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Ahmed erblickte Alain sofort, als er die Baracke betrat. Etwas in Alains Blick signalisierte ihm, dass er auf der Hut sein sollte. Es war zwar nichts Ungewöhnliches, dass Alain die Araber geringschätzig anschaute, doch normalerweise brauchte man sich darum nicht zu kümmern. Alain war zu feige, um es auf eine Konfrontation ankommen zu lassen. Nicht zuletzt, weil er wusste, dass ein unterirdischer Schacht der ideale Ort war, um einem verhassten Vorarbeiter eine Lektion zu erteilen, die dieser nicht so schnell vergessen würde. Doch es hatte sich etwas Neues in Alains Blick gemischt: Hass, derselbe blinde Hass, den Ahmed so oft während des Krieges gesehen hatte, auf beiden Seiten.

»Wie geht’s?«, fragte Ahmed.

Alain schien ihn weder zu sehen noch zu hören.

Ahmed setzte sich ruhig neben ihn, so wie sonst auch. Schon vor langer Zeit hatte er beschlossen, Rassisten niemals zu ignorieren. Zu schweigen und ihnen auszuweichen war das Verkehrteste, was Ausländer tun konnten.

»Was ist los mit dir? Bist du mit dem linken Bein zuerst aufgestanden?«

»Halt’s Maul!«

»Warum bist du denn so gereizt?«

»Ach, fahr zur Hölle!«

»Gut gesagt. Heute werden wir nämlich die Pumpen kontrollieren. Näher an die Hölle kommt man in diesem Loch nicht ran. Du, Rachid, Georges und ich werden uns heute durch den Schlamm kämpfen, die Filter kontrollieren und sie reinigen. Wird nicht gerade ein Vergnügen werden.«

»Die Pumpen sind mir scheißegal. Hol euch Araberschweine doch alle der Teufel.«

»Vielleicht solltest du besser auf deine Worte Acht geben. Du kennst doch Georges’ Einstellung.«

»Georges hat von der Realität keine Ahnung. War höchste Zeit, dass mal jemand mit ihm geredet hat.«

»Was ist passiert?«

»Thierry ist gestern von vier Arabern zusammengeschlagen worden. Kniescheibe kaputt, Nasenbein gebrochen, schwere Kopfverletzungen. Er hatte keine Chance. Wurde von hinten angegriffen. Vier gegen einen.«

Ahmed starrte Alain unverwandt an. Alain wich seinem Blick aus.

»Thierry?«, fragte Ahmed.

»Wenn ich diese Schweine erwische, mache ich sie fertig, hast du gehört?«

»Ich bin ja nicht taub. Wer ist Thierry?«

»Thierry ist mein Sohn.«

Zehn Millionen, dachte Ahmed. Es wohnen zehn Millionen Menschen in Paris. Fünfzigtausend allein in Saint Denis. Die Chancen standen also eins zu fünfzigtausend, dass es Alains Sohn gewesen war, der Fatima den Stein an den Kopf geworfen hatte. Aber wie viele Rassisten gab es in Saint Denis? Ein paar Tausend? Dass es Alains Sohn war, der im Park gestanden hatte, wäre Pech, doch unwahrscheinlich war es nicht.

»Bist du ganz sicher, dass es sich so zugetragen hat?«

»Was soll die Frage?«

»Warum sollten vier Araber von hinten auf deinen Sohn losgehen? Sie werden doch wohl einen Grund gehabt haben.« Alain kniff die Augen zusammen. Für einen Moment hatte Ahmed das Gefühl, Alain wisse mehr, als er zugab, begriff dann aber, dass es blanke Wut war, die sein Gesicht verzerrte.

