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ОглавлениеGeorges bat Ahmed und Rachid, draußen zu warten. Er selbst ging gleich hinein. Vor langer Zeit hatte Dumas gesagt, seine Tür stehe ihm stets offen.
»Ihr seid es, die alles am Laufen halten«, hatte er später bei verschiedenen Gelegenheiten geäußert und meinte es auf seine pragmatische Art vermutlich ernst.
Allerdings war sich Georges darüber im Klaren, dass Dumas ihn ohne weiteres vor die Tür setzen konnte, sobald er seine Schuldigkeit getan hatte. Doch würde Dumas sich zum jetzigen Zeitpunkt von ihm trennen, hätte er gleich mehrere Millionen wegen der unumgänglichen Bauverzögerung in den Wind schreiben können. Mehrere Millionen, die Georges’ Worten Nachdruck verleihen konnten.
»Hallo, Georges. Na, wie geht’s? Alles in Ordnung?«
»Nein.«
Georges erzählte, was vorgefallen war.
»Wenn Ahmed und Rachid nicht gewesen wären, hätte es eine Katastrophe gegeben.«
»Hätte der Fehler vermieden werden können?«
»Sie meinen, ob ich mir etwas vorzuwerfen habe? Ich hätte natürlich die Elektriker anweisen können, alle Kabel zu kontrollieren, bevor wir angefangen haben. Alain sagte erst kürzlich, dass dieselben Vibrationen, die Risse in den Häusern verursachen, auch Kabelschuhe lockern könnten. Vielleicht hat er Recht. Dann wäre es meine Schuld, weil ich versäumt habe zu überprüfen, ob mit den Kabeln alles in Ordnung ist.«
»Aber?«
»Das Kabel, das sich gelöst hatte, war eines der Hauptkabel, das sowohl vom Netz als auch von unseren eigenen Generatoren gespeist wird. Wie Sie vielleicht wissen, befindet es sich in einem Rohr, das vom Kontrollraum zu einer Verteilertafel läuft, die sich fünf Meter über dem Grundwasser in der Wand von Schacht Nummer elf befindet. Dass sich durch die Vibrationen Kabel lösen können, die sich weiter unten befinden, kann ich nachvollziehen. Aber nicht so weit oben und schon gar nicht im Elfer, der plombiert ist und seit Monaten nicht mehr benutzt wurde. Da müsste es sich schon um eine Verkettung unglücklicher Umstände handeln.«
»Es sei denn ...«
»Es sei denn, jemand hat nachgeholfen.«
Zunächst blieb Dumas stumm.
»Wer?«
»Alain.«
»Gibt es Beweise?«
Dumas schien verärgert.
»Nein.«
Georges berichtete, was am Morgen vorgefallen war. Er verheimlichte auch nicht, dass er Alain mit Kündigung gedroht hatte.
»Alain war sehr erregt. Dass sein Sohn im Krankenhaus liegt, machte ihn nur noch wütender.«
»Beweise, Georges! Wir brauchen Beweise! Sonst ist alles reine Spekulation.«
»Als ich nach oben kam, saß Alain in der Baracke, hatte sich schon umgezogen und machte einen ziemlich entspannten Eindruck, trotz der Geschichte mit seinem Sohn und dem Stromausfall. Ungefragt äußerte er sogleich, dass sich das Kabel auf Grund der Vibrationen gelöst haben müsse.«
»So ganz abwegig scheint dieser Gedanke ja auch nicht zu sein.«
»Schon möglich. Aber die Sache hat einen Haken. Bislang wissen nur ich selbst, der Mann im Kontrollraum, Rachid und Ahmed, dass der Ausfall auf einen Kabelbruch zurückzuführen ist. Ich habe jemanden von Alains Leuten gefragt, ob sie ihn nach dem Stromausfall gesehen hätten. Die Antwort war nein. Aber einer der Portugiesen hat beobachtet, wie er durch den Victoriaschacht nach oben geklettert ist, und das ist der Schacht, der dem Elfer am nächsten ist.«
»Verstehe, aber woher wollen Sie wissen, dass es nicht doch ein anderer war?«
