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2.2 Zahl und Affekt: Der cartesianische Materialismus

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Metaphysik

Die Metaphysik Descartes’ war schon früh – um 1700, also nur ein halbes Jahrhundert nach Descartes’ Tod – überwunden und hatte einen sehr zurückhaltenden Einfluss auf Philosophie und Kultur im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Ganz entgegengesetzt ist der Einfluss des sogenannten cartesianischen Materialismus einzuschätzen – obwohl oder gerade weil die cartesianische Philosophie 1693 von der Sorbonne und dem Königlichen Rat als gemeingefährlich eingestuft und verboten wurde; die cartesianische Physik hingegen wird später auch von der Geistlichkeit anerkannt und zum Dogma erhoben (vgl. PISCHNER 1967, S. 85).

Der cartesianische Materialismus zeigt sich schon im Hinblick auf die Musiktheorie im Musicaæ Compendium in einer frühen Ausprägung, zieht aber noch weitaus größere Kreise nach sich. Descartes als bedeutendster Fürsprecher einer mechanistischen Weltanschauung beschreibt die Natur als aus unendlichem Raum bestehend, der von Substanz in nur zwei verschiedenen Zuständen gefüllt wird – Bewegung oder Trägheit; jedes erfahrbare Phänomen könne nach Descartes auf die mechanische Gleichung der auf eine andere Materie einwirkende Materie reduziert werden. Qualitäten wie Farbe, Klang oder Geschmack sind als sekundär einzuschätzen, soweit sie nicht essentieller Bestandteil der Materie sind, sondern ausschließlich Sinneswahrnehmung (vgl. CHRISTENSEN 1993, S. 103). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Compendiums für die Entstehung einer neuen Musikästhetik – einer Art „rationalisierter Affektenlehre“ (STEPHAN 1954, Sp. 210). Die Sinneswahrnehmung versucht Descartes auf eine mechanische Funktion zu reduzieren, wobei er auch auf den Subjektivismus der sinnlichen Wahrnehmung hinweist: Das Objekt der Betrachtung ist umso leichter aufzunehmen, je einheitlicher und proportionierter seine Teile untereinander sind. Diese Stellungnahme ist keine Entdeckung des 17. Jahrhunderts – verwiesen sei hier nur auf Demokrit oder Lucretius –, aber erst die Philosophie dieser Epoche setzte den Materialismus als Naturinterpretation in einen radikal neuen metaphysischen Rahmen: Die Naturwissenschaften werden zum ‚Schlüssel zur Natur‘. Marin Mersenne sollte schließlich die Aufgabe zufallen, zu beweisen, dass auch Platonischer Idealismus mit der mechanistischen Auffassung harmonisiert werden kann.

Philosophie und Praxis

Descartes postuliert, dass die Wissenschaften praxisorientiert arbeiten sollen – so dass sie ein enzyklopädisches Gesicht erhalten können. Diese Forderung findet sich insbesondere in seinem Discours de la Méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, auf deutsch Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, der 1637 anonym erschien. Diese Schrift enthält eine autobiographische Skizze, provisorische Grundsätze der Moral, einen Gottesbeweis, naturwissenschaftliche Fragen und Anwendungen, um uns „zu Herren und Eigentümern der Natur zu machen“, und das berühmt gewordene erste Prinzip der Philosophie: „Ich denke, also bin ich“. Descartes’ Forderung nach praxisorientierter Wissenschaft impliziert ein Denkverfahren, das alle wissenschaftlichen Ergebnisse in erster Linie durch Beobachtung und Analyse der in den Dingen selbst erhaltenen Ordnung sucht; die Methode entspricht der John Lockes, die d’Alembert auch im Vorwort zur Encyclopédie beschreibt. Es geht Descartes um eine der realen Welt zugewandte, methodisch zuverlässige Philosophie, die das allgemeine Wohl aller Menschen durch Steigerung ihrer Macht über die Natur fördert:

Quelle

Descartes, Discours de la Méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, Paris [anonym] 1637, S. 58:

„Il est possible de parvenir à des connaissances qui soient fort utiles à la vie; et qu’au lieu de cette philosophie spéculative qu’on enseigne dans les écoles, on en peut trouver une practique, par laquelle, connaissant la force et les actions du feu, de l’eau, de l’air, des astres, des cieux et de tous les autres corps qui nous environnent, aussi distinctement que nous connaissons les divers métiers de nos artisans, nous les pourrions employer en mÞme façon à tout les usages auxquels ils sont propres, et ainsi nous rendre comme maîtres et possesseurs de la nature.“

deutsch Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, übersetzt von Kuno von Fischer, Stuttgart 1863/1973:

„[Es ist möglich,] Ansichten zu gewinnen, die für das Leben sehr fruchtbringend sein würden, und statt jener theoretischen Schulphilosophie eine praktische zu erreichen, wodurch wir die Kraft und die Tätigkeiten des Feuers, des Wassers, der Luft, der Gestirne, der Himmel und aller übrigen uns umgebenden Körper ebenso deutlich wie die Geschäfte unserer Handwerker kennenlernen und also imstande sein würden, sie ebenso praktisch zu allem möglichen Gebrauch zu verwerten und uns auf diese Weise zu Herrn und Eigentümern der Natur zu machen.“

Wie Mersenne vertritt Descartes in seinem Compendium die Auffassung, dass die Beziehungen zwischen den Empfindungen der menschlichen Seele nicht feststellbar sind. Diese Ansicht wird von Descartes (und später auch von Rameau in der Génération harmonique) auf die Tonbeziehungen übertragen: Töne haben zueinander die gleichen Beziehungen wie ihre Ursachen – also wie die Zahlenverhältnisse, die sie hervorbringen. Dieses sehr deutliche Bekenntnis zur Tradition, bewiesen auch anhand der Experimente am Monochord, wird von Rameau fraglos übernommen. D’Alembert sollte später in dieser Hinsicht zu den heftigsten Kritikern Descartes’ gehören: Er verbannt aus seinen Elémens de musique théorique et pratique, suivant les principes de M. Rameau (Paris 1752) sämtliche Betrachtungen über geometrische, harmonische und auch arithmetische Proportionen und Teilungen. D’Alemberts Evidenzbegriff ist ein von dem cartesianischen wesentlich verschiedener (vgl. PISCHNER 1967, S. 156).

Die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts

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