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„Der frühe Vogel kann mich mal.“

Nick saß verkatert im Kaffeehaus 1825 seitlich des Marktplatzes. Gestern nach den dramatischen Ereignissen am Petrikirchhof hatte er noch längere Zeit die Arbeit der Polizei beobachtet. Mit Kommissar Schulte hatte er schon das ein oder andere Mal zu tun gehabt. Eine attraktive Frau brach über der Toten weinend zusammen und wurde dann von einem älteren Mann fortgebracht. Als die Tote abtransportiert war, ging er in Jason´s Pub. Der Sturz vom Kirchturm war das beherrschende Gesprächsthema unter den mehrheitlich ehemaligen britischen Soldaten, die nach dem Abzug der Streitkräfte 1993 hier hängengeblieben waren. Viele der über fünftausend hier stationierten Briten hatten Soester Mädels geheiratet und am Ende der Dienstzeit keine Ambitionen, ihre neue Familie in die alte Heimat mitzunehmen, sondern fühlten sich hier so wohl, dass sie ein fester Bestandteil der Stadtkultur wurden. Nick ging es ganz ähnlich: Zwar war es ihm nie gelungen, längere Zeit in einer festen Beziehung zu bleiben, aber nach den zehn Pflichtjahren sah er keinen Sinn mehr darin, zurückzukehren. Stattdessen entschloss er sich, seine gute physische Konstitution, seinen analytischen Verstand – den er zweifellos von seinem Vater geerbt hatte – und sein Talent, immer da aufzutauchen, wo sich ein Konflikt anbahnte, für eine Karriere als Privatdetektiv zu nutzen. Sicher konnte er auch exzellent mit der Schusswaffe umgehen, aber das war Detektiven im Normalfall gesetzlich untersagt und auch nicht notwendig, ging es doch in den meisten Fällen um die Überführung von untreuen Ehe- oder Geschäftspartnern. Viel hatte er nicht zu tun, aber die Lebenshaltungskosten in Soest hielten sich in Grenzen. Nachdem er seinen Sold klug in ein kleines Fachwerkhaus investiert hatte, musste er nicht mal Miete zahlen. Dafür nahm er gern in Kauf, sich mit seinen stattlichen 1,87 m ständig an den niedrigen Decken den Kopf zu stoßen.

Jedenfalls war es spät geworden und er hatte definitiv mindestens einen Whisky zu viel getrunken. Gut, dass dieses neue Café sogar an den Weihnachtsfeiertagen geöffnet hatte und es noch nach zwölf Uhr Frühstück gab. Die Auswahl beschränkte sich zwar auf genau ein einziges Frühstück, aber bei nur einer Handvoll Cafés in der Altstadt durfte man nicht wählerisch sein. Er würde heute statt Darjeeling-Tee einen doppelten Espresso trinken und sich nach dem Frühstück auf den Weg nach London zu seinen Eltern machen. Gemütlich war es hier: Das schmale zweistöckige Haus aus dem Jahr 1825 hatte große Fenster, an denen man in plüschigen Ohrensesseln sitzen konnte, um die Passanten zu beobachten. Eine seiner Lieblingstätigkeiten, schon berufsbedingt. Das lässige Vintage-Design mit grauem Stein und antikweiß gebeiztem Holz erinnerte ihn fast ein bisschen an ein englisches Cottage.

Früher hatte er jeden Sommer mit seinen Eltern in Cornwall verbracht. Seine Mutter liebte es, bei jedem Wetter von Cottage zu Cottage zu wandern, auch sein Vater hatte ein Faible dafür und eine regelrechte Expertise für die allgegenwärtigen herrlichen Rosenstöcke entwickelt. Sicher hätte ihm deshalb auch Soest gefallen, wo vor fast jedem Fachwerkhaus Rosen wuchsen. Aber seine Eltern hatten sich nie aufraffen können, ihn zu besuchen. Nun, er hatte sie auch nie explizit eingeladen.

Neben ihn setzten sich zwei Frauen. Die eine, schlank und mit langem braunem Haar, sah sehr übermüdet aus. Nick wühlte in seinem noch leicht vernebelten Gedächtnis, ob er sie vielleicht gestern in Jason´s Pub gesehen hatte.

„Ach Eva, ich freue mich ja, dass wir uns trotz allem wie verabredet heute treffen, wo wir uns so lange nicht gesehen haben, aber ich hätte volles Verständnis, wenn Du Dich lieber bei deinen Eltern…“

„Nein, auf keinen Fall,“ fiel Eva ihrer Freundin ins Wort, „Heike, ich bin echt froh, Dich zu sehen, irgendwie muss ich meine Gedanken sortieren und Du weißt ja, das geht am besten, wenn man drüber spricht. Ich kann das alles immer noch nicht begreifen. Weißt Du, gestern Abend war dieser Kommissar bei uns und hat nur ganz kurz mit meinem Vater geredet, schon war er wieder weg. So ein Beamtentyp, auf mich wirkte der geradezu arbeitsscheu. Der denkt, Tante Herta hat sich absichtlich vom Turm gestürzt. “

Eine so treffende Beschreibung von Kommissar Schulte hatte Nick lange nicht gehört. Die Frau war ihm sympathisch. Jetzt war ihm auch klar, wo er sie gesehen hatte.

„Was, wie kommt der denn darauf?“ fragte Heike.

„Mein Vater sagte, sie wäre depressiv gewesen. Aber ich finde das übertrieben. Sicher, sie hat sich oft beklagt, aber hauptsächlich über meinen Vater. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das gleich eine Depression gewesen sein soll. Sie war ja nicht antriebslos oder so, außerdem hätte sie sich doch niemals vor ihren Chorkindern das Leben genommen. Die armen Kinder, das werden die doch niemals vergessen. Und wie sie da am Boden lag…“

Eva kamen die Tränen. Der Kellner, peinlich berührt als er sah, dass er im falschen Augenblick zum Tisch kam, wollte schon beidrehen, da rief ihm Heike hinterher: „Zwei Cappuccino und zwei stille Wasser, bitte“. Als echte Freundinnen wussten die beiden, was die präferierten Getränke zu jeder Tages- und Nachtzeit waren.

„Denkst Du etwa, sie ist gestoßen worden? Das wäre ja Mord! Mein Gott. Dann kann es nur ein Kind oder einer der Bläser gewesen sein und das hätte wohl jemand vom Chor mitbekommen, meinst Du nicht?“

„Das schlimmste ist, dass dieser Kommissar den Chor und die Bläser überhaupt noch nicht befragt hat. Außerdem haben die wohl alle Urlaub. Das kann doch nicht sein, dass das jetzt wie auf ´nem Amt seinen sozialistischen Gang geht.“ erklärte Eva verzweifelt.

In dem Moment neigte sich der leicht zerknitterte Typ mit dem Drei-Tage-Bart vom Nachbartisch zu ihnen, zog eine Augenbraue hoch und sagte mit sonorer Stimme:

“Entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber ich glaube, ich könnte Ihnen behilflich sein.“

Mit diesen Worten reichte er Eva seine Visitenkarte.

Mord beim Gloriasingen

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