Читать книгу Mord beim Gloriasingen - Birgit Davidian - Страница 14
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Оглавление„miserere m(e)i d(omi)ne“ (Erbarme Dich meiner, Gott)
Inschrift auf dem wertvollsten Abendmahlskelch von St. Petri
Meik Schulte war kein regelmäßiger Kirchgänger. Durch die zahlreichen Kindstaufen im Freundeskreis hatte er jedoch schon einige der zahlreichen Soester Kirchen von innen gesehen. Nicht aber die Petrikirche. So rüttelte er naheliegender Weise zuerst an der großen Bronze-Pforte am Petrikirchhof, bevor er den Hinweis las, dass der Eingang auf der Schmalseite hinter dem Turm lag. Stöhnend vor Ärger und Anstrengung gleichermaßen öffnete er also die richtige, massive Holz-Pforte und stürzte fast zu Boden: Nicht aus Gottesfürchtigkeit, sondern weil er die fünf steinernen Stufen hinab nicht bemerkt hatte.
„Was zum Teufel…“ fluchte er und erschrak sogleich vom Widerhall seiner Stimme in dem gewaltigen gotischen Kirchenschiff. Nun doch etwas peinlich berührt, schlich er leise in Richtung des seltsam modernen gläsernen Altars. Die Wintersonne schien gleißend durch die blau-grünen Fenstermalereien und tauchte das Innere in ein unwirkliches Licht. Als Schulte an der reich geschmückten barocken Kanzel aus hellem Stein zu seiner rechten vorbeiging, fiel sein Blick auf die entrückten Gesichter der Mariendarstellungen. Er fühlte sich leicht unwohl.
„Guten Morgen!“ erhallte eine angenehme Stimme. „Sie müssen Kommissar Schulte sein.“ sagte der Pfarrer und streckte milde lächelnd seine rechte Hand aus. Schulte drehte sich ruckartig um.
„Herr Pfarrer? Äh…“
„Matthei, Peer Matthei ist mein Name, ich bin Pfarrer der St. Petri-Pauli-Gemeinde und Vorsitzender des Presbyteriums, wir hatten telefoniert, wenn ich nicht irre?“
Schulte war erstaunt, einen leger gekleideten Herrn vorzufinden. Er schätzte ihn auf Anfang sechzig, mit seinen Knitterfältchen um die Augen und dem weißen Haar. Matthei bemerkte seinen verstörten Blick und erklärte:
„Wir haben heute keinen Gottesdienst. Eigentlich wäre ja gestern um dreiundzwanzig Uhr noch unsere Christnacht gewesen. Aber nachdem Herta…“
Tränen stiegen ihm in die Augen.
„So ein tragisches Ende.“ flüsterte er kopfschüttelnd. „Ein Schock für die gesamte Gemeinde. Haben Sie die Blumenkränze und Grablichter am Südportal gesehen? Ich hatte noch überlegt, meine Christnacht-Predigt zu ändern, gewissermaßen an die Situation anzupassen, aber die zwölf Mitglieder des Presbyterium hatten in einer sofort einberufenen Sondersitzung beschlossen, die Christnacht abzusagen. Einen solchen Vorfall hatten wir noch nie in unserer tausendjährigen Geschichte. Abgesehen von 1945, als zwischen St. Patrokli und St. Petri die Luftmine niederging. Und 1702, da zerstörte ja ein Blitzschlag den Turm und mit ihm die Glocken. Wissen Sie, wir haben eine äußerst reiche Geschichte, 1152 hat sogar Kaiser Barbarossa unsere Kirche besucht.“
Schulte schwirrte der Kopf.
„Entschuldigen Sie, ich gerate ins Plappern, wissen Sie, das macht mich doch alles sehr nervös.“
„Ach ja?“ fragte Schulte und überlegte, ob die Nervosität noch eine andere Ursache hatte.
„Kommen Sie, wir setzen uns, Sie haben sicher einige Fragen an mich.“ sagte Matthei und leitete ihn zurück in Richtung Eingang. Am Säulengang bog er nach links ab und wies auf eine einladende, aber extrem exponierte Sitzgelegenheit: Die gepolsterte Sitzbank hatte einen hohen Baldachin aus dunklem Holz und stand leicht angewinkelt in den Raum hinein, auf den Altar blickend. Davor leuchtete ein vielarmiger Kerzenständer in Form eines Dornbuschs.
