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„Stille Nacht, heilige Nacht“

Das hatte ihm gerade noch gefehlt: Heiligabend auf Einsatz! Seine Frau hatte schon den Braten in der Röhre und war stinksauer. Die Kinder würden die Bescherung dieses Jahr ohne ihn erleben. Kommissar Meik Schulte war zunächst zum Tatort gefahren, wo glücklicherweise die Kollegen bereits alles abgesperrt hatten. Viel war nicht zu tun, er überließ jetzt der Spurensicherung das Feld, um die Angehörigen zu befragen. Die Nichte des Opfers war am Tatort so aufgelöst gewesen, dass man sie erstmal nach Hause geschickt hatte. Er parkte vor einem imposanten Flachbau. Das rötliche Ziegelmauerwerk und die große Eingangsüberdachung hoben sich stark von den umstehenden Häusern ab. Nachdem er geklingelt hatte, öffnete ihm ein älterer Herr.

„Schulte, Kripo Soest. Entschuldigen Sie die Störung, aber ich muss Sie und Ihre Familie zu dem tragischen Todesfall am Petrikirchhof befragen. Darf ich reinkommen?“

„Aber sicher, Sie müssen ja Ihre Arbeit erledigen.“ sagte der behäbige Mann und trat zur Seite.

„Sie sind Heinz Schneider, der Bruder der Toten?" fragte Schulte.

„Ja, so ist es, es ist schrecklich, wir sind alle noch fassungslos über dieses Unglück. Wie konnte sie nur runterstürzen? Furchtbar. Marlies, machst du mal Kaffee für den Kommissar? Sie möchten doch Kaffee?“

„Ja, sehr gerne, es ist zwar schon spät, aber Kaffee fördert ja bekanntermaßen das Denkvermögen, nicht wahr?“ setzte er schmunzelnd hinzu, froh über das Angebot. Wenigstens höfliche Leute, da hatte er ja meistens mit ganz anderer Klientel zu tun: Den ganzen Kleinkriminellen und Banden, die Soest im letzten Jahr einen achtzig prozentigen Anstieg der Wohnungseinbrüche beschert hatten. Sie machten sich den Umstand zunutze, dass Soest und einige umliegende Dörfer direkt an der A44 lagen. Schon im Mittelalter eine bekannte Handelsstraße und Zubringer für Pilger des Jakobswegs, diente der „westfälische Hellweg“ nun als schneller Fluchtweg nach Osteuropa.

„Sie und Ihre Nichte waren ja Zeugen des Unfalls, deshalb habe ich einige Fragen. Ist Ihre Tochter inzwischen wieder ansprechbar?“

„Na ja, es wird schon gehen. Marlies, hol Eva von oben und gib ihr einen Cognac, damit sie sich endlich beruhigt.“

„Ihre Frau war nicht mit beim Gloriasingen?“

„Nein, die hatte ja die Gans im Ofen. Normalerweise wäre ich auch nicht hingegangen, aber unsere Tochter Eva ist gerade zu Besuch und hatte sich darauf gefreut. Wir haben früher immer Weihnachten so gefeiert: Erst zum Gloriasingen, dann haben wir Tante Herta mit zu uns genommen zum Essen und zur Bescherung. Sie hatte ja sonst niemanden, wissen Sie? Keinen Mann, keine Kinder. Außer natürlich den Chor-Kindern. Sie war ja schon viele Jahre Chorleiterin.“

„Das heißt, sie hat auf dem Turm den Chor dirigiert?“

„Ja, sicher. Jedes Jahr zu Weihnachten war sie auf dem Petrikirchturm. Sie hatte wohl schon oft erzählt, wie schwer ihr der Treppenaufstieg fiel, sie war ja nicht mehr die Jüngste…“

„73?“ sagte Schulte mit Blick auf sein Notizbuch.

„Genau. Der Chor war ihr Ein und Alles, dafür hat sie gern die Strapazen in Kauf genommen: Jede Woche Chorprobe im Archigymnasium und Sonntag in der Petrikirche. Und eben die steilen Treppen einmal im Jahr. Wenn man sonst nie Treppen steigt, schafft man das halt nicht.“

Marlies Schneider brachte den Kaffee.

„Guten Abend, Herr Kommissar. Milch und Zucker? Entschuldigen Sie, meine Hände zittern richtig, es ist grauenvoll, was mit Herta passiert ist.“

„Setzen Sie sich doch bitte zu uns, Frau Schneider.“ sagte Schulte.

„Was ist denn jetzt mit Eva? Eva! Komm runter!“

„Sie macht sich nur nochmal frisch, war ganz verweint, das arme Ding.“

„Wie war denn Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwester beziehungsweise Ihrer Schwägerin?“ fragte Schulte.