»Das ist natürlich nicht völlig ausgeschlossen. Die anderen Vorarbeiter, die den Verlauf der Kabel kennen, waren zum Zeitpunkt des Stromausfalls alle an verschiedenen Orten beschäftigt. Ich habe das nachgeprüft.«
»Was schlagen Sie vor? Eine polizeiliche Ermittlung käme höchst ungelegen.«
»Ungelegen?«
»Das Konsortium besteht aus sechs Unternehmen. Fünf von ihnen würden mich gerne durch jemand anderen ersetzen. Meine Kompetenz wird zwar nicht öffentlich angezweifelt – schließlich bin ich es gewesen, auf den sich alle verständigen konnten –, doch wenn mir auch nur ein schwer wiegender Fehler unterläuft, bin ich weg vom Fenster. Und Sie auch. Wir sollten in unserem eigenen Interesse keine schlafenden Hunde wecken.«
»Das kann schon sein. Aber wir können Alain doch nicht einfach so weitermachen lassen, als sei nichts geschehen, und zwar unabhängig davon, ob er es war, der das Kabel gelöst hat. Er vernachlässigt seine Arbeit. Für mich ist die Sache ganz einfach. Wenn Alain Vorarbeiter bleibt, dann gehe ich.«
Dumas lächelte.
»Ist das eine Drohung?«
»Eine Tatsache. Wenn ich von heute auf morgen aufhöre, verliert das Unternehmen auf Grund der Bauverzögerung mehrere Millionen. Ist Alain das wert?«
»Ich werde mit ihm reden. Wen wollen Sie stattdessen?«
»Ahmed.«
»Einen Araber?«
»Er ist tüchtig und zuverlässig, sowohl privat als auch beruflich.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich bin Realist. Einem Araber eine doppelte Loyalität aufzubürden, ist immer ein Risiko, besonders in Zeiten wie diesen.«
»Wir haben zweihundertvierzig Algerier unter Tage, in vier Arbeitsgruppen zu je sechzig Männern. Keine von ihnen wird von einem Landsmann geführt. Im Gegensatz zu den portugiesischen und französischen Arbeitsgruppen. Selbst die Türken haben einen türkischen Vorarbeiter. Ich weiß, dass alle Algerier als Sicherheitsrisiko betrachtet werden. Aber es geht doch ausschließlich darum, dass sie ihre Arbeit ordentlich machen. Unsere Baustelle ist doch nicht Ali Babas Schatzkammer. Im Gegenteil, die Arbeit ist hart, schmutzig und gefährlich. Will man aus den Algeriern das Beste herausholen, muss man ihnen auch einen Landsmann als Vorarbeiter zugestehen. Ein Rassist wie Alain treibt sie nur in die Hände von islamischen Extremisten. Auf Ahmed hingegen kann man sich hundertprozentig verlassen.«
»Was wollen Sie also?«
»Dass Ahmed Vorarbeiter wird. Außerdem will ich, dass er und Rachid für ihren heutigen Einsatz angemessen belohnt werden.«
»Mehr nicht?«
»Doch, dass Sie sich persönlich bei ihnen bedanken. Die beiden warten draußen vor der Tür.«
»Sie sind wirklich ein ungewöhnlicher Mann, Georges. Macht und Karriere scheinen Sie nicht zu interessieren. Sie sind loyal und erledigen pflichtbewusst Ihre Aufgaben. Gleichzeitig leisten Sie sich den Luxus einer Moral.«
»Ich kümmere mich ausschließlich darum, was getan werden muss, damit alles so gut wie möglich funktioniert. Wenn Sie das nicht nachvollziehen können, betrachten Sie es als reinen Egoismus. Je reibungsloser die Arbeit vonstatten geht, desto besser für mich.«
»Also herein mit den Helden! Und sagen Sie Alain, dass ich ihn sofort sprechen will.«
Georges ging hinaus und sagte zu Ahmed und Rachid, dass der Chef mit ihnen sprechen wolle. Nachdem sie hineingegangen waren, wandte er sich an Dominique.