„Danke.“ sagte Schulte und setzte sich, ohne sich anzulehnen. „Es tut mir leid, ich habe gehört, Sie und das Opfer standen sich nah?“
„Ja, Herta war jahrzehntelang ein sehr aktives Gemeinde-Mitglied. Sie hat ja neben der Chorleitung auch an unserer Konzertreihe mitgewirkt und in unseren Kinderkreisen die musikalische Früherziehung angeleitet. Auch bei unserem internationalen Frauentreff war sie fast jeden Mittwoch dabei. Eine sehr engagierte Frau. Unersetzlich ehrlich gesagt. Sie wird eine große Lücke hinterlassen.“ berichtete der Pfarrer.
„Interessant. Und privat? Da haben Sie sich doch sicher auch gut verstanden?“
„Wie meinen Sie das? Es fällt mir etwas schwer, die Gemeindearbeit von meinem Leben als solchem zu trennen, das ist sicher bei anderen Berufen etwas anderes, aber ich lebe ja meine Berufung, Sie verstehen? Und viele Aktivitäten laufen bis in die Abendstunden. Herta ist jedoch schon mehrfach auf unsere diakonischen Exkursionen mitgefahren. Wir sammeln Spenden für verschiedene Entwicklungshilfe-Projekte in Afrika. Einmal im Jahr besuche ich die Projektpartner vor Ort, um die Spenden zu übergeben. Herta war eine weitsichtige und großherzige Person, der das Elend in der dritten Welt sehr zugesetzt hat. Sie wollte tun, was sie konnte, um die Welt gerechter zu machen.“ erläuterte Matthei.
„Und da sind Sie sich dann auch persönlich näher gekommen?“ fragte Schulte.
„Ja, sicher. Wenn man die Dankbarkeit und Freude der Ärmsten der Armen erlebt, das berührt einen tiefer als alles andere. Bei allem Leid spüren sie doch solche Lebenslust und ja, auch Großzügigkeit, in ihren Möglichkeiten. Solche Erlebnisse der Menschlichkeit, über alle sprachlichen und kulturellen Grenzen hinweg, schaffen ein starkes Band zwischen den Beteiligten.“
„Äh, ja, und war da auch Liebe im Spiel?“ presste Schulte verunsichert von der kryptischen Ausdrucksweise des Pfarrers hervor.
„Eine große Liebe, so kann man es sagen. Wer Gott im Herzen trägt, so wie Herta, der verteilt die Liebe großzügig an die Bedürftigen.“
„Verstehe.“ entgegnete Schulte. Langsam wurde es peinlich, er war wohl auf dem Holzweg, was amouröse Aktivitäten unter den beiden Alten anging. Sowieso eine absurde Vorstellung. „Erzählen Sie mir doch bitte genau, was gestern geschah. Waren Sie mit auf dem Turm, als Frau Schneider hinabstürzte?“
„Nein, der Chor geht üblicherweise bereits während der Christvesper nach oben, so dass das Gloriasingen direkt im Anschluss an unseren Gottesdienst beginnen kann. Ich stand daher noch auf der Kanzel.“
„Aber Sie haben Frau Schneider vor dem Unglück noch gesprochen?“
„Sicher, Sie kam schon vor der Christvesper mit dem Chor, wir haben uns wie immer herzlich begrüßt.“
„Und ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen an ihrem Verhalten? Wirkte sie nervös oder belastet?“
„Nein, sie freute sich natürlich wie jedes Jahr sehr auf diesen Höhepunkt des Festes. Aber jetzt wo Sie es sagen, sie war etwas blass und hatte wohl auch Kopfweh, jedenfalls konnte ich sehen, dass sie sich die Schläfen massierte, als sie hinten mit den Kindern wartete. Ich habe gedacht, sie wird sich wohl erkältet haben, die Gute. Das ist ja nicht ungewöhnlich im Dezember.“
Die Tür fiel quietschend ins Schloss. Vier Herren traten ein.
