Читать книгу Die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts - Birger Petersen - Страница 7

1 Vorwort: Die Geburt der Oper

Оглавление

Am 24. Februar 1607 fand im Palazzo Ducale von Mantua die Uraufführung der Favola d’Orfeo statt. Das Libretto der Komposition, eine Auftragsarbeit zum Karneval und zum 21. Geburtstag des Herzogs, stammte vonAlessandro Striggio (1573–1630), der den antiken Stoff über den legendären Sänger auf dem Weg in die Unterwelt in einen Prolog und fünf Akte neu gefasst und mit einem alternativen Ende versehen hatte – bei Striggio entkommt Orfeo; im Druck der Partitur erscheint (abweichend vom Libretto) am Ende Apoll, der Gott des Lichts, der Orpheus im Sternbild der Leier am Himmel verewigt. Die Komposition des Orfeo stammt von Claudio Monteverdi – und der Tag der Uraufführung ist als Geburtsstunde der Oper, der Druck der Partitur zwei Jahre später als „Gründungsdokument der Oper“ zu verstehen (vgl. HEINEMANN 2017, S. 11–12): Ursprünglich handelte es sich bei der Drucklegung um die Dokumentation eines besonderen Ereignisses aus Anlass des Geburtstags von Francesco IV. Zum Zeitpunkt der Kompositionwar Monteverdi am Hof des Herzogs Vincenzo I. Gonzaga als Sänger und Kantor tätig und bereits knapp vierzig Jahre alt – und konnte auf eine beeindruckende musikalische Karriere zurückblicken.

Stichwort

Claudio Monteverdi

Der 1567 als Sohn eines Wundarztes geborene Monteverdi erhielt bereits früh eine gründliche musikalische Ausbildung, vermutlich unter anderem beim Cremoneser Domkapellmeister Marc’ Antonio Ingegneri (1535–1592). Er veröffentlichte bereits 1583 die Madrigali spirituali, ein (nur fragmentarisch erhaltenes) Madrigalbuch, dem 1587 eine erste, rein weltliche Sammlung und bis 1638 noch weitere sieben folgen sollten. 1590 wurde Monteverdi zunächst als Sänger und Violinist, 1594 als „Cantore“ und 1601 als Kapellmeister am Hof des Herzogs von Mantua angestellt. L’Orfeo folgte ein weiteres Musiktheaterwerk mit L’Arianna (1608), das bis auf ein „Lamento“ nicht erhalten ist, und mit der Vespro della Beata Vergine (1610) eine Marienvesper.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Cremona nach dem Tod des Herzogs, der die Entlassung Monteverdis aus den Diensten Mantuas nach sich zog, wurde Monteverdi 1613 zum Kapellmeister am Markusdom in Venedig ernannt. Die Eröffnung eines Opernhauses in Venedig zeitigte eine erneute Hinwendung zum Musiktheater, unter anderem mit der Komposition von Il ritorno d’Ulisse in patria (1641) und L’incoronazione di Poppea (1642). Monteverdi starb 1643 in Venedig.

„Favola in musica“

Die „Favola in musica“ – so lautet der Untertitel, den der Komponist in Ermangelung einer bereits geprägten Gattungsbezeichnung seinem Werk gegeben hatte; auch den Titel L’Orfeo trägt die Oper erst im Erstdruck (vgl. LEOPOLD 2017, S. 98) – greift zwar (als „Favola pastorale“, als Schäferspiel) durchaus auf das antike Vorbild der griechischen Tragödie zurück, sollte aber wegweisend für die Entwicklung des Musiktheaters werden: Monteverdi und Striggio stellten eben keine zufällige Folge von unverbundenen Nummern unterschiedlichster Besetzung zusammen, sondern präsentierten mit dem Werk eine abgeschlossene Komposition mit einem einheitlichen Handlungsstrang, ohne gesprochene Zwischentexte, wenngleich mit aufeinander abgestimmten Tänzen, Instrumental- und Chorsätzen (vgl. HEINEMANN 2017, S. 11) – und damit grundsätzlich anders gestaltet als die um die Jahrhundertwende vielfach konzipierten Verbindungen von Musik und Theater wie etwa vermutlich auch in der 1598 uraufgeführten Dafne aus dem Kreis der Florentiner Camerata auf einen Text von Ottavio Rinuccini (1562–1621), unter anderem mit der Musik Giulio Caccinis, die bis auf wenige Fragmente nicht erhalten ist, und in zwei Werken mit dem Namen Euridice von Giacomo Peri (1561–1533) beziehungsweise Caccini.


