau das war es, was mich daran störte.
Durchforschend betrachtete ich ihn, auf der Suche nach der Lösung dieses Rätsels, aber ich fand nichts, was mich im Besonderen zornig machte. Alles ärgerte mich gleichermaßen. Seine grauen Augen, die mich an die Silberklinge meines kostbaren Schwerts erinnerten, ebenso die langen, dunklen Wimpern, die sie umrandeten, und die unaufdringliche Nase mit der abgerundeten Spitze, die ein wenig nach oben zeigte und seine Nasenlöcher groß erscheinen ließ, die ebenholzfarbenen, schulterlangen Locken, die Ohren, die weder abstanden noch seltsam eng am Kopf lagen, die Lippen, die weder voll noch schmal waren.
Derrick runzelte die Stirn. »Ist was?«
Ich atmete gereizt ein und aus.
Derrick lehnte sich zurück. Er spürte, dass er der Grund war, wegen dem ich kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren.
»Mein Bruder«, Derrick sprach ruhig, was mich wiederum noch mehr verärgerte, »wir werden schon noch einen Weg finden, die Elkanasai zu vertreiben.«
»In ein paar Jahren bin ich ein alter Mann«, gab ich kopfschüttelnd zurück, »was kann ich dann noch ausrichten, Derrick?«
Derrick wollte wissen: »Was willst du tun?«
Mit dieser Frage hatte er mich wieder besänftigt. Derrick maßte sich nicht an, mir zu sagen, was das Beste wäre oder was ich seiner Meinung nach tun sollte, jedenfalls vermied er es, wenn ich ohnehin mieser Laune war.
Ich zuckte mit den Schultern, nun nervte mich meine eigene Unfähigkeit. Ich wusste es nicht, so schwer es mir fiel, es zuzugeben, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Menard war mein engster Vertrauter, ich würde sogar soweit gehen, ihn als Freund zu bezeichnen. Aber weshalb bremste er mich so aus?
Als hätte er meine Gedanken belauscht, vermutete Derrick: »Vielleicht hat er nur Angst um dich.«
»Angst ist etwas, das wir uns nicht leisten können«, gab ich zurück. Ich hatte mich oft genug in meinem Leben der Angst hingegeben, es war an der Zeit, zurückzuschlagen, egal welche Verluste ich zu erwarten hatte. Angst würde mich nicht aufhalten ... nein, nicht mehr.
»Entweder sterben für die eine Sache, die uns am leben hält ...«, murmelte ich.
»Oder wir opfern alles um zu siegen«, beendete Derrick mein Gemurmel.
Ich nickte mit Blick auf den Tisch. Es war bereits Nacht und wir saßen schon viele Stunden an den Tischen dieses Gasthofes. Wir hätten an diesem Tag eine viel größere Strecke zurücklegen können, doch solange ich noch nicht entschieden hatte, was ich mit Menard anfangen sollte, wollte ich mich nicht beeilen.
Der alte Mann durfte ruhig mal etwas länger auf seine Schriften warten.
»Was hat er damit vor?«, fragte ich und sah über den Tisch hinweg Derrick an.
Mein alter Freund zuckte verwirrt mit den Achseln.
»Mit der Schriftrolle«, half ich ihm auf die Sprünge. »Was will Menard damit?«
»Um was geht es in der Grabinschrift?« Derrick beugte sich über den Tisch.
Ich holte die Papierrolle hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. Es war schlecht zu lesen, aber ich konnte mich noch an die Worte erinnern und las sie vor: »Hier ruht Priester Odilo, der zu den Drachen flüstern konnte, er sprach ›Hroar‹, und sie kamen.«
Derrick sah mich mit verständnislosen Augen an. Für einen Augenblick hatte er den blödesten Gesichtsausdruck den ich bis dorthin gesehen hatte. Jedem anderen hätte ich in dieses leere Gesicht geboxt, aber bei Derrick musste ich mir ein Grinsen verkneifen.
»Hroar?«, fragte Derrick verwirrt.
»Das Brüllen eines Tieres«, vermutete ich.
Derrick runzelte skeptisch seine Stirn.
Die Tochter des Wirts lief an unserem Tisch vorbei und brachte fünf volle Krüge mit schäumendem Met zu meinen Männern. Sehnsüchtig blickte Derrick ihr nach.
»Wenn sie dich reizt, dann nimm sie dir doch«, sagte ich zu ihm, mein Blick war weiterhin auf die Inschrift gerichtet.
