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Mireille drehte sich um und versuchte wieder einzuschlafen. Doch sobald sie die Augen schloss, sah sie die Albtraumbilder der Männer, die den Stein auf Fatima geworfen hatten. Mireille stand auf und ging zu ihr hinein. Sie hatte sich zu einem kleinen Ball zusammengerollt, als wollte sie sich selbst im Schlaf unsichtbar machen. Ihre Hand ruhte auf der Wunde am Hinterkopf, als versuchte sie, sich gegen die Steine zu schützen, die durch die Luft flogen. Fatima hatte nie etwas Böses getan. Sie musste dafür büßen, dass sie Mireilles Tochter war. Es verging kein Tag, an dem sich Mireille deshalb keine Vorwürfe machte, aber wozu? Sie konnte ihr Leben nicht noch einmal leben.

Mireille war achtzehn, als sie ihre Eltern verließ, die durch das Erstarken der Front National plötzlich den Mut aufbrachten, sich zu ihrem Fremdenhass zu bekennen. In Paris begann sie Geschichte zu studieren, während sie nebenher in einem Café arbeitete. Jahrelang verschlang sie ein Buch nach dem anderen, um zu ergründen, wie es möglich sein konnte, dass die Welt so eingerichtet und sie die Tochter ihrer Eltern war.

Nachdem sie ihr Examen zum agrégé abgelegt hatte, bewarb sie sich an der École Nationale d’Administration und wurde aufgenommen. Sie betrachtete die ENA als eine Möglichkeit, die Welt zu verändern. Aber nach nur einem Jahr hatte sie genug von den verstiegenen Gedankenspielen und intellektuellen Spitzfindigkeiten. Sie verließ das Institut und nahm eine Stelle als Lehrerin an einem Vorortgymnasium an. Dort hatte sie das Gefühl, der Wirklichkeit zu begegnen: Schulklassen, in denen die Mehrheit der Kinder ausländische Eltern hatte. Unter den Schülern befanden sich viele Mädchen, die auf Grund von Rassismus und Unterdrückung keine Möglichkeit hatten, sich frei zu entwickeln.

Die Mädchen fassten Vertrauen zu ihr, und es dauerte nicht lange, bis Mireille ebenso viel Zeit damit verbrachte, ihnen durchs Leben zu helfen wie sie zu unterrichten. Nach und nach scharten sich weitere Menschen um sie, die von Erklärungen und Versprechungen ebenfalls genug hatten. Ohne zu wissen, wie ihr geschah, stand sie plötzlich an der Spitze einer Bewegung, der sich Menschen verschrieben hatten, die gegen jede Art des Fanatismus aufbegehrten und unter Umständen sogar bereit waren, ihr Leben einzusetzen. Die meisten von ihnen waren Angehörige oder Freunde von Menschen, die in Frankreich oder Algerien Opfer von Rassisten und islamischen Extremisten geworden waren.

Schon bald sah sich Mireille den Drohbriefen und dem Telefonterror von Rechtsextremisten und militanten Muslimen ausgesetzt. Schließlich gab es keinen anderen Ausweg mehr, als mit der Organisation in den Untergrund zu gehen. Gleichzeitig hörte sie auf, sich persönlich um hilfsbedürftige Mädchen zu kümmern, und begann, sich bei ihrer Arbeit das Internet zu Nutze zu machen. Sie baute eine horizontal gegliederte Organisation auf, deren autonome Gruppen nichts voneinander wussten, genau wie bei vielen terroristischen Vereinigungen. Der Unterschied bestand darin, dass eine klare Kommandostruktur erhalten blieb und das Leben der Mitglieder als ebenso wichtig betrachtet wurde wie das der Opfer. Bei den meisten Fanatikern hingegen handelte es sich um junge Männer, denen ihr Leben, in Erwartung des Paradieses, gleichgültig war. Ihre Führer betrachteten die Aktivisten als Menschenmaterial oder glaubten, die Märtyrer hätten im Jenseits ohnehin ein schöneres Leben als auf Erden. Mireille fragte sich oft, was wohl ihre Dozenten von der Universität und der ENA sagen würden, wenn sie wüssten, wie sie die Kenntnisse auf ihrem Spezialgebiet »Alternative Organisationsformen« einsetzte. Bis zu ihrem Abgang vom Institut hatte sie an einer Abhandlung über Francis Jeansons Geheimorganisation gearbeitet, die während des Algerienkriegs Geld und Ausrüstung gesammelt hatte, um die FLN in ihrem Kampf gegen Frankreich zu unterstützen.

Bei dieser Vita war es wohl nicht verwunderlich, dass sie früher oder später einem Mann wie Ahmed begegnete. Sie war eines Tages nach Marokko gereist, um ein Mädchen zurückzuholen, das von ihrem algerischen Vater entführt worden war, weil sich die französische Mutter weigerte, zum Islam zu konvertieren. Mireille und Ahmed waren sich frühmorgens am Strand des Atlantiks begegnet. Sie grüßten einander, wechselten ein paar Worte, setzten sich und begannen zu erzählen. Sie entdeckten rasch, dass sie einander ähnelten. Zwei Einzelgänger, die zwar desillusioniert waren, aber den Kopf nicht in den Sand steckten. Ahmed half Mireille, das Mädchen zu finden und außer Landes zu schmuggeln, worauf er sie nach Frankreich begleitete.