»Es tut mir Leid, dass ich Sie noch gar nicht begrüßt habe«, sagte er. »Ich war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Sie haben wohl mitbekommen, was sich ereignet hat?«
»Sie müssen sich doch nicht entschuldigen. Sie sind im Grunde der Einzige, der mich wie einen Menschen behandelt.«
»Wie sollte ich Sie denn sonst behandeln?«
Georges schaute sie verwundert an. Sie lachte.
»Wie eine Frau, eine Farbige oder potenzielle Geliebte, so wie alle anderen. Sie können es sich aussuchen.«
Georges wusste nicht, was er sagen sollte.
»Farbige wie ich sollten besser keine Chefsekretärinnen sein. Ich habe mir den falschen Beruf ausgesucht. Ich hätte eine Edelprostituierte werden sollen. Dann wären alle zufrieden.«
»Nur ich nicht«, entfuhr es Georges.
»Nicht?«
Georges senkte die Stimme.
»Wenn es Sie nicht gäbe, wären die ständigen Besuche bei Dumas wirklich unerträglich.«
Dominique lächelte und schaute ihn lange an.
»Darf ich das als Kompliment auffassen?«
»Das ist die Wahrheit.«
Georges war verlegen. Was hatte er da gesagt? Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er Dominique nie als Frau betrachtet hatte, vor allem nicht als die attraktive Frau, als die sie sich bei näherem Hinsehen entpuppte. Am Tag seiner Hochzeit mit Marie hatte er aufgehört, andere Frauen als Frauen zu betrachten. Für ihn war es einem Wunder gleichgekommen, dass überhaupt eine Frau dazu bereit war, ihn zu lieben. In erster Linie hatte er sich nach Liebe gesehnt, nicht nach Frauen.
»Brauchen Sie nicht vielleicht eine Sekretärin?«, fragte Dominique.
»Wenn ja, dann kämen nur Sie in Frage.«
Georges hätte sich auf die Zunge beißen können.
»Jetzt habe ich mich sicher so angehört wie alle anderen«, sagte er.
»Das gelingt Ihnen nicht«, antwortete Dominique und legte ihre Hand auf seine.
Georges schüttelte den Kopf. Er wagte nicht, den Mund zu öffnen, aus Angst, was dabei herauskäme. Auf dem Rückweg zu seinem Büro dachte er unentwegt an ihre Worte. Er fühlte sich beschwingt. Und es fiel ihm auf, dass er dieses Gefühl schon früher empfunden hatte, nachdem er mit ihr gesprochen hatte. Beschwingt.
Die Freude schlug in ihr Gegenteil um, als er die Tür zur Baracke öffnete.
»Ich hätte da unten krepieren können«, sagte Alain aggressiv, sobald er Georges zu Gesicht bekam.
»Wir hätten krepieren können. Du warst schließlich nicht allein dort unten, falls du das glauben solltest. Dumas will mit dir reden. Und zwar sofort.«
»Worüber?«
»Das weißt du selbst am besten.«
Ahmed ließ Rachid zuerst eintreten. Wie würde Rachid seinem Chef gegenübertreten? Wie die meisten Ausländer, mit am Boden festgenageltem Blick, um die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken? Doch Rachid verzog keine Miene, als er Dumas’ Büro betrat. Ahmed war sich gewiss: Hier handelte es sich nicht um einen x-beliebigen Immigranten oder Bauarbeiter. Wer war er? Warum lag es in seinem Interesse, die Baustelle vor einer Überschwemmung zu bewahren? Hatte er sich nur seinen Job erhalten wollen? Vielleicht. Für einen Ausländer mit gefälschten Papieren konnte der Verlust des Arbeitsplatzes eine Katastrophe bedeuten.
»Kommen Sie herein«, sagte Dumas. »Ich vermute, Sie verstehen Französisch?«
Weder Ahmed noch Rachid antworteten.
»Georges hat mich gebeten, Ihnen für Ihren heutigen Einsatz zu danken. Er hat mich auch gebeten, Ihnen eine kleine Anerkennung zukommen zu lassen. Ich habe daher beschlossen, jedem von Ihnen zehntausend Francs zu zahlen. Sie brauchen mir nicht zu danken. Das Unternehmen ist Ihnen zu Dank verpflichtet. Ihr Eingreifen hat uns beträchtliche Unkosten erspart.«
Dumas zog ein Scheckheft hervor.
