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2 Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes

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Überblick

Das Musicæ Compendium des noch jungen René Descartes beginnt mit den Sätzen „Hujus objectum est Sonus. Finis ut delectet, variosque in nobis moveat affectus“ – „Der Zweck des Tones ist letzten Endes, zu erfreuen und in uns verschiedene Gemütsbewegungen hervorzurufen“ (DESCARTES 1656, S. 5): Descartes geht als erster Autor in der Geschichte des Musikschrifttums nicht von der Musik selbst aus, sondern vom Hörer. „Der Anfangssatz des ‚Compendium‘ […] formuliert als den neuen Blickpunkt das im Gemüt vorhandene Wohlgefallen, die Ergötzung (delectatio)“ (BESSELER 1959, S. 30); der Blick des Autors richtet sich auf das empfindende und schließlich urteilende „Gemüt“ (animus). Musikhören bedeutet für Descartes bereits eine geistige Tätigkeit: „Die Einbildungskraft (imaginatio) ist es, die nach seiner Anschauung beim Hören jedes neue Glied mit den vorangehenden zusammenschließt, außerdem eine Korrespondenz mit früheren Gliedern herstellt und so das Musikstück als eine Einheit vieler zusammengehörender Glieder erfasst (concipit)“ (BESSELER 1959, S. 40; vgl. MORENO 2004, S. 50–84, bzw. JORGENSEN 2012).

Der an der Jesuitenschule La Flèche erzogene Descartes gehört nicht nur zu den wirkmächtigsten Philosophen seiner Zeit: Obgleich sein musiktheoretisches Schrifttum nicht sonderlich umfangreich ist, war es doch prägend für die nachfolgenden Generationen – als Musiktheoretiker tatsächlich auch außerhalb Frankeichs bekannt geworden sind im 17. Jahrhundert nur Descartes und Mersenne (vgl. SEIDEL 1986, S. 5). Die Musikanschauung des 17. und 18. Jahrhunderts stützt sich insbesondere auf Descartes’ rationalistische Affektenlehre. Auch der Einfluss auf Johann Mattheson ist groß, und die Bedeutung der Philosophie Descartes’ für das musiktheoretische Schaffen Rameaus lässt sich kaum überschätzen. Berühmt geworden ist das Bekenntnis Rameaus zu Beginn der Démonstration du principe de l’harmonie von 1750 – der bereits hochbetagte Komponist versucht, den methodischen Zweifel des Philosophen nachzuahmen, gibt vor allem aber zu, dass er durch die Lektüre des Discours de la méthode von Descartes stark geprägt worden sei (vgl. CHRISTENSEN 1993, S. 31–35 bzw. KINTZLER 1983, S. 45–46) – gleichwohl aber auch ein Stück biographischer Konstruktion zur Nobilitierung der eigenen Vita.

Zeitgenössische Rezeption

Seine in musiktheoretischer Hinsicht bedeutendste Schrift, das Musicæ Compendium, stellte Descartes bereits 1618 – also als sehr junger Mann – fertig, veröffentlichte sie aber nicht mehr zu Lebzeiten: Es war vermutlich gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen (vgl. SEIDEL 1986, S. 46), auch wenn die Textsorte „Compendium“ sich als handliche Überblicksdarstellung vor allem an Schüler richtete (vgl. WALD-FUHRMANN 2017, S. 119). Das in lateinischer Sprache verfasste ‚Werk‘ erschien erst 1650 im Druck, wurde aber dann wiederholt aufgelegt und schon 1653 von Walter Charleton ins Englische übersetzt, 1668 auch ins Französische und noch vor der Jahrhundertwende ins Niederländische; das Compendium regte etwa Nicolaus Mercator und Isaac Newton zu vergleichbaren Publikationen an (vgl. WARDAUGH 2013).

Empirie

Tatsächlich enthält das Buch kaum neue Erkenntnisse oder Ergebnisse aus der Experimentierpraxis, ganz im Gegensatz zu den musiktheoretischen Schriften seines Zeitgenossen Mersenne (vgl. CHRISTENSEN 1993, S. 77): Descartes arbeitet mit Rhythmus, Intervallehre, Tonsystem und den fundamentalen Regeln des einfachen und diminuierten Kontrapunkts die gängigen Elemente der zeitgenössischen Musiklehre auf. Gleichwohl gehören Descartes’ Arbeiten in die Zeit der Entstehung der modernen musikalischen Akustik: Descartes ist Zeitgenosse von Isaak Beeckman oder Christian Huygens und gewinnt seine Arbeitsergebnisse wie diese durch empirische Experimente, vorzugsweise am Monochord. Das Compendium soll „keine detaillierten Kenntnisse vermitteln, sondern ‚montrer comment, en général, la musique est composée‘“ (SCHNEIDER 1972, S. 172). Allerdings ist die Grundlage, auf der das nicht sehr umfangreiche Werk basiert, eine vollkommen neuartige und originelle. Descartes geht in allen Lehrsätzen und Beurteilungen in erster Linie von der Einbildungskraft und der Sinneswahrnehmung des Menschen aus – insbesondere von der akustischen: Er versucht, Musiktheorie erkenntnistheoretisch zu fundieren. Descartes verbindet ästhetische Prinzipien in der Musik mit der einfachen Zahlenbeziehung der Töne, denn die mathematische und akustische Seite interessiert ihn nicht weniger als die psychologischphysiologische Seite der Musik.


Abb. 2.1 René Descartes (Portrait von Frans Hals, 1648)

Im Folgenden sollen zunächst anhand einiger Aspekte des musiktheoretischen Denkens bei Descartes vor allem im Musicæ Compendium aufgezeigt werden, inwiefern Descartes sich diesen neuen Zugang zu seinem Gegenstand erschließt. Neben einer Kontextualisierung des cartesianischen Materialismus soll es schließlich um eine Verortung der Rolle Descartes’ in der Entwicklung der Affektenlehre gehen, insbesondere in Hinblick auf die Wirkung des Traité des passions de l’âme (1649) auf die musiktheoretischen Texte Johann Matthesons.

Die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts

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