Читать книгу Das Tagebuch des Schattenwolfprinzen - Billy Remie - Страница 5
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ОглавлениеDen ersten Schritt zur Veränderung erkennen wir erst, wenn er bereits gemacht wurde.
»Sucht ihn!«, knurrte der Kommandant der Stadtwache. Seine dunkle Stimme grollte über die nackten Steinwände des Tempels. »Findet den Eindringling!«, forderte er von seinen Männern.
Ich duckte mich tiefer in die Nische hinter der geöffneten Holztür, durch die der Kommandant mit seinen Wachleuten gekommen war, und ärgerte mich darüber, dass er mich Eindringling nannte.
Meine Hand wanderte zielsicher zu dem Schwert an meinem Hüftgurt und umklammerte eisern seinen Griff. Den Kommandanten hätte ich ohne Schwierigkeiten überwältigen können, er stand mit dem Rücken zu meinem dunklen Versteck, er hätte mich nicht einmal kommen sehen. Aber ich war allein gegen sechs weitere Wachen, die in silbernen Rüstungen steckten, während ich nur dünnes Leder am Leib trug.
Zu riskant!
Ich besann mich und ließ vom Griff meines Schwertes ab. Ich verhielt mich ruhig.
In geduckter Haltung und mit gezogenen Waffen schlichen die Wachen tiefer in den Raum. Sie stanken nach Fisch und Met, was mich annehmen ließ, dass ich sie bei ihrem Abendmahl aufgeschreckt hatte. – Es war ein blöder Fehler meinerseits gewesen, gegen einen Krug zu laufen und Lärm zu machen. Aber mit Verfolgern im Nacken gewann meine Unternehmung an Reiz. Ich hatte nichts gegen Herausforderungen, im Gegenteil, ich bevorzugte sie.
Vielleicht hatte ich mit Absicht auf mich aufmerksam gemacht, um hinterher sagen zu können, ich hatte mich wehren müssen.
Die Wachen durchkämmten nun einen heimtückischer Raum, eine Ruhestätte für die Toten, mit vielen Versteckmöglichkeiten. Ich hätte überall lauern können.
Die Fackeln warfen Licht, und Licht warf Schatten. So konnte ich verfolgen, wohin die Wachen gingen.
Ich wartete nicht lange, als sie außer Reichweite waren, und löste mich aus meinem Versteck. Lautlos, dank leichtem Schuhwerk, schlüpfte ich hinter der Tür hervor und verschwand durch diese aus dem Raum. Ich gelangte in einen Flur und zog eilig die Tür zu.
Die Wachen hatten das Quietschen der Scharniere vernommen und ich konnte ihre Rufe und ihre schweren Schritte hinter der Tür hören.
Ohne zu zögern nahm ich den Kerzenständer, der neben der Tür im Flur gestanden hatte, und benutzte ihn als Türverriegelung. Es funktionierte, die Wachen rannten gegen die Tür, die nicht nachgab.
Über meine eigene List schmunzelnd, wandte ich mich ab und ließ das wütende Brüllen des Kommandanten hinter mir.
Aber jetzt musste ich mich beeilen, denn das Holz der Tür würde nicht ewig dem Stoßen und den Klingen der Wachen standhalten.
Ich rannte durch den Flur und durchschritt einen offenen Doppeltürbogen aus bläulich schimmerndem Gestein. Jemand ehrenwerteres als ich wäre bestimmt staunend stehen geblieben und hätte die Schönheit der unter der Erde liegenden »Halle der Toten« bewundert, die ich nun mit meinen unwürdigen Füßen betrat und entweihte. Ich hingegen machte mir nicht viel aus dem Schimmer, der mir entgegenstrahlte. Wenn mir irgendetwas keinen Vorteil einbrachte, hatte es auch nicht meine Aufmerksamkeit verdient.
Was mir hingegen einen Vorteil sichern sollte, jedenfalls laut Menard, dem Schamanen, war die Steintafel auf der Anhöhe, die sich nun über meinem Kopf erstreckte.