„Oh, da kommen ja unsere Bläser.“ sagte der Pfarrer. Christian Stussek, Herbert Achendorf, Meinolf Deelke und Stefan Biese traten wortlos näher und umarmten nacheinander den Pfarrer. Alle wirkten erschüttert und übernächtigt.
„Kommissar Schulte, Kreispolizeibehörde Soest“ stellte sich Schulte vor, sprang auf und schüttelte ihnen die Hände. „Es freut mich, dass Sie alle zusammen kommen konnten. Das dient der Rekonstruktion der gestrigen Geschehnisse ganz enorm. Ich möchte gerne, dass Sie mir ganz genau zeigen, wie das Gloriasingen abgelaufen ist. Sie haben sich alle zur Christvesper schon getroffen?“
„Ja.“ antwortete Meinolf Deelke, während alle nickten. „Wir warteten während des Gottesdienstes in den hinteren Reihen, zusammen mit den Kindern, und gingen kurz vor Ende der Vesper hoch auf den Turm.“
„Dann zeigen Sie mir doch bitte ganz genau, wer wo gestanden hat.“ forderte Schulte sie auf.
Die Gruppe setzte sich in Bewegung, der Pfarrer schloss die Tür zur Turmtreppe auf und gemeinsam stiegen sie die ausgetretene steinerne Wendeltreppe hinauf. An der Empore mit der Orgel hielt Meik Schulte kurz inne.
„In welcher Reihenfolge sind Sie denn hochgelaufen? Wer stand direkt beim Opfer?“
„Frau Schneider ist immer vorneweg gelaufen mit den Kindern. Der Chor stellt sich unten schon genauso auf, wie gesungen wird: Sopran eins, Sopran zwei und als letztes der Alt. Wir Bläser sind die Nachhut.“ erklärte Deelke.
„Das heißt, keiner von Ihnen lief unmittelbar hinter Frau Schneider?“ ärgerte sich Schulte.
„Genau.“ erwiderte Deelke schulterzuckend.
Sie stiegen die nächste Wendeltreppe hinauf, gefolgt von einer noch engeren, steilen Holztreppe, vorbei an den Glocken. Schulte hoffte, dass sie nicht anfingen zu läuten. Das Gehölz knarrte bei jedem Schritt und wirkte wenig vertrauenerweckend. Alles war sehr beengt und eindeutig nicht dafür gedacht, von derart vielen Leuten begangen zu werden. Oben öffnete Matthei die kleine Holztür und sie traten hinaus in die Kälte auf die Balustrade. Der Wind pfiff eisig. Schulte war außer Puste.
„Wie kann denn eine Dreiundsiebzigjährige hier hochsteigen, ohne auf dem letzten Loch zu pfeifen?“ echauffierte er sich. Die Bläser lächelten verlegen. Peer Matthei blinzelte Schulte verschmitzt zu und brabbelte etwas von Nordic Walking.
„Wo genau hat denn nun Frau Schneider gestanden, als es losging?“ Deelke wies auf die dem Platz seitlich abgewandte Ost-Seite.
„Und dann gehen wir im Uhrzeigersinn nach jeder Strophe zur nächsten Seite, also nach Süden, dann Westen und schlussendlich Norden“.
Gemeinsam schritten Sie Seite um Seite ab. Der größte Teil der Fläche wurde vom quaderförmigen Turmspitzensockel eingenommen. An den Ecken erhoben sich die Seitenwände gefährlich, so dass man die Füße anheben musste, um nicht hängenzubleiben. Der Boden war uneben und provisorisch mit winzigen Holzlatten ausgelegt. Es war unglaublich eng, um die Turmspitze herum konnte man kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Schulte war froh, dass er keine Ledersohlen anhatte. Mühsam unterdrückte er seine Höhenangst. Auf einmal peitschte der Wind ihm regelrecht um die Ohren und er klammerte sich an die Balustrade. Er musste erstmal tief durchatmen, bevor er weitergehen konnte.
