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2.1 Zahl: Monochord und Senario

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Descartes und Zarlino

In Descartes’ Musicæ Compendium gibt es nur wenig neue empirische Erkenntnisse. So baut – wie seit dem Altertum üblich und wie vor ihm Gioseffo Zarlino – auch Descartes sein Tonsystem auf dem ‚senario‘ auf, der Zahl Sechs als Fundament aller Intervalle. Überhaupt lehnt sich Descartes an Zarlinos Istitutioni harmoniche an – allerdings ohne wichtige Aspekte der Intervallehre Zarlinos zu übernehmen (vgl. SCHNEIDER 1972, S. 172–173). Es ist davon auszugehen, dass Descartes die Schrift bereits in der Jesuitenschule La Flèche kennenlernte (GAUKROGER 1995, S. 58). Besonders deutlich wird der Einfluss von Zarlinos Denken bei der Behandlung der Konsonanzen, auch wenn Descartes auf die Intervallspezies und die für Zarlino wesentliche Einteilung der Konsonanzen in „semplici“ und „composti“, also „einfach“ und „zusammengesetzt“ verzichtet; die einzige Erwähnung Zarlinos findet sich im Kontext der Kadenzlehre – als Verweis auf dessen Kataloge (DESCARTES 1656, S. 50). Allerdings berücksichtigt Descartes – anders als Zarlino – ausdrücklich weder die griechische Musiklehre noch die Ideenwelt der Humanisten (vgl. SCHNEIDER 1972, S. 173). Dabei enthält sich Descartes auch nicht der Kritik an Zarlino: So wirft er diesem vor, Kadenzen aller Art zu umständlich aufgezählt zu haben – Descartes ist der Auffassung, selbst bessere Begründungen für seine fundamentalen Überlegungen vorbringen zu können.

Methode

Die Methode Descartes’ verlangt eine auf Ordnung und Unterscheidung fußende Vorgehensweise auf der Basis einer präzisen gedanklichen Grundlage – jenseits der im frühen 17. Jahrhundert üblichen Analogien. Diese Methode ist im Keim bereits im Musicæ Compendium von 1618 enthalten: Seine Verwendung des Monochords als Darstellungsmedium für die Tonhöhenordnung unterstreicht die von ihm verwendeten traditionellen Methoden, aber indem Descartes diese aus dem ihnen innewohnenden traditionellen metaphysischen, vor allem theologischen Diskurs löst, schafft er etwas radikal Neues: „Allein durch die Kraft der Logik, unterstützt von Erfahrungswerten entwirft Descartes seinen Traktat über die Musik.“ (VAN WYMEERSCH 2001, Sp. 859).

Sein neues Fundament wird von Descartes in acht Leitsätzen, Vorbemerkungen („Praenotanda“) dem Traktat vorangestellt, in denen – auf den Punkt gebracht – die Bedingungen bestimmt werden, unter denen Tonbeziehungen das Ziel erreichen, „Menschen zu erfreuen“. Musiktheorie wird von Descartes also nicht auf der Basis von Zahlen und Proportionen (die allerdings auch in Descartes’ System ihren Platz zugewiesen bekommen) betrieben, sondern auf der Basis der Ästhetik. Und wie Mersennes Hauptwerke enthält auch Descartes’ Compendium Stellungnahmen zur Instrumentalstimmung, zur Intervallehre und zur Satztechnik seiner Zeit; hierbei prägt Descartes übrigens als erster den Begriff der „Quinta falsa“, definiert als „Quinta uno schismate defectiva 27:40“ (DESCARTES 1656, S. 45) für die verminderte Quinte als Sonderfall – also durchaus mathematisch-physikalisch, allerdings weist der Begriff „Quinta falsa“ auf die ästhetisch zu verstehende Komponente seiner Terminologie hin.

Konsonanzen

Alle Konsonanzen werden von Descartes aus den ersten sechs Zahlen abgeleitet (ein trotz ernster wissenschaftlicher Einwände tatsächlich bis hin zu Hindemiths Unterweisung im Tonsatz von 1937 üblicher Brauch), allerdings mit einer sehr unzureichenden Begründung: „weil in der Tat die Aufnahmefähigkeit der Ohren nur mit Mühe die größeren Differenzen der Töne unterscheiden könnte“ (DESCARTES 1656, S. 10: „quia, scilicet, aurium imbecillitas sine labore majores sonorum differentiam non posset distinguere“). Diese Begründung ist sogar offensichtlich falsch (insbesondere in Hinblick auf die Zahl Sieben!), auch wenn später etwa Hugo Riemann (in Hinblick auf von Rameau an Descartes gerichtete Vorwürfe) Descartes in Schutz nehmen sollte – mit der Begründung, Descartes denke „an die kleinen Stimmungsunterschiede […], welche die durch weitere Teilungen zu findenden Töne gegenüber den durch die Teilungen bis 6 bestimmten ergeben würden“. (RIEMANN 1898, S. 476). Das mag vielleicht auf Stimmungen nach Werckmeister und später zutreffen, aber an welche zeitgenössischen Stimmungssysteme Descartes bei der Ausführung dieser Begründung hätte denken können, muss hier offenbleiben.