Tageslicht fiel durch einen Spalt im Gestein herein und beleuchtete das Grabmal, das auf dem Felsvorsprung vor vielen Jahrhunderten errichtet worden war. Ich konnte Staubkörner in dem Sonnenstrahl erkennen, und Schnee rieselte durch den Riss auf mich herab. Hier war es kälter als in den Tempelräumen – und ich schmeckte frische Luft.
Zwei Treppen führten links und rechts zu dem Grabmal hinauf.
Ich nahm die steinernen Stufen zu meiner Linken, immer zwei auf einmal. Schnell gelangte ich nach oben.
Hinter dem Grabmal befand sich ein Raum. Einst eine Krypta, doch nun fand ich dort ein Bett und einen provisorisch zusammengeschusterten Tisch mit einem mickrigen Stuhl, die beide von der Armut eines einfachen Mönchs zeugten.
Auf dem Tisch fand ich Schriften mit Forschungsdaten, leere Schriftrollen und Schreibfedern. Das Feuer, das in einer Ecke entfacht worden war, war schon lange erloschen. Ein Kessel mit kaltem Eintopf hing über der kalten Kohle.
Ich ging weiter und steuerte auf das Grabmal zu. Vor der steinernen Tafel war die Erde ausgehoben, ein gefrorener Haufen braunen Grunds lag daneben. Auf der anderen Seite stand ein Sarg aus schwarzem Stein.
Mit großen Schritten stampfte ich auf den Sarg zu. Auf dem Deckel stand tief in den Stein gemeißelt: »Störe die Ruhe des ehrenwerten Priesters Odilo, und die Verdammnis wird über dich hereinbrechen.«
Ich stemmte die Hände gegen den Sargdeckel und schob ihn auf. Mit vor Anstrengung verzerrter Stimme knurrte ich: »Ich bin die Verdammnis!«
Nur schwer ließ sich der Stein bewegen, aber ich gab nicht auf. Als er sich ein Stück öffnete, schlug mir der modrige Geruch des Sarginneren entgegen. Aber ich hatte weiß Gott schon Schlimmeres gerochen.
Je weiter ich den Sarg öffnete, je kälter schien es um mich herum zu werden. Ich glaubte den Boden vibrieren zu spüren, und die Wände des Gewölbes wackeln zu sehen, aber es konnte auch an dem Kraftaufwand liegen, den ich anwandte um Erfolg zu erzielen, und musste nichts mit Magie zutun haben.
Magie fürchtete ich nicht. Sie war ebenso leicht zu bekämpfen und zu besiegen wie ein Mann mit einem Schwert. Man musste nur wissen, wie.
Trotzdem presste ich noch einmal entschlossen hervor: »Ich bin die Verdammnis!«
Und mit einem Ruck fiel endlich der schwere Deckel vom Sarg. Staub flog mir ins Gesicht, als Luft in das Innere des Steinkastens drang.
Ich wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht, bis ich wieder eine klare Sicht hatte. Durch den Flur drangen die Geräusche der Wachen zu mir, die dabei waren, die Tür einzutreten.
Ich hatte nicht mehr viel Zeit.
Als der Staub sich verzogen hatte, und ich den Toten im Sarg betrachten konnte, breitete sich ein Lächeln auf meinen vollen Lippen aus.
»So besonders seht Ihr gar nicht aus, oh hoher Priester Odilo«, sagte ich spöttisch zu der Mumie, deren eingefallener Körper in einem prunkvollen Priestergewand aus blauem Samt steckte. – Ich hatte keinen Respekt vor den Toten. Magie schien den Körper weitestgehend erhalten zu haben. Ketten aus massivem Gold und verzierte Edelstahlringe zierten den Leichnam.
»Das benötigt Ihr wohl nicht mehr.« In aller Seelenruhe nahm ich dem Priester die Wertgegenstände ab und ließ sie in meinen Taschen verschwinden, während die Wachen die Holztür einschlugen.
Es ärgerte mich, dass sie mich zu hetzen versuchten. Ich hätte mich ihnen nur zu gerne entgegengestellt und sie rücksichtslos kalt gemacht. Abgeschlachtet. Aufgeschlitzt wie Tiere. Nur weil ich der Auffassung war, dass es niemand zu wagen hatte, mich drängen zu wollen. Schon gar nicht, wenn ich einen wichtigen Auftrag zu erledigen hatte.