Ein Jahr später wurde Fatima geboren. Sie wussten beide, dass sie im Grunde kein Kind in diese Welt hätten bringen sollen. Aber was blieb ihnen übrig? Auch sie hatten schließlich das Recht auf ein normales Leben. Nach einem Jahr mit wechselnden Jobs ließ sich Ahmed als Betonarbeiter für das Eole-Projekt anstellen. Mireille arbeitete weiter als Lehrerin an ihrem Vorortgymnasium, während sie im Verborgenen das Netzwerk der Organisation dirigierte.

Jahrelang hatten sie in einem Getto am Rande der Stadt gewohnt, das zunehmend verarmte, in dem sie jedoch unbehelligt leben konnten. Hin und wieder hatte sie gehofft, ihre kleine Familie könne ein mehr oder weniger normales Leben führen. Aber wenn sie jetzt Fatimas Hand betrachtete, die auf der Wunde des Hinterkopfs ruhte, begriff sie, dass dies nur Wunschdenken war.

Sie strich Fatima über die Wange. Würde sie irgendwann verstehen, warum sich Mireilles Leben so entwickelt hatte? Mireille konnte nur hoffen, dass Fatima ihr eines Tages Recht geben würde. Aber nicht einmal das war gewiss. Und was wäre das Ganze dann wert gewesen?

Nachdem sie geduscht hatte, ging Mireille in ihr Arbeitszimmer, schloss die Tür und schaltete den Computer ein. Sie hinterließ die verschlüsselte Botschaft, sie sei bis neun Uhr erreichbar, für den Rest des Tages jedoch beschäftigt. Fatima sollte jedenfalls heute nicht in die Schule.

Mireille hoffte, dass sie an diesem Morgen nirgends Feuerwehr spielen musste. Aber nur zehn Minuten später erhielt sie die Nachricht, ein siebzehnjähriges ausländisches Mädchen sei aus dem Fenster gesprungen. Das Mädchen erwartete ein Kind von einem Franzosen. Der Vater des Mädchens hatte gedroht, sie umzubringen. Man hatte sich des Mädchens bereits angenommen und sie zu einem sicheren Versteck gebracht. Mireille organisierte die Hilfsmaßnahmen. Der Organisation waren im Laufe der Zeit auch Psychologen und Ärzte beigetreten, die erste Hilfe leisten konnten.

Nachdem Mireille ihre Arbeit am Computer beendet hatte, kochte sie Kaffee. Während des Frühstücks las sie ein Buch über die Islamische Heilsfront von Rachid Boudjedra, der sich entschieden hatte, auch angesichts des schlimmsten Terrors und eines halben Dutzend gegen ihn verhängter Fatwas in Algerien zu bleiben. Zwei Jahre lang hatte er niemals zwei Nächte hintereinander im selben Bett verbracht und sich häufig als Frau verkleidet, um zu überleben.

Vor langer Zeit war Mireille auf einen Roman des norwegischen Autors Jens Bjørneboe gestoßen. Er hieß Der Augenblick der Freiheit und handelte von einem Mann, der Material für eine »Geschichte der Bestialitäten« sammelte, eine zehnbändige Auflistung menschlicher Grausamkeiten. Als Mireille einige Jahre später erfuhr, dass sich Bjørneboe nach Abschluss seines Meisterwerks das Leben genommen hatte, beschloss sie, dort weiterzumachen, wo dieser aufgehört hatte. Irgendjemand musste sich doch die Mühe machen, Vorfälle zu registrieren, zu archivieren und zu veröffentlichen, so wie auch Boudjedra es getan hatte:

Das erste Opfer eines Verbrechens der Islamischen Heilsfront war ein Säugling, der bei lebendigem Leib verbrannte, nachdem fanatische Aktivisten die Wohnung in Brand gesteckt hatten, in der eine geschiedene Frau mit ihrem wenige Monate alten Kind lebte. So geschehen 1989 in Quargla. Die Fundamentalisten der Islamischen Heilsfront, welche die Frau der Prostitution anklagten, legten das Feuer mitten in der Nacht, während sie schlief. Der Säugling wurde auf dem Altar des islamischen Fanatismus und der Inquisition geopfert. Die Mutter überlebte, wurde durch Verbrennungen dritten Grades jedoch nachhaltig geschädigt. Ein solches symbolisches Verbrechen, begangen an einem unschuldigen Geschöpf, einem wenige Monate alten Säugling, sagt viel über die psychopathische Natur der Heilsfront, die sich ganz und gar dem Terror verschrieben hat. Zwischen dem Reichstagsbrand 1933 und dem Brand dieser kleinen Wohnung in Quargla in Südalgerien 1989 besteht mehr als eine Gemeinsamkeit. Beide offenbaren die ganze Barbarei und den Irrsinn dieser Welt.

Mireille heftete eine Büroklammer an die Seite. In allen ihren Büchern steckten solche Klammern und markierten die Abscheulichkeiten, deren sich Menschen im Namen Gottes, der Rasse, der Nation, des Geldes oder Egoismus schuldig gemacht hatten. An Material fehlte es nicht. Vielleicht hatte Bjørneboe sich deshalb das Leben genommen. Er musste begriffen haben, dass zehn Bände nur einen Bruchteil menschlicher Niedertracht dokumentieren konnten. Was hätte er gedacht, wenn er von den Dingen erfahren hätte, die nach seinem Tod allein in Bosnien, Algerien, dem Kosovo und Kambodscha geschahen? Vermutlich hatte er sich zu Recht das Leben genommen, um diese Dinge nicht mehr erleben zu müssen. Wie lange würde sie durchhalten?

Der böse Blick

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