Stichwort

Stimmungen nach Werckmeister

Der Musiktheoretiker Andreas Werckmeister (1645–1706) – Hoforganist in Quedlinburg, später Organist in Halberstadt – veröffentlichte 1681 und 1691 die ersten Beschreibungen von wohltemperierten Stimmungen, die die gegen Ende des 17. Jahrhunderts noch immer verbreitete mitteltönige Stimmung ersetzen und so Musikern auch an Tasteninstrumenten das Spiel in allen verfügbaren Tonarten ermöglichen sollten. In seiner Publikation von 1691 (Musicalische Temperatur) beginnt er die Zählung seiner Stimmungsvorschläge mit der Ordnungszahl III – der reinen (I) und der mitteltönigen (II) Stimmung folgend.

Das pythagoreische Komma, das in der reinen Stimmung den Zusammenhang des Tonsystems in Frage stellt und in allen mitteltönigen Stimmungen nur bedingt aufgehoben erscheint, wird im Fall der Werckmeister-III-Stimmung in vier gleiche Teile zerlegt, die vier der zentralen Quinten verkleinern; alle anderen Quinten bleiben im Verhältnis 2:3. Johann Sebastian Bachs Sammlungstitel Das Wohltemperirte Clavier kann als Anspielung auf Werckmeisters Titel von 1681 Orgel-Probe oder kurtze Beschreibung […] wie […] ein Clavier wohl zu temperiren […] sey verstanden werden.

Vollkommen neu allerdings und zudem außerordentlich empirisch, da experimentell, ist der von Descartes im Compendium angewendete Ansatz, die diatonischen Intervalle mittels eines Saitenteilungsprinzips zu bestimmen – bei dem er tatsächlich nur vier Schritte benötigt, um nacheinander Oktave, Quinte, große Terz und alle anderen diatonischen Intervalle inklusive syntonischem Komma zu gewinnen (Vgl. die ausführliche Versuchsbeschreibung bei PLOEGER, 2002, S. 83–84 bzw. CHRISTENSEN 1993, S. 77–80). Das Saitenteilungsprinzip ist ein arithmetisches: Wie Descartes schon im sechsten Satz seiner Vorbemerkungen feststellte, kann der menschliche Sinn nur arithmetische, nicht aber geometrische Verhältnisse mühelos wahrnehmen. Dieser Darstellung wurde allerdings kaum Beachtung geschenkt, was vermutlich der nahezu gleichzeitigen Darstellung des Obertonphänomens bei Marin Mersenne geschuldet ist.

Der Unisonus, der Einklang, ist für Descartes keine Konsonanz (bei ihm definiert als Töne, die gleichzeitig von unterschiedlichen Klangkörpern hervorgebracht werden können) – er ist nichts als die Basis für die Teilungsprozesse, aus denen alle höheren Konsonanzen erwachsen. Hierbei fällt der Oktave als größter Konsonanz eine besondere Rolle zu – die Abhandlung dieses Terminus ist im Wesentlichen eine der griechischen Bezeichnung Diapason (griech. „durch alle“): Die Oktave enthält alle anderen Konsonanzen; ihre Geschlossenheit stellt Descartes mithilfe eines Kreises dar (DESCARTES 1656, S. 19–20).


Abb. 2.2 René Descartes, Musicæ Compendium, S. 19

Obertöne

An dieser Stelle ist auf die Bedeutung der Sympathieschwingung, die Descartes beobachtet, hinzuweisen: Descartes erkennt – hier durchaus als Vordenker Mersennes – bereits die Möglichkeit des Mitschwingens von Dreiklangstönen und ihren Oktavverdoppelungen (vgl. auch RIEMANN 1898, S. 398):

Quelle

Renatus [René] Descartes, Musicæ Compendium, Amsterdam 1656, S. 14;

deutsch Leitfaden der Musik, hg. und übersetzt von Johannes Brockt, Darmstadt 1978, S. 16:

„Id enim experientia compertum habeo in nervis testudinis vel alterius cujuslibet instrumenti, quorum unus si pulsetur, vis ipsius soni concutiet omnes nervos qui aliquo generae quintae vel ditoni erunt acutiores.“ –

„dass kein Ton gehört wird, dessen höhere Oktave nicht irgendwie dem Ohr mitzuklingen scheint.“

– eine Formulierung, die Rameau im Traité aufgreifen sollte (vgl. RAMEAU 1722, S. 11). Damit berührt Descartes das Obertonphänomen – parallel zur Erschließung der Tonhöhenverhältnisse durch die Teilung eines „tönenden Rahmens“ (SEIDEL 1986, S. 50): eines Grundtons.