Sie hätten vor mir knien sollen. Alle. Die ganze Stadt. Sie hätten bei meinem Anblick erzittern sollen! Doch ich bezweifelte, dass sie auch nur ahnten, wer ich bin.
Nachdem ich auch das teure Samtgewand an mich genommen hatte, zog ich einen Dolch hervor und beugte mich ein letztes Mal über die Mumie. Mit einem zufriedenen Grinsen ritzte ich eine Botschaft in den Toten, als plötzlich die Tür aufbrach.
Ich konnte das Krachen des zerbrechenden Holzes durch den Flur hallen hören. Sofort richtete ich mich auf.
Während die in schwerer Rüstung steckenden Füße der Wachen durch den Flur rannten, wandte ich meine Aufmerksamkeit auf die steinerne Tafel des Grabmals.
Doch ich konnte den Sinn hinter den Worten nicht verstehen, also wirbelte ich herum und rannte zurück in den verlassen Schlafraum.
Eilig schnappte ich mir eine unbeschriebene Papierrolle vom Tisch und ein Stück Kohle aus der Feuerstelle. Zurück an der Steintafel drückte ich das Papier auf die eingemeißelten Worte und fuhr mit der Kohle darüber, um eine einigermaßen leserliche Kopie anzufertigen, da mir die Zeit fehlte, es säuberlich mit Tinte und Schreibfeder abzuschreiben.
Ich war noch dabei, das Papier schwarz zu färben, als die ersten Wachen die Steinstufen empor rannten.
»Da ist der Eindringling!«, rief eine jungenhafte Stimme.
Eine älter klingende Wache fügte hinzu: »Schnappt ihn euch!«
Sie kamen von Links und Rechts und kesselten mich ein.
Dachten sie jedenfalls.
Ich hechtete einfach über die Steintafel und sprang ungeachtet der Höhe den Vorsprung hinunter in die Halle.
Der Aufprall tat mir in den Knien weh, aber ich war höhere Sprünge gewöhnt und meine Gelenke waren noch jung. Außerdem belebte Schmerz meinen Körper.
Ich drehte mich noch einmal um, weil ich es mir nicht nehmen wollte, in die verblödeten Gesichter der verdutzten Wachen zu blicken.
Sie konnten mich leider nicht selbstgerecht grinsen sehen, da mein Gesicht vermummt war. Auch über meinem goldenen Haar hing eine Kapuze, die verhinderte, dass sie mich irgendwann auf der Straße wiedererkannten. Aber ich hoffte, sie würden aus meinen blassblauen Augen herauslesen, dass ich mich über sie amüsierte. Und sollte sich mein Weg je wieder mit einem dieser Männer kreuzen, hoffte ich, sie würden diese Augen wiedererkennen, wenn ich mit einer Klinge in der Hand über ihnen ragte und triumphierte.
Ich vollführte eine possierliche Verbeugung, ehe ich mich abwandte und davoneilte.
Hinter mir brüllte der Kommandant der Stadtwache zu seinen Männern: »Was steht ihr hier so rum? Na los, schnappt ihn! Schnappt ihn! Hinter her!«
Mein schwarzer Umhang flatterte hinter mir wie eine Fahne im Wind, während ich durch die Räume des Tempels wieder nach draußen eilte. Ich rollte die Schriftrolle mit der Kopie der Grabmalinschrift zusammen und steckte sie mir unter meinen Brustharnisch aus dunklem Bärenleder.
Doch wieder nach draußen zu gelangen war weniger einfach als erhofft.
Mir wurde von weiteren Wachen der Weg abgeschnitten, die mit Fackeln und gezogenen Schwertern eine enge Treppe empor rannten. Ich sah ihre Schatten und hörte ihre Schritte, einschließlich des Klapperns ihrer schweren Rüstungen, noch bevor sie mich wahrnahmen.
Ich hatte keine Wahl, ich musste zurückweichen, ehe sie mich entdeckten.