»Wenn du glaubst, dass mein Sohn lügt, dann ...«

»Woher weiß Thierry, dass es vier waren, die ihn von hinten attackiert haben?«

»Weil er sie gesehen hat, du Schwachkopf.«

»Dann kann er der Polizei ja sicher eine gute Täterbeschreibung geben.«

»Die Bullen stehen auf Seiten der Araber. Aber glaub ja nicht, dass sie davonkommen werden. Darum werden sich Thierry und seine Freunde schon persönlich kümmern, sobald er wieder auf den Beinen ist.«

Das war typisch. Alains Sohn hatte nicht zugeben wollen, dass er von einem einzigen Araber mittleren Alters verprügelt worden war. Genauso wenig wie sein Vater traute er sich, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Ihre Angst und ihr Hass auf das Fremde waren an die Stelle der Realität getreten. Sie sahen nur, was sie sehen wollten, schwarz und weiß. Aber ihre Missachtung der Realität verleitete sie auch zu Fehlern. Deswegen würden die Fanatiker am Ende stets die Verlierer sein. So war es immer gewesen und so würde es bleiben. Es gab keine rassistische Biologie, keine islamische Wissenschaft, keine kommunistische Logik. Richtiges Handeln setzte einen präzisen Blick für die Wirklichkeit voraus. »Welche Freunde?«, fragte Ahmed.

Alain antwortete nicht. Eigentlich hatte er herausschreien wollen, Thierry sei Sergeant der DPS, der Sicherheitstruppe der Front National, und direkt deren Führer unterstellt. Er hätte bis ins kleinste Detail schildern können, wie unliebsame Araber bestraft wurden. Er hätte Ahmed gern in Panik versetzt. Doch in letzter Sekunde besann er sich. Sein Wissen preiszugeben, noch dazu gegenüber einem Araber, wäre ein Verrat gewesen. Und er wusste, wie man mit Verrätern umging. Genauso wie mit Arabern.

Als Rachid in die Baracke kam, um eine Tasse Kaffee zu trinken, spürte er sofort die unterschwellige Spannung, die zwischen Ahmed und Alain herrschte.

Er stellte sich hinter Ahmed.

»Kann ich dir helfen?«, fragte er, während er Alain ansah.

»Du kannst auch zur Hölle fahren!«

Ahmed drehte sich um. Rachid versuchte, ihm in die Augen zu schauen, musste aber schließlich den Blick abwenden.

»Vier Araber haben Alains Sohn zusammengeschlagen«, erklärte Ahmed. »Und Alain scheint zu glauben, dass wir beide unter den Schlägern waren.«

»Ich?«

»Nimm’s lieber nicht persönlich«, sagte Ahmed. Rachid erkannte sofort die Gefahr. Wollte er seine Aktion nicht gefährden, musste er unbemerkt bleiben, beinahe unsichtbar, einer, den niemand zur Kenntnis nahm. »Alain meint, dass die Araber an allem Unglück der Welt die Schuld tragen. Er glaubt, es sitzt in unseren Genen.«

»Hör zu: Ich habe deinen Sohn nicht verprügelt.« Alain starrte vor sich hin.

Rachid hob den Arm und wollte Alain eine Ohrfeige geben, damit dieser zur Besinnung kam.

»Das ist keine gute Idee«, sagte Ahmed. »Und Worte gehen bei ihm zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.«

»Ich akzeptiere einfach nicht, für etwas beschuldigt zu werden, das ich nicht getan habe. Andere glauben vielleicht, dass er Recht hat.«

»Schon möglich.«

Rachid blickte verstohlen zu Ahmed. Wie konnte er nur so ruhig bleiben? Alain hatte schließlich auch ihn verdächtigt. Ahmed war ihm ein Rätsel. Er war eine Führungspersönlichkeit, kein Handlanger, so wie er. Woher stammte Ahmed? Warum hatte der Imam, der über vielfältige Kontakte verfügte, nichts über ihn herausbekommen können?

»Damit Alain seine Meinung ändert, braucht er schon eine Gehirntransplantation«, sagte Ahmed.

Rachid versuchte es mit einem Lachen. Ahmed war scharfzüngig. Rachid konnte sich nicht helfen, aber schon Ahmeds Gegenwart brachte ihn aus dem Gleichgewicht. War Ahmed überhaupt Moslem? Rachid hatte ihn nie über Allah oder den Islam reden hören.