Das Phänomen der Obertöne wird von Marin Mersenne mit seiner Formulierung des Zusammenhangs von Tonhöhe und Schwingungszahl 1636/37 dargestellt und Anfang des 18. Jahrhunderts überzeugend nachgewiesen (vgl. SCHNEIDER 1972, S. 54–60), wurde allerdings lange als empirisches Phänomen missverstanden (vgl. PETERSEN 2017c, S. 393). So erwähnt Rameau in den ersten Sätzen seines Traktats Nouveau système de musique théorique von 1726 das Prinzip des „Corps Sonore“, die Konstruktion schwingender Systeme, die die als Grundlage für die Generation von Akkorden notwendigen Obertonschwingungen hervorbringen können, führt diese Theorie aber erst in der Génération harmonique von 1737 vollständig aus. Vom Nouveau système an ist Rameau allerdings damit in der Lage, seine Theorie einer „basse fondamentale“ als natürlich gegeben darzustellen zu können – als Naturphänomen, nicht als mathematische oder pädagogische Konstruktion: Dieser „fundamentale Bass“ ist eine abstrakte, rekonstruierte Stimme, die die Zentral- bzw. Grundtöne der erklingenden Akkorde darstellt; sie vermittelt so den Zusammenhang, den Fortgang von Akkord zu Akkord.

Der Fortgang der Abhandlung aller weiteren Konsonanzen bei Descartes steht unter einem anderen Aspekt, nämlich dem ästhetischen: Die Quinte nennt Descartes das anmutigste und schönste musikalische Intervall (DESCARTES 1656, S. 21: „omnium gratissima atque auribus acceptissima“), die Quarte bezeichnet er als einen „Schatten der Quinte“ (DESCARTES 1656, S. 22–23: „unde sit ut illa quasi umbra quintæ […] possit appellari“) – eine Formulierung, die auch bei Mersenne wiederkehrt und schließlich von Rameau übernommen werden soll: das unglücklichste Intervall – „infelicissima consonantiarum“ –, das niemals um seiner selbst willen gebraucht wird. Eine besondere Rolle spielt bei Descartes – ebenfalls ähnlich wie bei Mersenne und später bei Rameau – die Terz: Die kleine Terz gilt als Umkehrung der großen Terz, und beide konstituieren gemeinsam die Quinte; sie gelten bei Descartes als durchaus gleichwertig. Die enge Beziehung zwischen Terzen und Sexten erklärt er mit dem von ihm aufgezeigten Mitklingen der Oktave.

Dreiklang

Schließlich bemüht Descartes sich um eine Theorie des Dreiklangs – basierend auf dem Gedanken, dass im Rahmen der Oktave bereits alle Intervalle enthalten sind; Oktave, Quinte und große Terz erweisen sich als primäre Intervalle, Quarte und kleine Terz als Konsonanzen „per accidens“ (SEIDEL 1986, S. 9). Für den Zusammenhang mit dem späteren Harmoniebegriff Rameaus wird von Bedeutung sein, dass Descartes den Quartsextakkord (in enger Bezugnahme zu seiner problematischen Quartdefinition) nicht gelten lässt:

Quelle

Renatus [René] Descartes, Musicæ Compendium, Amsterdam 1656, S. 23;

deutsch Leitfaden der Musik, hg. und übersetzt von Johannes Brockt, Darmstadt 1978, S. 24:

„[…] atque inde jam patet quare illa in cantilenis primo & per se, hoc est inter bassum & aliam partem, non possit reponi: cum enim dixerimus cæteras consonantias duntaxat ad variandam quintam esse utiles in Musica, certe evidens est illam fore inutilem; cum quintam non variet, quod patet, quia si illa poneretur in graviore parte, quinta acutior semper resonaret, ubi facillime auditus adverteret illam a sede propria ad inferiorem esse deturbatam, ideoque maxime quarta illi discipleret, quasi tantum umbra pro corpore, vel imago pro ipsa re foret objecta.“ –

