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Alain wurde um sechs Uhr morgens durch das Läuten des Telefons geweckt. Wer zum Teufel rief denn um diese Zeit an? Zuerst wollte er gar nicht rangehen. Aber dann dachte er daran, dass sein letztes Telefongespräch schon Wochen zurücklag. Ein Meinungsforschungsinstitut hatte angerufen und ihn zu Vorurteilen gegenüber Farbigen befragt. Da waren sie an den Richtigen geraten. Er hatte losgelegt: Alles, was in den Zeitungen stehe, sei frei erfunden und Teil der Verschwörung, die sich gegen unbescholtene französische Staatsbürger wie ihn richte. Die Journalisten seien nur darauf aus, Leute wie ihn als Nazis und Kommunisten zu diffamieren. Er wolle nichts anderes, als in seinem eigenen Land in Frieden leben.

Das Telefon läutete immer noch. Wenn es nun doch etwas Wichtiges war? Vielleicht jemand aus der Bruderschaft, der Hilfe brauchte. Er nahm den Hörer ab.

»Alain Dubois?«, fragte eine weibliche Stimme.

»Ja, das bin ich. Wer sind Sie?«

»Ich bin eine Krankenschwester vom St Louis Hospital.«

»Hospital?«

»Ihr Sohn hat einen Unfall gehabt. Aber Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, die Verletzungen sind nicht allzu schwer: eine lädierte Kniescheibe, eine gebrochene Nase, eine Platzwunde am Kopf und eine leichte Gehirnerschütterung. In ein paar Wochen wird er wieder auf den Beinen sein.«

»Wie ist das passiert?«

»Es, äh, ... war kein Autounfall oder so was. Dem Bericht zufolge wurde er von vier Männern verprügelt.«

»Von vier Männern? Warum? Von wem?«

»Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Alles, was hier steht, ist, dass es sich um vier Nordafrikaner handelte.«

»Nordafrikaner? Ich muss mit ihm sprechen.«

»Tut mir Leid, er hat ein Beruhigungsmittel bekommen und schläft jetzt. Sie können ihn am Nachmittag besuchen. Dann sollte er aufgewacht sein. Aber Sie brauchen sich, wie gesagt, keine Sorgen zu machen. Hier ist er in den besten Händen.«

»Keine Sorgen zu machen? Wenn er von vier Niggern misshandelt wurde. Auf welcher Abteilung liegt er?«

»18 C.«

Alain knallte den Hörer auf die Gabel. Jetzt hatte er endgültig die Schnauze voll. Die Ausländer mussten raus. Sie hatten es gewagt, seinen Sohn zu überfallen. Sollte das denn nie ein Ende nehmen? Sein Großvater war einer der Ersten gewesen, die nach Algerien ausgewandert waren. Als er dorthin kam, gab es nichts anderes als unkultivierte Erde, Wüste und Krankheiten. Die ersten Kolonisten starben wie die Fliegen an Malaria, Cholera und Tuberkulose. Viele bezahlten ihren Versuch, der kargen Erde etwas abzuringen, mit dem Leben. Doch solche Menschen waren es auch, die das Land aufgebaut und ein Schienennetz, Häuser, Städte, Wege, Landwirtschaft und Weingüter geschaffen hatten. Innerhalb von dreißig Jahren war Franzosen gelungen, was die Araber in Jahrtausenden nicht zu Wege gebracht hatten. Mit fünfzig Jahren war sein Großvater ausgebrannt gewesen und gestorben, worauf sein Sohn, Alains Vater, sich abrackerte, während die Araber untätig zuschauten. Zumindest rührten sie keinen Finger, um ihm zu helfen. Alains Vater erwarb ein bescheidenes Weingut, das sich gut entwickelte. Seine Eltern schufteten rund um die Uhr, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, sich ein Haus und einige Annehmlichkeiten der Moderne leisten zu können. Unmittelbar vor Ausbruch des Krieges hatten sie es endlich geschafft: Sie brauchten nicht mehr eigenhändig die Feldarbeit zu verrichten und hatten es sogar zu bescheidenen Ersparnissen gebracht. Wem hatten sie das zu verdanken? Ausschließlich sich selbst. Doch dann kam der Krieg. Die Araber, die nie zuvor einen Finger gekrümmt hatten, wollten jetzt alles an sich reißen, was sein Großvater und Vater mit ihrer Hände Arbeit und im Schweiße ihres Angesichts aufgebaut hatten. Die Araber sprachen von Selbstständigkeit, Unterdrückung und Identität. Unsinn. Sie waren nur hinter dem Geld her und schon damals genauso verlogen und unberechenbar wie heute. Dem Verräter de Gaulle hatten sie es zu verdanken, dass sie ihren Willen bekamen. Alains Vater verlor sein gesamtes Hab und Gut, als er im Zuge der Unabhängigkeit Algeriens das Land verließ. Und Alain selbst, der vom ersten bis zum letzten Tag am Krieg teilgenommen hatte, was bekam er? Nichts. Niemand wollte etwas mit einem ehemaligen Verhörspezialisten zu tun haben. Als die Familie nach Frankreich zurückkehrte, wurden sie als Ausländer betrachtet, die nicht mehr galten als die Araber. Vielleicht sogar weniger, weil viele von ihnen, die bis zuletzt für ein französisches Algerien gekämpft und am Militärputsch teilgenommen hatten, nun verdächtigt wurden, der fünften Kolonne anzugehören und die Macht in Frankreich an sich reißen zu wollen. Sie wurden wie Aussätzige behandelt, die gekommen waren, um den Franzosen die Arbeit wegzunehmen. Was glaubten sie nur? Dass eine Million pieds-noirs Algerien freiwillig verlassen hätte? Sein Vater bekam schwere Depressionen und starb ein Jahr später in völliger Armut. Seine Mutter lebte noch ein paar Jahre, bis auch sie keine Kraft mehr hatte.

Und jetzt begann wieder alles von vorne. Die Araber strömten in Horden über die Grenze. Sie wollten in Frankreich das Ruder übernehmen und eine islamische Diktatur errichten. Sie sprachen von ihren Rechten. Ihre Kinder sollten eigene Schulen besuchen und einen Schleier tragen. Jedes Viertel sollte eine eigene Moschee bekommen. Ein Teil dieses Pöbels forderte die französischen Ärzte sogar auf, ihren Frauen die Klitoris wegzuschneiden, damit diese nicht untreu wurden. Es war wirklich zum Kotzen. Die Menschenrechte galten doch wohl auch für Franzosen, nicht nur für Araber, Juden und Neger. Es war doch ein Menschenrecht, als Franzose in seinem eigenen Land auch wie ein Franzose leben zu können, oder etwa nicht? Es war doch ein Menschenrecht, auf die Straße gehen zu können, ohne zusammengeschlagen zu werden. Es war doch ein Menschenrecht, dass sein Sohn nicht mit kaputter Kniescheibe und gebrochenem Nasenbein im Krankenhaus zu liegen brauchte. Oder etwa nicht?

Als Alain eine Stunde später bei der Arbeit erschien, setzte er sich in der Baracke auf seinen gewohnten Platz, ganz in der Ecke, mit dem Rücken zur Wand. Der Platz neben ihm blieb frei. Das war auch gut so. Heute sollten sie sich vorsehen. Es spielte keine Rolle, wer Thierry misshandelt hatte. Die waren einer wie der andere, das ganze Pack.

Der böse Blick

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