Alain spürte, dass etwas in der Luft lag. Er versuchte, sich zu beruhigen und nachzudenken. Warum sprachen Ahmed und Rachid überhaupt miteinander? Er hatte zu beiden gesagt, sie sollten sich zum Teufel scheren, aber sie reagierten gar nicht darauf. Sollte er es ihnen etwa direkt ins Gesicht schreien, damit sie ihn verstanden? Doch halt! Was hatte Ahmed zu Rachid gesagt? Dass er, Alain, sie beschuldigte, Thierry misshandelt zu haben? Ja, das hatte er gesagt. Die Angst kroch langsam in ihm empor. Er war allein. Niemand würde ihm beistehen.

»Vergiss es!«, stieß er hervor.

»Was soll ich vergessen?«, fragte Ahmed.

»Alles.«

»Was meinst du mit ›alles‹?«

Alain blickte auf. Er wollte nicht klein beigeben. Eine Entschuldigung würden sie nicht aus ihm herausbekommen. Wenn die Front erst an der Macht war, dem Führungsquartett ein Ende bereitete und alle Ausländer rauswarf, würde Thierry mit an der Spitze stehen. Dann musste er dafür sorgen, dass sein Vater Genugtuung erhielt.

Warum konnte er Ahmed und Rachid nicht mehr klar erkennen? Er rieb sich die Augen und schaute verblüfft auf seinen Handrücken. Er war feucht.

»Du weinst«, sagte Ahmed.

Weinte er? Ja, tatsächlich. Er heulte vor Wut. Er hasste Ahmed und Rachid. Er hasste sie, weil er ihnen nicht gewachsen war. Er hasste sie, weil er sich ihnen unterordnen musste, weil er Angst vor ihnen hatte, weil Georges sie nicht entbehren konnte, weil sie ihn wie einen Waschlappen behandelten, weil sie ihn kaum beachteten. Sie sollten ihn kennen lernen! Sobald Thierry wieder gesund war, würde Alain ihnen zeigen, dass man nicht ungestraft auf ihm herumtrampelte. Warum sollte er sich von Typen wie ihnen schikanieren lassen?

»Wir vergessen alles«, wiederholte er.

»Vergessen was?«

»Ich meinte nicht, dass ihr persönlich Thierry verprügelt habt.«

Ahmed streckte die Hand aus. Alain schaute sie an. Einem dreckigen Araber würde er ums Verrecken nicht die Hand geben.

Er drückte Ahmeds Hand, während sich sein Gesicht zu einem Lächeln verzerrte.

»Du wirst doch Georges nichts davon erzählen?«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Georges kam herein.

»Wovon erzählen?«, fragte Georges.

»Alain ist mit dem linken Bein zuerst aufgestanden«, sagte Ahmed.

In diesem Moment fiel Georges’ Blick auf Rachid, der direkt hinter Ahmed stand. Ahmed und Rachid hatten nie den Anschein erweckt, als seien sie befreundet. Eher im Gegenteil. Zumindest hatte Georges nie gehört, dass sie über etwas anderes als über ihren Job gesprochen hatten. Ahmed und Rachid kamen Georges fast wie zwei Feinde vor, die zum Waffenstillstand gezwungen worden waren. Jetzt standen sie zweifellos auf derselben Seite.

»Ich will eine Erklärung haben«, sagte Georges.

Wenn er eines vermeiden wollte an einem Tag, an dem ihnen eine so wichtige Arbeit bevorstand, dann war es Streit.

Ahmed berichtete, was vorgefallen war.

Georges schaute Alain an.

»Was, glaubst du, ist das für ein Gefühl, wenn der eigene Sohn mit gebrochener Nase, zertrümmerter Kniescheibe und einer klaffenden Kopfwunde im Krankenhaus liegt?«

Georges wandte sich zu Rachid um.

»Noch irgendwelche Fragen?«, erkundigte sich Georges.