Abb. 1.1 Claudio Monteverdi: Favola d’Orfeo (1609), Titelblatt

Stichwort

Giulio Caccini

Der 1551 in Rom geborene – daher von seinen Zeitgenossen „Romano“ genannte – Caccini wurde früh in der Capella Giulia gefördert; ab 1566 ist er als Instrumentalist am Hof des Großherzogs Ferdinando I. de’ Medici in Florenz und damit in einem der kulturellen Zentren Italiens nachweisbar (vgl. HILL 2000). Caccini hatte entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Monodie – und diese wiederum ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Oper als Gattung. Zu seinen Schülern gehört unter anderem seine zweite Tochter Francesca Caccini (1587–1645), die solistische Rollen in den Werken ihres Vaters übernahm, seit 1607 als Hofmusikerin am Hof der Medici geführt wurde und selbst als eine der ersten Komponistinnen unter anderem mit einer Oper – La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina (Florenz 1625) – hervortrat (vgl. ROSTER 1998).

Eng verbunden ist der Name Caccinis mit der Entwicklung des Musiktheaters an der Jahrhundertwende: Er hintertrieb die Uraufführung der Oper Euridice Peris (1600), indem er die Sänger die Passagen seiner eigenen Vertonung des Stoffes singen ließ; seine Euridice (1602) gab er noch vor Peri in den Druck. Caccini starb 1618 in Florenz.

Monodie

Die Partitur des Orfeo Claudio Monteverdis weist einige Besonderheiten auf – die von großem Interesse auch für die Aufführungspraxis sind: Von besonderer Bedeutung für die dramatische Konzeption der Oper ist die Form der Monodie als Nachahmung menschlichen Sprechens – der Gestik des Redenden, das Bild seiner Erregung, nur unterlegt von Akkorden. Monteverdi greift damit den „stile recitativo“, den „erzählenden Gesang“ auf, der sich vor allem in den Kompositionen Caccinis findet. In dessen monodischen Kompositionen wird der solistische Gesang nur von einem Akkord-Instrument, also mit einer festen harmonischen Stütze durch ein Tasten- oder Lauteninstrument begleitet (Caccini spielte selbst Laute, Chitarrone, Theorbe und Harfe) – eine Kompositionsweise, die sich bereits im Werk Emilio de’ Cavalieris (1550–1602) findet. Besonders gepflegt wurde diese neue Art zu musizieren im Haus des Giovanni de’ Bardi, in dessen Palazzo sich aus dem „bardischen Kreis“ die „Camerata Fiorentina“ entwickelte, eine Gruppe von kunstsinnigen Dichtern, Musikern, Philosophen und Adligen. Das Hauptwerk Caccinis, Le nuove Musiche (Florenz 1601), weist eine ganze Reihe von Sologesängen mit Basso continuo auf: Seine Solomadrigale verwenden Liebeslyrik wie im mehrstimmigen – zumeist fünfstimmigen – Madrigal des 16. Jahrhunderts. Teile der Sammlung wurden im Verlauf des 17. Jahrhunderts vielfach auch instrumental bearbeitet, darunter von Peter Philips für das weit verbreitete Fitzwilliam Virginal Book oder von Jacob van Eyck.

Monteverdi notiert darüber hinaus die Beschwörungsarie des Orfeo „Possente spirto“ in zwei Varianten – einer schlichten und einer höchst kunstvoll verzierten Version. Der Komponist dokumentiert hier also neben dem Gerüstsatz der Komposition als Basis für die Aufführung einen Vorschlag für die Realisierung für die besondere Szene – nicht als Ideallösung, sondern gemessen an den stimmlichen Fähigkeiten des jeweils Nachschaffenden (vgl. HEINEMANN 2017, S. 20). Mit Francesco Rasi stand für die Uraufführung ein wohl hervorragender, sogar namentlich überlieferter Sänger zu Verfügung. Zugleich entspricht Monteverdi den Anforderungen der zeitgenössischen Musiktheorie – der Gerüstsatz stellt den regelgerechten Satz Monteverdis unter Beweis. Erst die Interpretation gestattet dem Aufführenden Freiheiten, deren sich der regelhafte Kontrapunkt des Komponisten augenscheinlich verweigert. So ist aber nunmehr auch nicht mehr aus dem Notentext die Qualität einer Komposition zu bewerten, weil ihm entscheidende Merkmale des musikalischen Kunstwerks – so seine reale klangliche Oberfläche – fehlen (vgl. HEINEMANN 2017, S. 22–24).