„Daraus allein wird klar, warum die Quarte in den Melodien nicht vorwiegend und allein, das ist zwischen Baß und einer andern Stimme, verwendet werden kann. Denn wie wir schon gesagt haben, dass die übrigen Konsonanzen in der Musik nützlich sind, nur um die Quinte abwechslungsreich zu machen, so ist es sicher einleuchtend, dass sie unnütz ist, weil sie die Quinte nicht variiert. Folglich würde, legte man sie in eine tiefere Stimme, die höhere Quinte immer mitklingen, wobei das Gehör leicht bemerken würde, dass sie von ihrem eigentlichen Platz auf einen unteren herabgedrückt wäre, so dass die Quart ihm äußerst mißfallen würde, gleichsam wie etwa nur der Schatten anstatt des Körpers oder die Einbildung an Stelle des Gegenstandes selbst.“

Descartes meint damit die Positionierung einer Quarte zur tiefsten Stimme eines mehrstimmigen Klangs – und lehnt diese ab mit dem Verweis auf den Charakter des problematischen Intervalls als „Schatten“ seines Komplementärintervalls.

Dissonanzen

Descartes rezipiert darüber hinaus wie Mersenne den revolutionären Dissonanzbegriff Vincenzo Galileis. Demnach soll die Dissonanz „nicht mehr nur dem Eintritt der Konsonanz größere ‚Süße‘ verleihen, sondern einem Bedürfnis nach musikalischer Herbigkeit Rechnung tragen und somit eine positive Ausdrucksfunktion erfüllen“ (PALISCA 1958, Sp. 1538). Entsprechend betrachten Descartes und Mersenne die Dissonanz als Reizfaktor, „der die Konzentration des Hörers verstärkt und die Spannung des musikalischen Verlaufs erhöht“ (SCHNEIDER 1972, S. 246). Bislang hat allein Herbert Schneider darauf verwiesen, dass bei Descartes die Dissonanz in der Kadenz und die verschiedenen Arten der von Zarlino übernommenen „Fuga“-Formen als „Ornamenta musicae“, als ‚Figuren‘ aufgefasst werden (SCHNEIDER 1972, S. 175). Später, vor allem in seinen Briefen an Mersenne, sollte Descartes physikalisch orientierte Ansätze übernehmen – er katalogisiert Konsonanzen nicht mehr über Zahlenverhältnisse, sondern anhand ihrer relativen Frequenz, der Anzahl ihrer gemeinsamen „tours et retours“, d.h. der Vergleichbarkeit der Frequenzen (vgl. VAN WYMEERSCH 2001, Sp. 860).

Letztlich ist Descartes’ Verweis auf die aristotelische Beschreibung des Hörvorgangs als Wahrnehmung physikalisch messbarer Schwingungen gemäß seiner Korpuskeltheorie im Traité de l’homme, aber auch schon im Musicæ compendium eine Brücke zur Kompositionslehre, wenn er die Frage nach dem Umgang mit Konsonanzen und Dissonanzen an die Ästhetik gleichsam weiterreicht (vgl. WISSMANN 2010, S. 23; zur Korpuskeltheorie vgl. HIRSCHMANN 2005, S. 123–124).

Quelle

René Descartes 1630 an Marin Mersenne

(Œuvres Bd. 1, S. 126):

„Toutefois il a des endroits où la tierce mineure plaira plus que la quinte, mesme où vne dissonance se trouuera plus agreable qu’vne consonance. Ie ne connois point de qualitez aux consonances qui répondent aux passions. Vous m’empeschez autant de me demander de combien vne consonance est plus agreable qu’vne autre, que si vous me demandiez de combien les fruits me sonst plus agreables à manger que les poissons.“ –

„Vielfach gibt es Stellen, wo die kleine Terz besser gefallen wird als die Quinte, oder eine Dissonanz angenehmer befunden wird als eine Konsonanz. Ich kenne überhaupt keine Qualitäten der Konsonanzen, die den Gefühlen korrespondieren würden. Sie [Mersenne, Anm. des Verf.] wollen doch sicher genausowenig, dass ich mich frage, um wieviel eine Konsonanz angenehmer ist als eine andere, wie Sie mich fragen wollten, um wieviel es mir angenehmer sei Früchte zu essen als Fisch.“ (vgl. HIRSCHMANN 2005, S. 114–115).

Schon die Einordnung der Terz als Konsonanz von höherem Vollkommenheitsgrad als die Quarte – trotz des einfacheren Zahlenverhältnisses – dokumentiert Descartes’ Neigung zu musikästhetischer Wertung. Die – persönliche – sinnliche Wahrnehmung überwiegt das Kalkül – ganz wie bei Alexander Gottlieb Baumgarten gut hundert Jahre später; anders als Baumgarten spricht Descartes aber nicht von einer sinnlichen Erkenntnis, sondern unmittelbar vom sinnlichen Vergnügen – und dessen Ursache liegt im Objekt der sinnlichen Wahrnehmung.

Die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts

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