Читать книгу Der böse Blick - Björn Larsson - Страница 4
1
ОглавлениеRachid schaute auf die Uhr. Genau zwölf Minuten vor sechs, so wie an jedem Morgen der letzten drei Monate, betrat er den Fahrstuhl, der ihn zur Sohle des Victoriaschachts brachte.
Bevor er die Fahrstuhltüren zuzog, ließ er seinen Blick über den Bauplatz schweifen, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. Er sah die Baracken der Arbeiter, die man in sieben Etagen übereinander geschichtet hatte, um Platz zu sparen; den vierzig Meter hohen Kran, der eine Kapazität von sechzig Tonnen besaß, um Bagger und Betonelemente hinabzusenken; die vier Zementsilos, deren Inhalt unter Hochdruck durch meterdicke Schläuche gepresst wurde; die Belüftungsrohre, deren Ventilatoren unablässig surrten; die Berge von Armierungseisen und Baugerüsten, die auf ihren Einsatz warteten, und viele andere Dinge, deren Verwendungszweck Rachid nicht kannte.
Wie an jedem anderen Morgen der letzten Monate war er allein. Um den Nachtschlaf Tausender von Menschen nicht zu stören, ruhte der lärmende Vortrieb zwischen acht Uhr abends und sieben Uhr morgens. Nachtwächter, Techniker und Ingenieure arbeiteten währenddessen in zwei Schichten, waren entweder schon gegangen oder noch nicht da, als Rachid kam. Eine knappe Stunde, zumindest eine gute halbe Stunde würde er mit großer Wahrscheinlichkeit ungestört sein.
Aber Wahrscheinlichkeit war etwas anderes als Gewissheit. Als Ingenieur wusste er, wie gefährlich es war, aus einer begrenzten Anzahl von Beobachtungen auf eine Gesetzmäßigkeit zu schließen. Deshalb blieb er für einen Moment ruhig stehen, blickte in den Abgrund und lauschte, bevor er auf den Fahrstuhlknopf drückte. Durch das Stahlgitter des Aufzugskäfigs hindurch konnte er den Boden in dreißig Metern Tiefe erahnen und die Sprossen der Leiter, die an die Oberfläche führten, deutlich erkennen. Niemand war zu sehen. Völlige Stille.
Als sich der Fahrstuhl ratternd in Bewegung setzte, zog er seinen Notizblock hervor und kontrollierte ein weiteres Mal, ob alle Angaben stimmten. Er prüfte, wie lange er brauchte, um die Sohle zu erreichen und danach zu Schacht Nummer elf zu gelangen, wo von den Hauptkabeln aus der Strom auf mehrere kleinere Leitungen verteilt wurde. Genau hier, am Verteilerkasten, fünf Meter unter der Oberfläche, sollte eine kleine Sprengladung platziert werden, um die Stromversorgung außer Kraft zu setzen. Da er bereits wusste, wie viel Zeit er für diesen Vorgang veranschlagen musste, begab er sich von Schacht elf unverzüglich durch die südliche Tunnelröhre in den zukünftigen Zentralbereich der Station namens »Condorcet«. Mit raschen Schritten lief er zum anderen Ende, das über zweihundert Meter entfernt war. An einigen Stellen musste er Umwege in Kauf nehmen, weil ihm Bohrmaschinen, Baugerüste oder andere Gegenstände den Weg versperrten.
Am anderen Ende des Zentralbereichs nahm er den Aufzug bis zu einer Tiefe von zehn Metern unter der Oberfläche, dem Grundwasserspiegel. Er stieg aus dem Käfig und bog unmittelbar nach links in eine der kleineren Tunnelröhren ab, die ausschließlich Belüftungs- und Sicherheitszwecken dienten. Weil diese Röhren nach Fertigstellung der Arbeiten ohnehin zugeschüttet werden sollten, hatte man sich nicht die Mühe gemacht, den Boden von Lehm und Gesteinsbrocken zu befreien. Entsprechend lange dauerte es, um die ungefähr achtzig Meter zurückzulegen.