In einem Raum, der als Schlafkammer für Mönche diente, fiel mir ein Fenster ins Auge. Ich zögerte nicht, mir einen Fluchtweg zu schaffen.
Ich nahm einen Stuhl und warf ihn durch das Buntglas, das sofort zersprang. Der eisige Wind Carapuhrs wehte mir ins Gesicht. Ich liebte diese Kälte.
Der von mir verursachte Lärm lockte die Wachen zu mir.
Von der Straße darunter hörte ich erschrockene Ausrufe, und als ich aus dem Fenster kletterte, konnte ich sehen, dass ich eine junge Frau mit dem Stuhl getroffen hatte. Sie lag umringt von Menschen auf dem gepflasterten Weg der steinernen Stadt, unter ihrem Kopf breitete sich langsam eine dunkelrote Blutlache aus und ein kleines Mädchen mit blonden Locken – offenbar ihre Tochter – stand schockiert daneben.
Ich könnte jetzt behaupten, es täte mir leid. Aber ich will nicht lügen, es war mir einfach egal. Wenn es mir einen Vorteil verschafft hätte, dann hätte ich die ganze Stadt niedergebrannt. Lächelnd. Denn in meinem Leben stand ich mir selbst am nächsten, größtenteils weil mir beigebracht wurde, dass ich nur mir selbst vertrauen kann. Na ja, abgesehen davon wollten mich ohnehin alle anderen tot sehen. Kaltherzig zu sein bedeutete für mich: Überleben.
Ich schwang beide Beine über den Fenstersims, und schnitt mich am zerbrochenen Glas, mein Lederhandschuh füllte sich mit meinem eigenen Blut. Ich begrüßte den Schmerz, er sandte ein wohliges Kribbeln durch meinen Körper. Ich spürte Schmerz – ich lebte noch; was nicht selbstverständlich war.
Hinter mir eilten die Wachen in den Raum.
»Da ist der Eindringling!«, riefen sie.
Ach ne, dachte ich mir genervt, und fragte mich insgeheim, warum manche Männer das Bedürfnis hatten, immer alles, was sie taten oder sahen, zu kommentieren. Vor allem wenn es ohnehin offensichtlich war.
Unter mir positionierten sich weitere Stadtwachen. Mit Bögen. Geschosse flogen mir entgegen. Ich wich einem Pfeil aus, der in den Raum flog und eine Wache zwischen den Augen traf, die mich gerade von hinten hatte packen wollen.
Ich richtete mich auf, gab einer weiteren Wache einen Fußtritt und stieß sie damit gegen zwei ihrer Kameraden. Alle drei gingen in den Raum zu Boden. Eine andere Wache stieß mit dem Schwert nach mir, ich warf mich halb zur Seite, baumelte kurzzeitig in der Luft, konnte mich aber am Fensterrahmen festhalten.
Der Schwertstich ging es Leere, ich packte das Handgelenk der Wache und zerrte sie durch das Fenster.
Brüllend fiel der junge Mann. Sein Schädel zerplatzte auf dem Gestein zu meinen Füßen.
In Ordnung, sagte ich gedanklich zu mir selbst, nach unten war eine schlechte – wenn nicht sogar eine ganz bescheuerte – Idee. Es sei denn ...
Ich fixierte mit meinen durchdringenden Augen einen Bogenschützen, der mit einem Pfeil auf mich zielte. Seine Augen wurden groß, als ich mich auf ihn fallen ließ.
Mein Gewicht riss ihn zu Boden, sein Körper federte meinen Aufprall ab, doch er war noch bei Bewusstsein.
Ich packte seinen Kopf, der in einem Helm ohne Visier steckte. Er blinzelte mir ängstlich in die Augen, als ich ihn ansah und charmant lächelte. »Danke«, sagte ich höflich, weil er mich – mehr oder weniger unfreiwillig – aufgefangen hatte. Meine Mutter hatte mir Manieren beigebracht, ich wollte sie nicht beleidigen, indem ich einfach alles vergaß, was sie mich gelehrt hatte.
Dann schlug ich seinen Kopf auf den gepflasterten Weg und er wurde ohnmächtig.