»Wie sind Ihre Nachnamen? Georges hat mir ausschließlich Ihre Vornamen genannt.«
Rachid antwortete als Erster.
»Wäre es nicht besser, das über den Lohnzettel laufen zu lassen?«, schlug er vor.
»Dann müssten Sie es versteuern.«
»Als Ausländer möchte ich mich lieber an die Gesetze halten.«
Gute Antwort, dachte Ahmed.
»Was ist mit Ihnen, Ahmed. Nehmen Sie es mit dem Gesetz auch so genau?«
»Derzeit nicht. Ich werde umziehen und brauche Geld. Sie können den Scheck auf Ahmed Layada ausschreiben.«
Aus dem Augenwinkel heraus ahnte Ahmed Rachids Blick. Rachid kannte also Addelhak Layada alias Abou Adlare. Layadas Spezialität war die Ermordung von Intellektuellen. In Layadas Spatzenhirn wurde man zum Intellektuellen, sobald man in der Lage war, hinter seine Worte oder Gedanken ein Fragezeichen zu setzen. Layada besaß ein simples Credo: Wer den Taghout, den Tyrannen, nicht bekämpfte, war dessen Verbündeter und ein Feind des Islam. So wie viele der blutdürstenden Fanatiker war Layada Analphabet und stolz darauf. Hatte nicht Mohammed die unverfälschte Wahrheit offenbart, gerade weil er Analphabet gewesen war? In Wirklichkeit war Layada zum Denken nicht in der Lage. Und er war nicht allein.
Jetzt fragte sich Rachid bestimmt, ob Ahmed mit Layada verwandt war. Das sollte er ruhig tun. Zweifel zu säen, auch wenn kein unmittelbarer Anlass dazu bestand, war bislang Ahmeds Überlebensstrategie gewesen.
Dumas gab ihm den Scheck.
»Was, glauben Sie, könnte den Zwischenfall verursacht haben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Ahmed. »Es war Rachid, der die Ursache entdeckte und mir Anweisungen gab, was zu tun war.«
»Es war kein Zufall«, sagte Rachid.
»Woher wissen Sie das?«
»Jemand hatte den Kabelschuh gelöst. Die Muttern waren mit Loctite verschlossen.«
»Loctite?«
»Ein Epoxidkleber, mit dem man die Schrauben fixiert.«
»Haben Sie einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?«
Rachid antwortete nicht.
»Ich verstehe. Sie wollen nicht als Denunziant dastehen. Sie beide sind loyale Angestellte des Unternehmens. Auf Georges’ Vorschlag hin übernehmen Sie, Ahmed, den Posten des Vorarbeiters von Alain, der eine andere Aufgabe bekommen wird. Ich möchte, dass Sie die Augen offen halten und mir alle ungewöhnlichen Vorgänge sofort melden. Weitere Verzögerungen können wir uns nicht leisten. Was glauben Sie, was ein halber Tag Stillstand kostet? Über eine Million Francs. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass Sie vor allem Alain im Auge behalten sollen.«
»Was für eine Arbeit soll er übernehmen?«, fragte Ahmed. »Als Vorarbeiter sollte ich seinen Aufgabenbereich kennen. Er wird über meine Beförderung nicht gerade begeistert sein.«
»Alain wird als normaler Arbeiter weitermachen und bleibt in Ihrer Truppe. Wenn er gezwungen ist, mit sechzig Algeriern zusammenzuarbeiten, wird ihn das schon zur Raison bringen. Außerdem ist es gut, ihn unter Aufsicht zu haben, bis wir Näheres herausgefunden haben. Ich denke, die Sicherheitsabteilung wird eine rasche Untersuchung durchführen. Man wird sich an Sie wenden.«
Dumas stand auf.