Am Ende bog er ein weiteres Mal nach links ab und erreichte einen Hohlraum, in dem sich dicke Schläuche befanden, die in ein Betonrohr von zwei Metern Durchmesser mündeten. Durch dieses Rohr leiteten fünfzig Pumpen das Grundwasser ab, das unablässig in den Untergrund sickerte. Abgesehen von einigen Verbindungstunneln zur Metro, entstand die gesamte Station im Bereich des Pariser Grundwassers.
Er kletterte über einige kleinere Schläuche hinweg und ging hinter dem Betonrohr in die Hocke. Er hob eine Sperrholzplatte an und vergewisserte sich, ob der trockene Hohlraum, den er vor einigen Wochen gegraben hatte, immer noch vorhanden war. Er schaute auf die Uhr und danach in sein Notizbuch. Die Zeitangaben stimmten auf die Minute. Danach ging er denselben Weg zurück, den er gekommen war. Mitten im Haupttunnel blieb er unterhalb der Rohrkonstruktion stehen, die sein eigener Arbeitsplatz war: Hunderte von Stahlrohren waren zu einem zehn Meter hohen Gerüst zusammengefügt, das die Decke abstützte, während man mittels einer Technik, die »lining« genannt wird, die Betonarbeiten durchführte. Hatte man sich drei Meter weiter in das Gestein vorgearbeitet, wurde die Fläche mit massivem Kunststoff verschalt, damit das Grundwasser nicht durchsickern konnte, wenn der Beton eingespritzt wurde. Über dem Stahlrohrgerüst befand sich eine zwanzig Meter breite, gewölbte Schalungsform aus Stahl, die hydraulisch gegen die Decke und den Kunststoff gepresst wurde. Dann wurde der Beton unter Hochdruck hineingespritzt und füllte den Hohlraum zwischen der Form und dem Gestein, während das austretende Grundwasser die Tunnelwände hinunterlief und abgepumpt wurde. Bevor das Unternehmen sich für die Lining-Technik entschied, hatte es verschiedene Injektionsmittel getestet, eines giftiger als das andere. Doch bei dem gleichmäßig strömenden Grundwasser hatte keines richtig aushärten können.
Rachid wusste das technische Know-how zu schätzen, das dem Bau der Station zu Grunde lag. Doch für sein Vorhaben spielte dies keine Rolle. Entscheidend war vielmehr, dass der Ort, an dem er jetzt stand, die Achillesferse des Projekts war. Genau hier, an der Nahtstelle zwischen dem freigelegten Gestein und dem noch nicht ausgehärteten Beton, konnte sich die Station von einem Meisterstück der Ingenieurkunst in ein Mahnmal für die Hybris der westlichen Welt verwandeln. An diesem Ort musste die größte Sprengladung platziert werden.
Die Vorbereitungen würden noch weitere Monate in Anspruch nehmen. Um die praktischen und technischen Fragen machte er sich keine Gedanken mehr. Die Ladung zu präparieren, erforderte genaue Planung und Fingerfertigkeit – und auf diesen Gebieten war er Experte. Das einzige unkalkulierbare Problem war der Faktor Mensch. Seine Lehrmeister hatten stets hervorgehoben, wie wichtig es war, auch mit dem Unerwarteten zu rechnen, wenn man es mit Menschen zu tun hatte. Obwohl Rachid die Arbeitspläne und Bewegungsströme genauestens analysiert hatte, reichte es aus, dass jemand zurückkehrte, um ein vergessenes Werkzeug zu holen, und der ausgetüftelte Plan war hinfällig. Er brauchte also jemanden, der Wache hielt. Zum Schacht elf und dem Pumpenraum kam selten jemand, das wusste er. Doch im Zentralbereich, besonders unter der Schalungsform, konnte man stets Leuten begegnen, selbst außerhalb der üblichen Arbeitszeiten. Hilfe von außen gab es nicht. Weil die Unternehmensleitung Terroranschläge befürchtete, wurden alle neuen Mitarbeiter einer gründlichen Personenkontrolle unterzogen.