Ich richtete mich auf und wollte den steilen Weg zum Südtor der Stadt hinunter hechten, als ein weiterer Schütze vor mir auftauchte.
Ergebend hob ich ein Stück meine Hände und wich zurück.
»Ergib dich, Dieb!« Die Spitze seines Pfeils zeigte auf meine Brust, ich hätte gern verhindert, dass sie mich durchbohrte.
»Dieb?« Ich sah mich um, als könne er unmöglich mich damit meinen. »Ich sehe hier keinen Dieb.« Eigentlich hatte ich ja auch nichts gestohlen. Zumindest nichts, was der Stadt und dem Jarl gehörte, ich hatte nur den Tempel und einen Toten bestohlen. Und eigentlich war ich auch kein einfacher Dieb.
»Ergebt Euch, Jungchen«, forderte der Bogenschütze. »Ihr habt keine Chance zu entkommen.«
Ich brach in Gelächter aus. Das irritierte die Wache.
Plötzlich wurde ich tot ernst: »Abwarten!« Ich zog mein Schwert.
Der Bogenschütze ließ den Pfeil sausen. Er traf mich in der Schulter, mein Arm wurde leicht zurückgeworfen, und ich brüllte auf.
Triumphierend grinsend, glaubte der Schütze, dass er mich getroffen hatte.
– Hatte er auch.
Er dachte, das hielte mich auf.
– Tat es aber nicht.
Der arme Narr hatte ja keine Ahnung, dass der Schmerz eine Art Lebenselixier war, das mich wachrüttelte und mich stärker machte. Ich liebte den Schmerz, solange er mich nicht umbrachte.
Mit dem Pfeil in meinem Körper, der glücklicherweise nicht in jener Schulter steckte an der mein Schwertarm hing, stürmte ich auf die Wache zu. Ich zerschlug mit dem Schwert seinen Bogen, packte den blauen Wappenrock – der über seiner Rüstung gespannt war – und stach ihm meine Klinge direkt durch den Kehlkopf schräg nach oben in sein Hirn. Mein Schwert durchbrach seinen Schädel, tote Augen starrten mir entgegen. Immerhin hatte ich ihm einen schnellen Tod gewährt. Eine Gnade, die ich wirklich nicht vielen meiner Opfer zuteilwerden ließ.
Ich zog mein Schwert heraus und ließ den toten Körper zu Boden fallen. Schreiende Frauen, die zuvor mit sicherem Abstand zugesehen hatten, rannten in alle Himmelsrichtungen davon, ihnen folgten mit noch schrillerem Geschrei viele Männer.
Ich grinste zufrieden.
Sie hatten Glück, das ich kein Sadist war, ansonsten wäre ich ihnen hinterhergerannt, aber ich tötete niemals willkürlich. Blut durfte nur vergossen werden, wenn es einem Zweck diente, ich hatte meine Prinzipien – wenn auch nicht viele.
Hinter mir hörte ich die Horde der Stadtwache herannahen und ich beschloss, zu fliehen.
Flink und leichtfüßig rannte ich durch die Stadt, die steilen Wege hinab in Richtung Südtor.
Ich stellte mir vor, wie Derrick nervös im Sattel saß und vor der Stadt sein Pferd auf und abtraben ließ, während er den Aufruhr unbeteiligt verfolgen musste. Ich hoffte, dass sie ihn noch nicht mit mir in Verbindung gebracht hatten.
Um den Wachen zu entkommen, nahm ich ungewöhnliche Wege. An Häuserwänden entlang, über Dachziegel, durch den kleinen Bach, der aus dem Berg floss und die Stadt spaltete.
Am Stadttor warteten bereits Wachen auf mich, aber ich wollte gar nicht durch das Tor. Sie sahen ziemlich verblüfft aus, als ich dank meiner besonderen Leichtfüßigkeit die Mauer hochklettern konnte.
Ich stieß noch eine Wache von der Mauer, ehe ich auf der anderen Seite hinuntersprang und auf den dunkelhaarigen Reiter zu rannte, der sein schwarzes Ross im rechten Moment wendete. Meinen eigenen Gaul ließ ich einfach zurück, er stand zu weitentfernt, als das ich ihn in angemessener Zeit erreicht hätte.