Was bedeuteten diese Worte? Würde ich Drachen anlocken, wenn ich in den Himmel brüllte? Unsinn! Es hatte seit Jahrzehnten keine Drachen mehr in Carapuhr gegeben. Aber was wollte Menard mit dieser Information? Es musste ein höherer Sinn dahinterstecken. Menard hatte mich gelehrt, das hinter jedem Wort in einer Abschrift eine zweite Bedeutung innewohnen kann. Nichts ist offensichtlich, hatte er gesagt.
Es beunruhigte mich, das ich nicht wusste, was der Schamane vorhatte. Nach allem, was ich erlebt hatte, konnte ich davon ausgehen, dass diejenigen, die mir am nächsten standen, mich hintergehen würden. Und abgesehen von Derrick, stand mir Menard am nächsten. Ich vertraute ihm nicht, weil er Vertrauen verlangte.
»Ich sah dem Met nach, nicht der Frau«, grinste Derrick.
Als die Tochter unseres unfreiwilligen Gastgebers wieder an uns vorbeilief, hielt ich sie auf.
Erschrocken schnappte sie nach Luft, als ich einfach ihr Handgelenk packte und sie grob auf meinen Schoß zog.
»Dann nehme ich sie«, beschloss ich und rollte die Schriftrolle wieder zusammen.
Die schlanke Frau versuchte sich zu wehren, das arme Ding hatte ja keine Ahnung, dass sie damit das Feuer in meinem Blut erst richtig entfachte. Sie versuchte, mich zu beißen und ich begann zu schnurren wie ein Stubentiger.
Doch bevor es schön werden konnte, platze ein großer, dunkelhaariger Hüne aus der Küche und stampfte auf mich zu.
Belustigt grinste ich ihm entgegen, ich stand nicht einmal auf.
»Lass sie los, du Widerling!«, brüllte er mir entgegen.
Auf halben Weg wurde er von Egid Einauge gerammt und zu Boden geworfen.
Ich zog einen unsichtbaren Hut von meinem Haupt und neigte meinen Kopf zum Gruße. »Der Namenlose«, stellte ich mich freundlich vor. »Und der Mann, dem Ihr gleich zu Willen sein werdet, ist mein Bruder Egid Einauge.«
»Ich bring dich um!«, brüllte der überwältigte Hüne, während er niedergedrückt wurde.
Ich konnte aus den Augenwinkeln Derrick schwer schlucken sehen, während er entsetzt dabei zusah, wie Egid mit seiner Beute verschwand.
Ich lächelte wissend. »Nun geh schon!«
Derrick sah mich an.
Ich nickte Egid hinterher. »Lass ihn nicht allein den ganzen Spaß haben.«
Derrick lehnte ab. Er nickte auf die junge Frau mit dem kurzen, roten Haar, die ich mit einem Arm locker festhalten konnte, obwohl sie sich wehrte. »Was ist mit ihr?«
»Immer willst du, was ich habe!«, konterte ich mit gespielter kindlicher Stimme.
Derrick und ich brachen in Gelächter aus.
»Komm schon, mein Bruder«, bat Derrick und wischte sich eine Lachträne aus den Augenwinkeln, »lass deine Laune nicht an ihr aus.«
Ich atmete tief durch ... und ließ sie los.
Die junge Frau stolperte von mir weg und wirbelte dann irritiert erneut zu unserem Tisch herum. Ich und Derrick stützten uns auf die Tischplatte und sahen gelassen zu ihr hinauf.
»Dann hätte ich gerne zwei volle Krüge Met und für mich und meine Männer das Beste, was Eure Küche zu bieten hat, meine Schöne.«
Sie wusste einen Moment nicht, ob sie mich hassen oder mich anhimmeln sollte, als ich ihr mein charmantes Lächeln schenkte.
Doch sie besann sich wieder und räusperte sich. »Wo ist mein Bruder?«, fragte sie und blickte zur Tür, durch die Egid mit dem Küchenjungen verschwunden war.
Derrick und ich tauschten Blicke aus, wir schmunzelten.
Ich wandte mich mit einem Schulterzucken wieder an die junge Frau. »Er geht gerade auf einen wilden Ritt, nehme ich an.«
Derrick schnaubte amüsiert.
Die junge Frau wusste nicht, ob sie bleiben oder nach ihrem Bruder sehen wollte.
»Bitte, geh nur, Teuerste«, forderte ich sie auf. »So wie ich unseren Egid kenne, wird es ihn nach einer Nachspeise verlangen, wenn er fertig ist.«
Meine Männer grölten vor Lachen.
Derrick mischte sich ein: »Oder Ihr geht und holt unsere Bestellung.« Er klang eindringlich ... führsorglich. Dieser gefühlsduselige Narr!
Sie schluckte schwer, während sie nachdachte.
