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„Gloria in excelsis Deo"

Bereits seit über 300 Jahren versammelten sich die Soester an Heiligabend vor der „Alden Kerke“, der ältesten Kirche Westfalens aus dem 8. Jahrhundert, offiziell St. Petri, um dem Gloriasingen beizuwohnen. Nun war es wieder so weit: Schon kurz vor 19 Uhr! Obwohl weit mehr als tausend Menschen am Petrikirchhof eingetroffen waren, hörte man nur ein Wispern. Weitere Hundertschaften schlichen schweigsam durch die stockfinsteren Gassen auf die mächtige Kirche aus dem - nur in Soest zu findenden – typischen Grünsandstein zu. Die vollkommene Verdunkelung des Platzes war Tradition und sollte die absolute Konzentration auf den Chorgesang unterstützen. In der Eiseskälte leuchtete nun neben dem Sternenhimmel nur die Kirchturmspitze: Auf der barocken Balustrade unterhalb des Zwiebelturms hatten sich vier Bläser und zahlreiche Chorkinder versammelt, jedes zweite hielt eine Laterne. Die Spannung stieg, als endlich der erste Schlag der Kirchenglocke ertönte. Nach sieben Schlägen erklangen die Posaunen. Dann endlich sang der Kinderchor "Gloria in excelsis Deo“ in Anlehnung an das Weihnachtsevangelium von Lukas und danach "Dies ist der Tag, den Gott gemacht" von Christian Fürchtegott Gellert. Nach jeder Strophe kehrte wiederum Stille ein, da Bläser und Sänger jeweils auf die andere Seite des Turms rückten, damit der weihnachtliche Lobpreis in alle vier Himmelsrichtungen gesungen würde.

Nick stand am Rande der Menschenmenge. Weit und breit kein bekanntes Gesicht. Er hatte vergeblich gehofft, Clarissa zu treffen, es war sogar derart dunkel, dass er selbst seine eigene Mutter nicht erkannt hätte. Was tat er hier überhaupt? Eigentlich mochte er keine Chormusik. Der kleine Junge neben ihm schien sich auch zu langweilen, löste sich von der Hand seiner Mutter und machte Anstalten, wegzulaufen. Dabei rempelte er Nick an, worauf er von seiner Mutter streng ermahnt und eingefangen wurde. Eine Gruppe chinesischer Touristen hielt ihre Selfie-Sticks in die Höhe.

Nun begann endlich die zweite Strophe. Alle starrten wieder andächtig empor. Der sonst so harmonische Gesang klang plötzlich holprig und die getragenen Kerzen auf dem Turm wackelten unruhig im Geschiebe auf der engen Turmbrüstung. Nick versuchte genauer hinzuschauen, aber die Turmspitze war zu weit entfernt und zu dunkel. Plötzlich erschall ein hektisches Rufen vom Turm. Ein Schatten schob sich durch die Streben der Brüstung, fiel vor dem Turm hinunter, prallte am Vordach ab und stürzte weiter. Wie in Zeitlupe sah die Gemeinde mit angehaltenem Atem, wie die Gestalt mit einem dumpfen Geräusch am Boden aufschlug. Nur wenige Fassungslose erkannten im Dunkel die Umrisse der zartgliedrigen, alten Frau. Ihre verdrehten Gliedmaßen waren zerschmettert. Langsam sickerte ihr dunkelrotes Blut auf das Kopfsteinpflaster. Einer der Zuschauer in vorderster Reihe, ein Lehrer vom Archigymnasium, neigte sich über den auf dem Bauch liegenden Leichnam, machte die Lampe seines Handys an und rief: „Das ist doch Herta Schneider, oh mein Gott! Die Chorleiterin!“

Das hysterische Schreien und Weinen der Chorkinder und Zuschauer übertönte den Klang der zerberstenden Posaune, die einem der Bläser aus der Hand gefallen war.

Dann setzte das ohrenbetäubende Glockengeläut des Doms ein, gefolgt von allen anderen Soester Kirchen.

Nick schob sich durch die Menschenmenge, hin zum Ort des Geschehens. Solange die Polizei nicht alles absperrte, würde er wachsam sein. Wer wusste schon, wozu es nützlich sein konnte. Immerhin war er als Privatdetektiv sicher ein besonders aufmerksamer Zeuge. Er prägte sich den ersten Eindruck ein, den das Opfer auf ihn machte. Sie musste sofort tot gewesen sein, bei der Höhe. In der Dunkelheit konnte er aber kaum etwas erkennen, zumal die Dame einen dicken Mantel trug. Dann bezog Nick Position zwischen Opfer und Kircheneingang und beobachtete die Reaktionen der Passanten. Bis der Chor vom Turm herunterkam, würde es noch dauern, zu steil war der Abstieg. Menschen liefen kreuz und quer über den Platz, vor allem Familien mit kleinen Kindern wollten diesen Ort des Schreckens so schnell wie möglich verlassen. Andere jedoch, insbesondere Jugendliche und Touristen, brannten darauf, dieses Spektakel für die Nachwelt festzuhalten und filmten mit ihren Handykameras die Panik und die Tote. Das öffentliche WLAN-Netz brach fast zusammen, als die Anwesenden ihre Facebook-Accounts mit Fotos und Statusmeldungen über ihre persönliche Sicherheit und einen vermeintlichen Terroranschlag aktualisierten. Dann hörte man das Herannahen der Polizeisirenen.

Mord beim Gloriasingen

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