Atemlos warf ich mich hinter Derrick auf den breiten Pferderücken und hätte den stattlich gebauten Krieger beinahe aus dem Sattel gerissen.
»Deine Schulter!«, rief Derrick zu mir nach hinten. Er machte sich wohl Sorgen wegen des Pfeils darin.
»Mir geht’s gut«, versicherte ich ihm. Ungeachtet der Schmerzen riss ich den Pfeil aus meiner Schulter und ließ ihn fallen, meinen Arm würde ich eine Weile nicht richtig bewegen können, aber das war mir im Moment egal.
»Los! Los! Verschwinden wir hier!«, hetzte ich Derrick.
Dieser stieß die Hacken in die Flanke seines Hengstes und wir flogen mit donnernden Hufen den aus dem Tor eilenden Wachen davon.
Pfeile verfolgen aber verfehlten uns.
»Was hast du getan?«, schrie Derrick erbost.
Ich musste mich an ihm festhalten, um nicht vom Pferd zu fallen. Der Ritt war hart und ich hopste auf dem großen Gaul herum wie eine Puppe auf einem Fass, das auf einer wilden Strömung schwamm. Schnee wirbelte unter den monströsen Hufen des Pferdes auf und streifte über meine Wangen, der eisige Wind um uns herum ließ meine hellen Bartstoppeln gefrieren, und Derricks schulterlange, verzottelten Locken wehten mir immer wieder ins Gesicht. Ich war so genervt, dass ich Derricks Frage überhörte und versuchte, mich davon abzuhalten, ihm wegen seines nervigen Reitstils einen Dolch in den Rücken zu rammen.
Ich hätte ihn einfach aus dem Sattel reißen und ihn zurücklassen sollen, das hätte mir wenigstens einen kleinen Vorsprung eingebracht. Aber das wäre nur unnötige Verschwendung einer starken Schwerthand gewesen, die ich mir in meiner momentanen Lage nicht erlauben durfte.
Außerdem … Derrick war leider nicht zu ersetzen, aber Gott behüte, dass er das je erfuhr.
Ich warf einen Blick über die Schulter, während wir den Berg hinunter galoppierten und auf eine Fläche flachen Ödlands zuhielten. Die steinerne Stadt namens Bons geriet immer mehr in den Hintergrund, doch ihre Wachen mit den blauen Wappenröcken, auf denen ein Umriss des Berges gestickt war, verfolgten uns weiterhin.
»Beeil dich mal«, brüllte ich Derrick ins Ohr.
»Ich tue, was ich kann«, gab Derrick gelassen zurück.
Er kannte mich schon lange und ließ sich selten von mir provozieren, was mich wiederum verärgerte, ich wollte nicht durchschaubar sein, nicht einmal für Derrick, der am längsten bei mir war.
Wir gelangten in einen Engpass. Neben uns erstreckten sich hohe Felswände mit lockerem Geroll. Derrick hielt, auf meinen Befehl hin, an.
Wir warteten kurz, bis die Wachen uns fast eingeholt hatten, dann gab Derrick der Flanke seines Pferdes erneut einen Tritt, und ich brüllte in die Schatten: »Jetzt!« – Ich gab das Zeichen.
Derrick und ich ritten durch den Engpass und als die Wachen uns folgten, lösten meine Waffenbrüder die Falle aus und die Männer der Stadtwachen wurden gemeinsam mit ihren teuren Pferden unter dreckigen Felsbrocken zerquetscht.
Ich schlug aufgeregt gegen Derricks Schulter. »Dreh um! Dreh um!«
Derrick wendete den Hengst, der schnaubend auf der Stelle tänzelte.
Mit leuchtenden Augen sah ich dabei zu, wie loses Geröll den Engpass füllte.
Meine Männer kamen aus den Schatten, sie stiegen auf ihre Pferde und ritten auf uns zu.
Ich rutschte von Derricks Pferd.
Die Bruderschaft hielt vor mir an. Eine Schar verachtenswerter Männer, einer hässlicher als der andere, starrten grimmig zu mir herab.