»Und noch etwas. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass die Hauszeitung von Ihrem Eingreifen berichtet, sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind. Ihre Mitarbeiter sollen ruhig zur Kenntnis nehmen, dass man loyal zu seinem Unternehmen stehen kann, unabhängig von Rasse oder Religionszugehörigkeit.«
Dumas war kein Dummkopf. Gab es eine bessere Gelegenheit, sie auf die Probe zu stellen und ihre Zuverlässigkeit zu testen? Wie würde Rachid reagieren?
»Lieber nicht«, sagte er rasch.
»Warum nicht?«
Rachid schwieg.
»Und Sie, Ahmed? Wollen auch Sie Ihre Ruhmestat lieber für sich behalten?«
»Rachid muss für sich selbst sprechen, aber ich will der Geschäftsleitung nicht als Alibi dienen. Das hat nichts damit zu tun, dass ich Ausländer oder Algerier bin. Unter Tage bin ich Betonarbeiter. Wenn Sie Ihren Angestellten beweisen wollen, dass Sie keine Vorurteile besitzen und alle gleich behandeln, begrüße ich die Initiative. Aber lassen Sie meinen Namen besser aus dem Spiel.«
»Abgemacht. Doch Sie müssen damit rechnen, dass sich das Gerücht von allein verbreitet.«
»Wenn es um Ausländer geht, zählen doch immer nur Gerüchte. Wer interessiert sich heutzutage schon für die Wahrheit? Die verkauft sich doch nicht.«
Dumas warf ihm einen kurzen Blick zu. Ahmed fragte sich, ob er nicht zu weit gegangen war. Er hatte sich die Bemerkung einfach nicht verkneifen können. Erst als er das Büro wieder verließ, dachte er daran, dass der Skinhead aus genau demselben Grund den Stein nach Fatima geworfen hatte. Er hatte sich einfach nicht mehr beherrschen können.
Auf dem Weg zu Georges’ Büro überlegte Ahmed, ob er Rachid vertrauen konnte. Eines stand fest: Wäre Rachid ein religiöser Fanatiker, hätte er unter keinen Umständen sein Leben aufs Spiel gesetzt, um das Bauprojekt zu retten. Zwar existierten die absonderlichsten Wege, um zum Märtyrer zu werden und ins Paradies zu gelangen, doch Gott fern stehende kapitalistische Konzerne vor Millionenverlusten zu bewahren, dürfte kaum dazugehören. Rachid konnte eine Möglichkeit sein, wenn Ahmed seine Sicherheitsvorkehrungen traf.
»Was ist herausgekommen?«, fragte Georges.
»Ab morgen bin ich Vorarbeiter.«
»Gut. Und eure Belohnung?«
»Zehntausend für jeden von uns.«
»Ziemlich mickrig. Die Sanierung nach einer Überschwemmung hätte mehrere Millionen gekostet. Was ist mit Alain?«
»Alain bleibt als normaler Arbeiter in meiner Gruppe. Wenn er dazu bereit ist.«
»Ist das die Strafe? Ihn mit den Arabern zusammenarbeiten zu lassen?«
»Dumas bat uns, Alain im Auge zu behalten«, schaltete Rachid sich ein. »Ich glaube, Dumas will einen Beweis haben, bevor er ihn rausschmeißt.«
»Was meinst du dazu?«, fragte Georges mit Blick auf Ahmed. »Jemand in Dumas’ Position braucht einem Angestellten doch wohl keine Straftat nachzuweisen, um ihn loszuwerden.«
»Nein, es sei denn, er hat seine besonderen Gründe. Alain hat am Algerienkrieg teilgenommen und ist Mitglied der Front National. Sein Sohn vermutlich auch. Schwachsinn vererbt sich nun mal. Woher wusstest du eigentlich, dass Alains Sohn Angehöriger der Sicherheitskräfte der Front National ist?«
Georges schaute Rachid an.
»Alain hat vor seinen Kumpeln mit seinem Sohn angegeben. Ich war zufällig dabei.«
Ahmed fragte sich, ob Rachid die Wahrheit sagte. Vielleicht. Vielleicht nicht.