Prima und Seconda prattica

In diesem Kontext bemerkenswert ist der Umstand, dass die Kontroverse, die Monteverdi ab 1600 mit Giovanni Maria Artusi (1540–1613) – einem Schüler Gioseffo Zarlinos (1517–1590), dem Autor von L’istitutioni harmoniche (Erstauflage 1558), der wegweisenden Kontrapunktlehre seiner Zeit – ausfechten sollte, eben diese Differenz betrifft: Artusi kritisierte in seinem Dialog L’Artusi, overo Delle imperfettioni della moderna musica ragionamenti dui (Bologna 1600) nicht die klangliche Oberfläche, sondern die Satztechnik Monteverdis. In einer „Dichiaratione“ überschriebenen Darstellung seines Bruders Giulio Cesare in den Scherzi musicali a tre voci von 1607 lässt Monteverdi den Venezianischen Kapellmeister Adrian Willaert (1490–1562) als einen der Hauptvertreter einer „Prima prattica“ gelten, die von Ockeghem, Josquin oder de la Rue bis hin zu Gombert und Willaert entwickelt und zur Perfektion gebracht worden sei – unter Verweis auf ihre Darstellung eben bei Zarlino. Damit seien nicht die Grundlagen der Theoriebildung gefährdet – doch könne man in der Praxis, einer „Seconda Prattica“ eben, anders verfahren. Von einer „Seconda pratica, ovvero perfettione della moderna musica“ schreibt Monteverdi bereits im Vorwort zu seinem fünften Madrigalbuch (1605) – die „Perfektion der modernen Musik“: In ihr werden die Regeln der Vergangenheit nicht außer Kraft gesetzt, sondern nur überformt (vgl. EHRMANN 1989, S. 129–143). Kunst bestand für Artusi noch daraus, Regeln einzuhalten – sie ist Handwerk auf höchstem Niveau, angeleitet von der Theorie. Für Monteverdi hingegen besteht Kunst darin, die Regeln zu überschreiten (vgl. LEOPOLD 2017, S. 89–92).

Leidenschaft

L’Orfeo markiert so in mehrfacher Hinsicht einen bedeutenden Einschnitt: Zum einen handelt es sich bei diesem Werk um eine erste Komposition, die der Gattung „Oper“ zuzuordnen ist, zum anderen wird ihr besondere Aufmerksamkeit durch die Umstände ihrer aufwändigen Publikation zuteil. Darüber hinaus finden in dieser Komposition – überaus modern – Leidenschaften einen musikalischen Ausdruck: Die Musik soll bewegen und erschüttern (vgl. LEOPOLD 2017, S. 91–92). Dies erreicht Monteverdi auch mit den Äußerlichkeiten seiner Komposition (vgl. LEOPOLD 2017, S. 99–106): Die ohnehin sehr üppig instrumentierte Komposition differenziert so zwischen einem Instrumentarium, das mit dem Leben und der Musik verbunden ist und von Streichern und Flöten sowie mit einem mit dem Cembalo besetzten Basso continuo geprägt wird, und einer Gruppe von Instrumenten – Blasinstrumente, vor allem Zinken und Posaunen, sowie der Orgel bzw. dem Regal als Continuo-Instrument –, die den Hades symbolisieren.

Mit Monteverdis Orfeo beginnt so ein neues Kapitel in der Geschichte der musikalischen Gattungen, eine neue Haltung in der Rezeption von Musik, die erschüttern kann und darf, ein Umbruch der herrschenden Zustände auf musikalischer wie musiktheoretischer und dazu musiksoziologischer Ebene – und die Geschichte der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts.

*

In der Regel beansprucht das Außergewöhnliche die Aufmerksamkeit der Musikgeschichte, nicht die Norm – und das macht eine Historiographie der Musik (oder einer anderen Kunst) so schwierig (vgl. ROSEN 1983, S. 20): Den Personalstil eines Komponisten machen nicht die für seine Zeit oder nicht einmal für ihn gewöhnlichen Verfahrensweisen aus, sondern seine Individualität. Eine allgemeingültige Musikgeschichte ist also auszuschließen, wenn es nur unabhängige Einzelwerke gibt, die ihre eigenen Normen aufstellen. Entsprechend folgt diese Publikation der Idee, die jeweiligen musikhistorisch relevanten Fragestellungen der Einzelkapitel zunächst im Kontext der zeitgenössischen Musiktheorie – also übergeordnet – darzustellen, bevor in einem zweiten Schritt ein konkretes Beispiel in seiner individuellen Ausprägung herangezogen wird: Dem Reihengedanken entsprechend, werden in diesem Band musikhistorische wie musiktheoretische Grundzüge der Musik im 17. und 18. Jahrhundert dargestellt.

Carl Dahlhaus hält die primäre Orientierung der Musiktheorie am musikalischen Kunstwerk und damit den Blick auf Strukturprinzipien des Tonsatzes für den avanciertesten Aspekt der Musiklehre im frühen 18. Jahrhundert: Die Orientierung am Kunstwerk selbst ist kompositions- und ideengeschichtlich im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts „an der Zeit“ (DAHLHAUS 1989a, S. 2). Ausgehend von einem für das jeweilige Thema des Kapitels relevanten historischen Text, der Anknüpfungspunkte für eine Kontextualisierung bietet, steht im Mittelpunkt entsprechend immer das musikalische Kunstwerk in seinem kultur- und sozialhistorischen Umfeld – beginnend mit dem 24. Februar 1607 und endend mit dem 29. März 1795, dem Tag der Uraufführung des Klavierkonzerts B-Dur op. 19 mit dem Komponisten am Klavier: Ludwig van Beethoven.

Die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts

Подняться наверх