»War das alles?«, brummte Lazlo ›das Narbengesicht‹ verdrossen.
Ich hatte ihm den Namen gegeben, ich habe all meinen Waffenbrüdern ihre Namen geben, als ich mich zu ihrem Oberhaupt ernannt hatte. Damals war ich gerade mal erst elf Sommer alt gewesen. Meine Männer waren raue Mistkerle unter denen ich mich behauptet hatte. Ich habe sie zu einer Bruderschaft geformt, sie schuldeten mir ihre Treue. Wer nicht bereit gewesen war, mir zu folgen – einem Jungen zu folgen –, hatte sterben müssen. So handhabte man das eben auf der Straße. Der Stärkere überlebt. Ich war vielleicht körperlich nicht stärker, dafür aber geistig. Ich hatte eben einen starken Willen.
Ich finde, ich hatte diese Hunde gut unter Kontrolle. Allerdings verstand ich unter »Kontrolle« wahrscheinlich auch nicht das, was ein normaler und gesetzestreuer Bürger Carapuhrs darunter verstehen würde.
Lazlo spuckte einen großen Schleimklumpen auf den Boden. Er hatte Glück, das er es nicht direkt vor meinen Füßen getan hatte, ansonsten hätte ich es als Beleidigung empfunden und ihn eigenhändig in zwei geteilt.
Ich ignorierte ihn und stampfte hinüber zu Kostja ›dem Zarten‹; oder wie ich ihn gerne nannte: Kostja ›der Benutzte‹.
Er saß mit seinem dürren, schlaksigen Körper im Sattel eines vitalen braunen Gauls.
Ich schubste den Jungen – der nur zwei Jahre jünger war als ich – aus dem Sattel, und steckte meinen eigenen Fuß in den Steigbügel. Ohne auf Kostja zu achten, der sich auf der anderen Seite wieder aufrappelte, schwang ich mich in den Sattel.
Erst jetzt wandte ich mich an Lazlo: »Hast du etwas anderes erwartet, mein Bruder?«
Lazlo schnaubte, dabei verzog sich einer seiner Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln, und die Kerben seiner pockenartigen Narben wurden noch tiefer.
Oft dachte ich daran, dass aus ihm wahrscheinlich ein recht ansehnlicher Mann geworden wäre, hätte er durch die Pockenkrankheit diese Narben nicht davongetragen. Aber es war auch nicht sein Gesicht, das mir gefallen musste, sondern seine Fähigkeiten.
»Sprich dich aus, mein Bruder«, forderte ich scheinbar gelassen, doch jeder, der mich kannte, konnte den drohenden Unterton in meiner ansonsten melodischen Stimme heraushören.
Lazlo fuhr sich mit abgewandtem Blick durch sein rotbraunes Haar. »Wir haben uns ... Beute erhofft«, gestand er schließlich. »Beute, die man zu Silber machen kann.«
»Ah«, machte ich, als verstünde ich ihn nun. Aber ich hatte zuvor schon gut verstanden.
Die anderen Brüder warfen sich stumme Blicke zu. Sie teilten Lazlos Ansicht, das konnte ich ihnen ansehen, doch sie wagten es nicht, mir das mitzuteilen.
Kluge Entscheidung.
»Also, mein Bruder ... « Ich lenkte mein Pferd, das ich Kostja abgenommen hatte, neben Lazlos und zog einen Dolch.
Lazlo schluckte, als ich die Spitze der Klinge über sein mit dunklen Stoppeln überzogenes Kinn kratzen ließ.
»Vielleicht ... gewinnt das ja deine Zustimmung.« Mit einer geschickten Handbewegung warf ich den Dolch kurz in die Luft und fing ihn an der Klinge wieder auf. Ich reichte Lazlo den goldenen und mit Edelstein verzierten Dolchgriff.
Ich grinste.
Lazlos erwiderte zögerlich mein Grinsen und nahm den Dolch an sich, den ich aus dem Tempel mitgenommen hatte.
»Und für meine anderen Brüder ... « Ich wendete mein Pferd und leerte meine Taschen. Schmuck und das Priestergewand fielen auf den schneebedeckten Boden.