»Wir müssen es wohl noch ein bisschen mit Alain aushalten«, sagte Georges. »Aber leicht wird das nicht.«
Niemals war Rachid dem Ziel so nahe gewesen. Alles war gut gegangen. Nicht auszudenken, wenn Alain erfolgreich gewesen wäre! Fünf Monate intensiver Vorbereitung wären nutzlos gewesen. Allah hatte Rachid auf den rechten Weg geleitet. Er hatte keine Sekunde daran gezweifelt, wo der Schaden lag. Es war eine Offenbarung gewesen. Er hatte genau gewusst, was er tun musste. Er war ein Auserwählter Allahs. Rachid hatte nicht nur das Bauprojekt gerettet, sondern sich zudem Vertrauen erworben. Wer sollte ihn jetzt noch verdächtigen, der zu sein, der er in Wirklichkeit war? Nie zuvor hatte er sich so stark gefühlt. Nicht einmal Ahmed konnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen.
Rachid wunderte sich auch nicht, als Ahmed vorschlug, eine Tasse Kaffee zusammen zu trinken. Sie gingen in das nächste Bistro. Rachid sorgte dafür, dass er mit dem Rücken zur Wand in der Ecke saß und den Eingang im Auge behielt. Die Lektionen seiner Lehrmeister vergaß er nie. Sie hatten ihm stets eingeschärft, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten.
»Ich muss mich wohl bei dir für meinen neuen Job bedanken«, sagte Ahmed, nachdem ihnen zwei Espressi serviert worden waren. »Wie bist du nur so schnell auf die Ursache gekommen?«
Ahmeds Stimme klang ganz natürlich, als sei er bloß neugierig.
»Das war doch keine Kunst. Wir hatten keinen Strom, also konnte etwas mit den Kabeln nicht stimmen. Es ist doch kaum möglich, dass die Stromversorgung zusammenbricht und gleichzeitig auch noch beide Generatoren ausfallen. Ich habe nur etwas schneller geschaltet als du.«
»Du schienst genau zu wissen, wo du suchen musstest.«
»Ich hätte es nicht gewusst, wenn ich nicht selbst den Elfer ausgeschachtet hätte. Ich habe die dicken Kabel doch mit eigenen Augen gesehen. Die Vermutung lag nahe, dass es sich um die Hauptkabel handelte.«
»Ja, wenn man etwas von Elektrizität versteht. Aber welcher gewöhnliche Arbeiter tut das schon?«
Man durfte sich nie sicher fühlen. Feinde lauerten überall. War Ahmed ein Feind?
»Wir brauchen uns doch nichts vorzumachen«, fuhr Ahmed fort. »Du hast deine Gründe, unter der Erde zu arbeiten. Mir ist das egal. Über meine Gründe brauchst du dir auch keine Gedanken zu machen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Jeder geht seinen eigenen Weg, um ins Paradies zu gelangen. Du gehst deinen, ich gehe meinen. Pfarrer und Imame in allen Ehren, aber ich kann mir für das Jenseits schon eine amüsantere Gesellschaft vorstellen.«
»Du sprichst wie ein Ungläubiger!«
»Tue ich das? Das war nicht meine Absicht. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Schließlich bin ich es, der in der Hölle braten wird, und nicht du.«
Rachid wusste, dass er sich auf keine Diskussion über religiöse Fragen einlassen durfte. Die würde unweigerlich sein Wesen offenbaren. So ihr die Zeichen Allahs hört, wird man sie nicht glauben, sondern verspotten. Sitzet drum nicht mit ihnen, ehe sie nicht zu einem andern Gespräch übergehen. Siehe, ihr würdet dann ihnen gleich werden. Manche Mudschaheddin hatten Geschmack am Unglauben und an dem gefunden, was die westliche Welt als Freiheit bezeichnete. Aber ihre Freiheit bestand ausschließlich darin, ein sündiges und gottloses Leben zu führen. Ahmed hatte gesagt, er brauche sich keine Sorgen zu machen, weil Ahmed die Strafe empfangen würde. So redeten sie alle. Ihre Freiheit war Einsamkeit, nichts anderes. Sie verstanden nicht, dass Rachid sie strafen würde, weil Allah ihn dazu auserwählt hatte. Er war nur Allahs Werkzeug: Nicht erschlugt ihr sie, sondern Allah erschlug sie. Verstand Ahmed das nicht? Dass Allah größer war als jeder von ihnen. Es spielte überhaupt keine Rolle, was er, Rachid, dachte.