Marlies antwortete: „Gut natürlich, sie war jeden Mittwoch bei uns zum Kaffee. Sonst hatte sie ja keine Familie.“

„Ja, das sagte ich schon. Ich arbeite ja immer noch in unserer Apotheke, deshalb habe ich sie nur selten gesehen, also eben ganz normal zu Geburtstagen, Feiertagen. Oder natürlich in der Apotheke. Sie war ja ständig krank. Hat auch Antidepressiva genommen. Hat aber wenig genützt.“

„Jetzt hör doch auf, Heinz.“ versuchte Marlies ihren Mann zu bremsen.

„Wieso, der Herr Kommissar will doch alles genau wissen, oder? Außerdem ist das wichtig. Herta war ja schon lange unglücklich mit ihrem Leben.“

„Wie meinen Sie das?“ setze Schulte nach.

„Ach, sie hat eben nichts erreicht im Leben. Als ich die Apotheke unseres Vaters übernommen habe, hatte ich ihr sogar eine Anstellung angeboten, aber sie wollte ja nicht. Hat keinen Mann abbekommen, und dann diese unmögliche Tändelei mit dem Pfarrer, da hat sie sich doch nur lächerlich gemacht.“

„Sie wollen behaupten, Ihre Schwester hatte eine… äh… Affäre mit dem Pfarrer der Petrikirche?“

„Das ging schon viele Jahre, was sie sich da eingebildet hat, werde ich nie begreifen. Der ist doch ein Mann Gottes, und jünger noch dazu. Sie hat ihn ja regelrecht „gestalkt“ oder wie man das nennt.“

„Papa, wie redest du denn?“ Mit verquollenen Augen und brüchiger Stimme stellte sich Eva vor.

„Kannst Du nicht wenigstens jetzt, wo sie tot ist, einmal aufhören, schlecht über Tante Herta zu sprechen? Immer dieser Streit, und jetzt ist sie tot. Tot!“

Wieder brach sie in Tränen aus.

„Wie eng war denn Ihr Kontakt zu Herta Schneider, schließlich leben Sie ja nicht in Soest, wie ich höre, da haben Sie sich sicher nicht sehr nahe gestanden?“ fragte der Kommissar Eva Schneider.

„Ich bin damals zum Studium nach Berlin gezogen und lebe seither dort, aber ich telefoniere, ich meine telefonierte jede Woche mit Tante Herta, immer Sonntags. Erst mit Mama, dann mit Tante Herta.“

„Gut. Herr Schneider, Sie sagen, Herta Schneider war depressiv? Glauben Sie denn, sie hatte Selbstmord-Absichten?“

„Ach Gott, was weiß ich schon, was in ihr vorging, aber sie war schon als Kind kränklich und aufsässig und das hat sich ihr Leben hindurch nur verschlimmert. Immer wenn ich sie sprach, war sie übellaunig, hat ihren Weltschmerz ausgewalzt.“

„Was heißt denn hier Weltschmerz? Sie konnte eben nie verwinden, dass Opa so ungerecht zu ihr war und dich immer bevorzugt hat. Aber sie war doch nicht depressiv.“ schrie Eva dazwischen, den Tränen nah.

„Kind, jetzt reg dich doch nicht auf.“ Marlies versuchte ihre Tochter zu umarmen, die ungläubig zwischen Meik Schulte und ihrem Vater hin und her blickte.

„Sie hat sich doch nicht vom Turm gestürzt. Jemand muss sie gestoßen haben. Wer war denn außer den Kindern noch oben? Haben Sie die Bläser befragt?“

„Wir haben natürlich von allen die Personalien aufgenommen.“ entgegnete Schulte ungeduldig.

„War denn die Balustrade beschädigt? Die ist ja uralt und vielleicht nicht mehr sicher? Und was ist mit Fingerabdrücken?“ fragte Eva.

„Das prüfen wir natürlich alles. Aber wissen Sie, auf dem verwitterten Grünsandstein wird das schwierig. Außerdem ist über die Feiertage das Labor schlecht besetzt, das wird dauern. Aber wir haben ja jede Menge Zeugen, da ist das kein Problem. Machen Sie sich mal keine Sorgen.“

„Siehst Du, Kind, lass den Herrn Kommissar nur seine Arbeit machen. Möchten Sie vielleicht etwas Gänsebraten essen? Es gibt auch Rotkohl und Klöße.“ warf Marlies etwas unpassend ein.

„Oh, vielen Dank, zu freundlich, aber meine Frau wartet zu Hause. Ich glaube, ich habe Sie lange genug aufgehalten.“

„Haben Sie eigentlich schon Hertas Wohnung überprüft? Ich habe einen Schlüssel für Notfälle, den gebe ich Ihnen gerne.“

„Das ist ja ausgezeichnet, besten Dank!“ erwiderte Schulte. Vielleicht würde er ja doch um eine langwierige Mordermittlung herumkommen. Freudig erregt ob der Aussicht auf einen schmackhaften Weihnachtsbraten fuhr er heimwärts.

Mord beim Gloriasingen

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