Sofort sprangen die habgierigen Brüder aus den Sätteln und prügelten sich um die Beute, die ich ihnen mitgebracht hatte.
Ich ergötzte mich an dem Anblick, wie sie auf den Knien vor den Hufen meines Pferds miteinander rangelten.
Derrick trieb sein Pferd neben meines, die beiden Hengste keiften sich kurz an, ehe wir sie unter Kontrolle bringen konnten.
»Sagte Menard nicht, du sollst dich rein schleichen und mit einer Abschrift des Grabmals des Drachenflüsterers zurückkommen?«, fragte Derrick amüsiert.
Ich zeigte ihm kurz die Papierrolle, die ich beschützend an meinem Körper transportierte, und zwinkerte meinem alten Freund dann zu. »Habe ich doch. – Eine originale Kopie der Inschrift des Grabmals des Priesters Odilo, besser bekannt als der Drachenflüsterer.«
»Menard sagte auch, du sollst weder töten noch stehlen«, erinnerte sich Derrick.
»Ich kann doch nicht ohne Geschenke zu meinen Brüdern zurückkehren«, schmunzelte ich.
Derrick nickte zustimmend.
Meine erheiterte Miene wurde plötzlich hart, als ich anfügte: »Außerdem gibt mir niemand Befehle. Nicht einmal dieser uralte Schamane Menard.«
Vom Berge ertönte das Röhren eines Horns und ich blickte zur steinernen Stadt hinauf.
Sie war so groß, dass sie selbst vom Fuße des Berges gigantisch wirkte. Sie war der Berg.
»Sie rufen Verstärkung«, wusste Derrick. »Und warnen die umstehenden Truppen der Elkanasai.«
Die Elkanasai waren das spitzohrige Volk, das Carapuhr vor zehn Jahren besetzt hatte. Und sie waren meine größten Feinde.
Ich nickte, während ich mir gleichzeitig vorstellte, wie die Wachen von Bons meine Nachricht fanden, die ich in die entkleidete Mumie eingeritzt hatte. Auf deren Bauch stand nun: »Die Pest auf euer aller Häuser, Verräter!«
Ein helleres Horn antwortete. Die Elkanasai.
Ein Trupp war ganz in der Nähe. Nun blickten auch meine Waffenbrüder auf.
»Wir sollten gehen«, sagte Derrick nervös. Sein Pferd tänzelte, als sich die Anspannung von Reiter auf Tier übertrug.
Ich hasste es, dass er sich anmaßte, mir ständig seine Vorschläge zu unterbreiten. Aber er hatte Recht.
Mich dürstete es nach dem Blut meiner Feinde, aber ich hatte nur die wenigstens meiner Brüder bei mir und es wäre nicht klug, sich dem Feind zu stellen, wenn man unterlegen war.
Ich warf noch einen hasserfüllten Blick über den Berg, von dessen Gipfel das Horn der Elkanasai erklungen war. Dann zerrte ich an den Zügeln meines Pferdes und knurrte meine Söldnertruppe herrisch an: »Verschwinden wir hier!«
Ohne zu zögern warfen sie sich auf ihre Pferde. Derrick nahm sich ein Herz und zog Kostja auf sein Ross.
Wut flackerte in mir auf. Jene Wut, die ich selten kontrollieren konnte.
Was fiel Derrick ein, einfach Kostja zu helfen, wenn ich bereits entschieden hatte, dass er ebenso gut zu Fuß gehen konnte?
Ich konnte es nicht ausstehen, wenn Derrick dort Güte zeigte, wo ich kaltherzig war.
Eine Frechheit!
Aber ich konnte mich selbst bezwingen und den Dämonen in mir Einhalt gebieten.
Zumindest vorerst.
»Vorwärts!«, trieb ich meine Männer an und ritt ihnen wütend voraus.
Wütend über Derrick, wütend über mich, weil es mich wütend machte, und wütend, weil ich ein weiteres Mal vor meinen Feinden fliehen musste, statt mich ihnen entgegen zu stellen.
Wut war ein in mir allgegenwärtiges Gefühl, aber so war es nicht schon immer gewesen.