„Und an dieser Stelle ist sie dann gestürzt.“ Deelke zeigte auf die Ecke. „Sie muss genau in dem Moment gefallen sein, als alle in Bewegung waren, sonst hätten wir sie ja im Blick gehabt.“
Die Balustrade war zwar recht hoch, aber die Abstände zwischen den steinernen Streben waren deutlich breiter als erwartet. Eine zierliche Frau, die ausrutscht und in der Dunkelheit das Gleichgewicht verliert, könnte vermutlich tatsächlich hindurchpassen. Oder sich absichtlich hindurchquetschen.
„Wahrscheinlich wollte sie vermeiden, aufgehalten zu werden.“ sagte Schulte.
„Meinen Sie etwa, sie ist absichtlich gesprungen? Das ist doch absurd.“ entgegnete Matthei. „Es war glatt und vielleicht war die Erkältung doch zu viel, sie muss einen Schwächeanfall gehabt haben.“
„Nun, sie hat einen eindeutigen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie hatten keine Ahnung von Ihren Depressionen und Selbsttötungsabsichten?“ fragte Schulte.
Matthei schlug die Hände vors Gesicht. Die Bläser schauten betreten zu Boden.
„Im Übrigen finde ich es unverantwortlich, diesen Turm öffentlich begehen zu lassen, zumal von Kindern. Sehen Sie doch, die Abstände in der Balustrade sind viel zu groß, sie muss hindurchgestiegen sein.“ Schulte zeigte auf die große Lücke in der Ecke.
„Moment mal!“ sagte Peer Matthei. „Wo ist denn der Sicherungsdraht? Hier verläuft eigentlich auf halber Höhe ein stabiler Metalldraht, der die Lücke absichert.“
„Interessant!“ sagte Schulte. „Wer hat denn Zugang zum Turm? Wann haben Sie denn den Draht das letzte Mal kontrolliert?“
„Das ist so eine Sache. Der Schlüssel hängt bei mir im Büro an der Wand. Das wissen alle, die in der Kirche zu tun haben. Wir benutzen den Turm aber nur zweimal im Jahr. Beim Gloriasingen und beim Tag der offenen Tür im Sommer. Da war der Draht bestimmt noch da. Aber meine Hand ins Feuer kann ich dafür nicht legen.“
„Sie meinen also, fast jeder kann hier hochkommen und den Draht entfernt haben?“
„Nun ja, mein Büro ist nicht verschlossen.“
Die Spurensicherung würde unmöglich Fingerabdrücke auf dem Grünsandstein nehmen können. Dazu war er viel zu porös. Und auch an den Holztüren hatten all die Kinderhände ihre Spuren hinterlassen.
„Es kann aber auch sein, dass der Draht schon länger fehlte?“ fragte Schulte nochmal.
„Im Prinzip schon.“ antwortete der Pfarrer nachdenklich.
„Meine Herren, wann waren Sie das letzte Mal vor der Tat hier oben?“ fragte Schulte nun, an die Bläser gewandt.
„Vor genau einem Jahr, beim letzten Gloriasingen.“ antwortete Deelke. Stussek, Achendorf und Biese nickten nur.
Befangen stiegen sie hinab.
Im Kirchenschiff angekommen, nahm Schulte von alle Bläsern auf, seit wann sie Herta kannten, wie oft sie bereits beim Gloriasingen mitgemacht hätten und ob sie einen Hinweis zum Verbleib des Drahtes hätten. Es ergaben sich aber keine erhellenden Erkenntnisse. Keiner konnte sich erinnern, den Draht in der Tatnacht oder überhaupt jemals zuvor bemerkt zu haben.
Beim Hinausgehen bemerkte Schulte die reich verzierten Grabplatten am Fußboden des Kircheneingangs.
„Wie alt sind denn diese Gräber?“
„Dieses hier ist von 1707. Aber hier sehen Sie nur einen kleinen Ausschnitt. Rund um die Kirche waren jahrhundertelang Friedhöfe angelegt. Unter dem Petrikirchhof liegen die Toten noch immer in mehreren Schichten. Das ist den wenigsten bewusst.“
Mit einem leichten Schaudern ging Schulte über unzählige Gebeine hinweg zu seinem Auto.