»Meine größte Sorge gilt nicht Allah oder dem Paradies«, sagte Ahmed. »Ich brauche eine neue Wohnung.«
»Willst du dafür die zehntausend Francs verwenden?«
»Ja, aber mit meinem arabischen Namen ist das kein Kinderspiel. In diesem Land nutzt es nichts, auf Allahs Hilfe zu vertrauen. Der hat hier wenig Einfluss.«
»Noch nicht. Aber der Tag wird kommen.«
»So lange kann ich nicht warten.«
»Was meinst du damit?«
»Ich könnte Hilfe brauchen.«
Rachid hätte seine Hände zum Himmel erheben können, um Allah zu danken. Das war die Möglichkeit, auf die er gewartet hatte.
»Wie sollte ich dir helfen können?«, fragte Rachid vorsichtig. »Ich bin genauso auf mich allein gestellt wie du.«
»Bist du absolut sicher? Hast du keine Freunde oder Bekannten mit Beziehungen?«
»Ich kenne ein paar Algerier, aber ob die eine Wohnung organisieren können, weiß ich nicht.«
»Wenn du mir hilfst, eine neue Wohnung zu finden, dann schwöre ich bei meiner Mutter, dass du ein normaler algerischer Bauarbeiter bist. Schon möglich, dass Gautrot, der Sicherheitschef, einige Fragen stellen wird.«
»Warum gerade ich?«
»Selbst wenn ich eigene Kontakte hätte, die ich nicht habe, wäre nicht gesagt, dass ich sie auch nutzen würde. Ich muss diskret vorgehen und mich an jemanden wenden, der nicht mit mir in Verbindung gebracht wird. Ich brauche jemanden, der in meinem Namen eine Wohnung oder ein Haus mietet.«
»Ich verstehe nicht.«
»Wie solltest du auch. Ich bin dafür verantwortlich, dass Alains Sohn und sein Kumpel mit verschiedenen Verletzungen im Krankenhaus liegen.«
»Du? Ich dachte, die Angreifer wären zu viert gewesen?«
»Nein, ich war allein. Ich habe einen Stein an den Kopf bekommen, weil ich etwas zu nah an zwei Skinheads vorbeigegangen bin. Einer von ihnen war Alains Sohn. Leider wohne ich in derselben Vorstadt wie Alain. Ich wusste auch nicht, dass Alains Sohn und sein Kamerad bei den Sicherheitskräften der Front National sind. Diese Information verdanke ich dir.«
»Wir befinden uns im Krieg«, sagte Rachid. »Dschihad.«
»Was ich tat, habe ich in meinem eigenen, nicht in Allahs Namen getan. Wenn Allah gewollt hätte, hätte er sicher verhindert, dass der Stein meinen Kopf traf. Aber vielleicht hat Allah ja eine Sehschwäche. Das würde vieles erklären.«
»Allah wollte, dass der Stein dich trifft, damit du Gelegenheit zur Rache bekamst. Hätte Allah gewollt, wahrlich, Er hätte selber Rache an ihnen genommen; jedoch wollte Er die einen von euch durch die andern prüfen. Wir Menschen sind nur Allahs Werkzeug.«
»Meinst du etwa, ich solle Allah bitten, eine Wohnung für mich zu finden? Meines Wissens hat Allah keinen Nebenjob als Immobilienmakler. Ich frage dich noch einmal: Bist du bereit, mir zu helfen?«
»Ich kann es versuchen.«
»Es muss schnell gehen.«
»Vielleicht werde ich gezwungen sein zu erzählen, warum du umziehen musst.«
»Das kannst du gerne tun, solange du keine Namen nennst.«
»Und wenn sie danach fragen?«
»Dann erklärst du ihnen, warum ich anonym bleiben muss und was geschehen kann, wenn Alains Sohn mich aufspüren sollte.«
Rachid streckte ihm seine offene Hand entgegen. Ahmed schlug ein.