»Alains Sohn ist Sergeant bei der Sicherheitstruppe der Front National«, sagte Rachid nach einer Weile.

Alain und Ahmed starrten ihn an. Sie waren offensichtlich gleichermaßen verblüfft.

»Das ist nicht wahr!«, rief Alain erregt.

Georges wusste, dass es durchaus möglich war, dass Rachid die Wahrheit sagte, woher auch immer er diese Information besaß. Es war höchste Zeit, sich um Alain zu kümmern. So konnte es nicht weitergehen. Es war untragbar, einen Rassisten als Vorarbeiter für ungefähr sechzig Algerier zu beschäftigen. Dumas hatte argumentiert, die Konzernleitung würde einen Araber als Vorarbeiter nicht akzeptieren. Alle die Moslems, die ständig infiltrierten, stellten ein zu hohes Risiko dar. Georges war sicher, dass Dumas ihn anlog. Dumas hatte am Algerienkrieg teilgenommen, und Alain war ein pied-noir, einer von neunhunderttausend Franzosen, die voller Bitterkeit Algerien verließen, als das Land die Unabhängigkeit erreichte.

Sie hatten geglaubt, in Frankreich als Helden empfangen zu werden, weil sie ihr Leben riskiert hatten, um die äußerste Bastion des französischen Staates zu verteidigen. Doch sie hatten einsehen müssen, dass die öffentliche Meinung sich geändert hatte und sie nun als reaktionäre Extremisten und unliebsame Einwanderer betrachtet wurden. Womöglich stand Dumas seit dieser Zeit in Alains Schuld. Falls Dumas nicht gar selbst Mitglied der Front National war. Bei den gegenwärtigen Verhältnissen war nichts ausgeschlossen.

»Ich kann verstehen, dass die Sache mit deinem Sohn dir nahe geht«, sagte Georges. »Aber du weißt genauso gut wie ich, dass keiner von uns etwas damit zu tun hat. Das war die letzte Warnung. Beim nächsten Mal fliegst du raus.«

»Das kannst du ja mal versuchen.«

»Ja, das kann ich. Dumas kann wählen. Du oder ich.«

Georges spürte, dass seine Worte Eindruck gemacht hatten. Selbst Alain wusste, dass Georges bis auf weiteres unentbehrlich war.

»Von jetzt an will ich kein Gerede mehr über Ausländer hören, von niemandem. Die Anzahl von Dreckskerlen und Schwachköpfen ist überall ungefähr gleich groß. Das ist beim Bau nicht anders.«

Georges blickte Ahmed und Rachid an.

Ahmed nickte. Rachid verzog keine Miene.

»Ach, du hast doch keine Ahnung!«, brach es aus Alain hervor. »Du wohnst in einem noblen Vorort, in dem es keine Ausländer gibt.«

Georges machte einige Schritte nach vorne.

»Meine Mutter war sechsunddreißig, als sie mit ihren vier Kindern nach Frankreich flüchtete. Hatte sich Frankreich nicht immer damit gebrüstet, das Heimatland der Menschenrechte zu sein? Meine Mutter kam ins Lager. Meine zwei Brüder landeten im Kinderheim. Meine Schwester und ich hatten das Glück, adoptiert zu werden. Ich verlange nicht, dass du dich in meine Lage versetzen kannst. Dein Einfühlungsvermögen scheint ohnehin gleich null zu sein. Aber eines solltest du wissen: Solange ich dein Chef bin, tust du, was ich dir sage.«

Alain starrte schweigend auf die Tischplatte.

Georges schaute sich um.

»Ihr wisst, was heute ansteht. Die Inspektion der Pumpen. Gleichzeitig werden wir einen Stromausfall simulieren und die Generatoren testen. Unsere Aufgabe ist es, uns an Ort und Stelle davon zu überzeugen, dass alles nach Plan verläuft. Und diese Aufgabe werden wir gewissenhaft erfüllen. Es geht um unsere eigene Sicherheit.«

Der böse Blick

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