»Kommt schon, so schwer kann das doch nicht sein!« Ich stand auf und legte ihr einen Arm um die Schulter. Plaudernd lenkte ich sie zu meinen Männern. »Entweder du versorgst mich und meine ehrenwerten Brüder mit Speis und Trank, oder«, ich legte meine Lippen an ihr Ohr und senkte die Stimme zu einem verheißungsvollen Flüstern, »wir vernaschen dich.«
Derrick lachte dunkel an unserem Tisch, doch er klang ebenso nervös wie die junge Frau aussah, denn er wusste, dass ich nicht scherzte.
Erneut schluckte die junge Frau, während ihr Blick über meine Männer schweifte. Lazlo juckte es schon in der Hose, ich konnte sehen, wie er sich mit zur Hilfenahme seiner Hand platz im Schritt verschaffte. Manolo der Berg leckte sich gierig über die Lippen. Corin aus Cord – oder wie ich ihn gerne nannte: Corin ›kann nichts‹ aus Cord – öffnete bereits seine Hose.
Die junge Frau wandte sich aus meinen Griff und eilte zur Küche.
Meine Männer schienen enttäuscht.
»Und sie wahrt nie wieder gesehen«, sagte Derrick laut.
Ich lachte. Lachte brüllend. Viel zu laut. Ein irres Lachen. Meine Männer sahen mich irritiert über diese Stimmungsschwankung an, zumal Derricks Kommentar nicht halb so witzig gewesen war, wie mein Lachen vermuten ließ.
Ich verstummte jedoch, als plötzlich der Wirt mit einem gezogenen Schwert hinter mir stand.
»Der Teufel soll Euch holen!«, schrie er und schlug mit der Klinge nach mir.
Derrick sprang auf, er zog die Armbrust von seinem Rücken. Aber sein Eingreifen war nicht nötig. Der alte Mann hatte das Schwert nicht hart genug schwingen können, sodass ich die Klinge mit Leichtigkeit mit der Hand abfangen konnte.
Verblüfft darüber, dass ich mir ohne ein Zucken meiner Wimpern eine Schnittwunde hatte zufügen lassen, nur um das Schwert abzufangen, starrte der Alte mich an.
Ich presste die Hand zu, Blut quoll hervor. Mein Blut. Ich liebte die Wärme der dunkelroten Flüssigkeit, die meinen Arm hinab rann und von meinem Ellbogen tropfte.
Der alte Mann mit dem ergrauten Haar starrte mich entsetzt an.
Ich grinste ihm ohne Freude in seine fassungslose Miene und behauptete: »Ich bin der Teufel!«
Ich zog einen Dolch und wollte ihn abstechen.
»Mel!«
Derricks Stimme, die meinen Spitznamen aussprach, den ich so lange nicht mehr vernommen hatte, ließ mich sofort innehalten.
Mel ... Mel ... Meine Brüder hatten mich so genannt. Mein kleiner Bruder Melvin hatte mir den Namen verpasst, es war sein erstes Wort gewesen, weil er meinen vollen Namen damals nicht hatte aussprechen können.
Ich sah Derrick an, noch immer die Klinge des alten Mannes in der Faust haltend. Meine Augen waren wild, meine Nasenlöcher bebten. Ich war Blind vor Zorn.
Derrick senkte seine Armbrust. »Er ist nur ein alter Mann. Ein unwissender alter Mann.«
Ich atmete tief durch. Einmal. Zweimal. Und ein drittes Mal. Schließlich blickte ich dem alten Mann ruhig in die Augen. Ich steckte den Dolch wieder weg und nahm ihm das Schwert vorsichtig aus der Hand.
»Geht, alter Mann«, befahl ich ihm. »Nehmt Eure Kinder und Eure Frau, versteckt Euch, bis wir weg sind.«
Ich gab das Schwert an Kostja weiter, der damit davoneilte, bevor es ihn jemand streitig machen konnte. Ein gutes Schwert war kostbarer als Edelsteine, wenn man auf der Straße lebte.
»Der König wird Euch hinrichten«, zischte mir der alte Mann entgegen. »Er wird Euch jagen und Gerechtigkeit über Euch walten lassen.«
Kalter Hass durchströmte meine Venen, meine Augen wurden dunkel. Der Alte wich bei meinem Anblick erschrocken zurück.
»Abwarten«, presste ich hervor und musste mich erneut zurückhalten, keinen Unschuldigen ohne triftigen Grund niederzumetzeln. Das hätte gegen meinen eigenen Kodex verstoßen.
Ich musste mich selbst aufhalten, bevor ich dem Blutrausch verfiel.
»Ja, warten wir ab«, sagte ich entschlossener und grinste. »Euer König ist alt. Ein paare Jahre werde ich ihm noch entkommen können. Und wenn er dann endlich tot ist, ist niemand da, der den Thron besteigt. Wer fügt mir dann meine gerechte Strafe zu?«
»Der Thronerbe«, schleuderte er mir entgegen.
Meine Mundwinkel fielen herab. »Was sagt Ihr da?«
»Wisst Ihr es nicht?«, fragte mich der alte Mann.
Benommen schüttelte ich den Kopf. Laut Gerüchten waren alle rechtmäßigen Erben tot. Seit verfluchten zehn Jahren schon! Keiner kannte die Wahrheit, vor allem nicht dieser Fremde.
»Königin Pearl schenkte König Amon einen gesunden Sohn«, berichtete der alte Mann und triumphierte über meine entsetzten Gesichtszüge. »Vor zwei Jahren schon.«
Meine Hand umklammerte den Griff meines Schwerts. Meines Familienschwerts mit dem ich gewachsen war. Zusammengewachsen war. Es war ein Teil von mir, wie einer meiner Arme. Es gehörte einfach zu mir. Meine Hand packte so fest zu, dass sie zitterte.
»Das kann nicht sein«, hörte ich Derrick fassungslos flüstern.
»Zwei Jahre«, hauchte ich und wurde bleich. »Zwei Jahre ist der Erbe schon alt?«
Der alte Mann nickte.
Meine Augen versprühten Hass, als ich ihn ansah. »Und Ihr seid ein treuer Anhänger des Königs? Des Verräterkönigs?«
Die Augen des Alten zuckten ruhelos umher, als sich hinter mir meine Brüder erhoben. Ich konnte das Leder ihrer Rüstungen knirschen hören und das Erklingen der gezogenen Schwerter und Dolche.
Ich sah Wissen in den Augen des alten Mannes. »Ihr seid ein Rebell!«
Doch ich schüttelte den Kopf. »Nein, alter Mann. Ich bin die Gerechtigkeit!«
Ich zog mein Schwert und hob es weit über meinen Kopf. Der alte Mann duckte sich und hob abwehrend seine Arme.
»Nein!«, hörte ich Derrick rufen, und im nächsten Moment kreuzte seine Klinge die meine, noch bevor ich den Alten niederstrecken konnte.
Hasserfüllt starrte ich Derrick an, ich hatte große Lust, ihm die Schwertklinge in den Leib zurammen.
Derrick brachte durch unsere gekreuzten Klingen sein Gesicht nahe an meines heran, er senkte die Stimme zu einem vertrauten Flüstern: »Das ist nicht das, was du tun willst. Mel, mein Bruder, ich bitte dich, er ist nur ein alter Mann! Das willst du nicht wirklich tun!«
Es dauerte viele stille aneinander gereihte Augenblicke, bis Derricks silberne Augen zu meinem Verstand durchdrangen und ich nicht mehr alles durch den roten Schleier der Wut sah. Manchmal gereichte es auch zum Vorteil, Feinde am Leben zu lassen, und sei es nur, damit sie Gerüchte verbreiten konnten. Der Mann war nur ein Gastwirt, kein Soldat, keine Wache, ihn zu töten hätte mir nur den Ruf eingebracht, ich würde Unschuldige abschlachten.
Ich senkte das Schwert und trat zurück.
»Nun denn«, sagte ich zu dem Gastwirt, »geht, bis wir fort sind.«
Der Mann zögerte, aber ein Blick in meine hassverzerrte Miene ließ ihn eilig aus dem Gasthaus rennen. Ich wollte ihn immer noch töten, während ich ihm nachsah, doch trotz meiner berechtigten Wut tat ich es nicht. Man vergeudet kein Leben, das eventuell noch einen Nutzen haben konnte. Sollte der alte Mann doch verbreiten, dass Rebellen durch das Land zogen, mein Ruf sollte mir vorauseilen, genau das wollte ich.
»Meine Brüder!«, reif ich noch voller Zorn und drehte mich zu ihnen um. »Meine Brüder, wir sind in Feindesland!«
Sie begannen zu grinsen.
»Hier ist alles erlaubt!«, beschloss ich und schon brach das Chaos aus. Sie eilten an mir vorbei wie ein Hunderudel, das einen Hasen gewittert hatte. Unaufhaltsam und von niederen Instinkten getrieben.
Zufrieden steckte ich mein Schwert zurück in die Scheide.
Ich hörte die Frauen schreien, als meine Brüder sie in der Küche überraschten.
»Kostja, bring mir und Derrick Met und etwas zu essen«, trug ich dem jüngsten Mitglied unserer Bruderschaft auf, damit auch er verschwand.
Dann wandte ich mich an Derrick. Wir waren allein und blickten uns ernst an.
»Er wusste es!« Ich war mir ganz sicher. »Menard muss von der Geburt des Erben gewusst haben!«