Trotz mehrerer Versuche war er selbst der Einzige, den die Bewaffnete Islamische Gruppe, genannt GIA, hatte einschleusen können.
Natürlich hatte er keine Angst vor dem Sterben. Alles lag in Allahs Hand. Ob er heute oder morgen starb, war gleichgültig. Er hätte die Aktion auch ganz allein durchführen können, doch ihm war strikt untersagt, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Es gab andere in der GIA, die keine besonderen Fähigkeiten besaßen und sich daher besser zum Märtyrer eigneten. Sich gemeinsam mit einem Dutzend Christen oder Juden in die Luft zu sprengen, war nicht der einzige Weg zu einem Platz an Allahs Seite. Genauso wertvoll war es, der wichtigste Bombenexperte der Bewaffneten Islamischen Gruppe zu sein. Für Allah zu sterben war keine Kunst. Die Kunst bestand darin, zu überleben.
Deshalb hatte man ihn ausgewählt. Er war der Einzige, der beweisen konnte, dass der Heilige Krieg nicht beendet war, bevor der Islam triumphiert hatte. Das Regime in Algerien und die Regierungen in Europa, die es unterstützten, glaubten, der Krieg sei gewonnen und die Lage unter Kontrolle. Die Industriestaaten pumpten Milliarden ins Land, um die Regierung sowie die Ausrottungsfront innerhalb der Streitkräfte zu stützen. Vor dem Terror und der Korruption der Armee verschlossen sie die Augen, weil sie Feinde des Islam waren. Viele der heiligen Krieger der GIA hatten ihr Leben im Kampf für Allah und den Islam gelassen. Rachid sollte zeigen, dass es nicht vergeblich gewesen war. Außerdem würde ihm die Aktion ewigen Ruhm einbringen. Der edle Schreiber an Allahs Seite, der alle guten Taten eines Menschen notierte, sollte mit Freude zur Feder greifen. Und niemand auf der Welt würde jemals vergessen, dass es Rachid war, der hinter der Auslöschung stand; ein ganzes Wohnviertel mit Tausenden von Menschen sollte auseinander gesprengt und in den Abgrund gerissen werden, um schließlich in der Sintflut des Grundwassers zu ertrinken – ein unvergleichliches Symbol für die Niederlage der westlichen Welt. Nachdem er alle Details überprüft hatte, ging er zum Victoriaschacht zurück. Dort hielt er inne und blickte durch den langen Trichter, der sich weit über seinem Kopf befand, zum schwarzen Morgenhimmel empor. Er hatte seinen kommenden Triumph vor Augen. Das Paradies war nah, so nah, dass er fast meinte, es berühren zu können: Für den aber, der seines Herrn Rang gefürchtet, sind der Gärten zwei. Beide mit Zweigen. In ihnen sind zwei eilende Quellen. In ihnen sind von jeder Frucht zwei Arten. Sie sollen sich lehnen auf Betten, mit Futter aus Brokat, und die Früchte der beiden Gärten sind nahe. In ihnen sind keusch blickende Mädchen, die weder Mensch noch Dschānn zuvor berührte. Als wären sie Hyazinthe und Korallen. In ihnen sind gute und schöne Mädchen. Hūris, verschlossen in Zelten. Die weder Mensch noch Dschānn zuvor berührte.
Sein Herz pochte so heftig, dass er sich in der unterirdischen Stille einbildete zu hören, wie das Echo zwischen den Tunnelwänden hin und her sprang. Er sah, wie der Imam ihn empfing und Hunderte jubelnder Mudschaheddin ihm zu Ehren Gewehrsalven in die Luft schossen. Er sah, wie die schönen Jungfrauen im Paradies ihn erwarteten.
Inmitten der Euphorie zuckte er zusammen. Hatte er ein Geräusch gehört? Er rieb sich die Augen und schlug sich ins Gesicht. Was fiel ihm nur ein! Er hatte sich von seiner Fantasie mitreißen lassen. Das war eine unverzeihliche Sünde. Seine Lehrmeister hatten ihn gewarnt: Nichts dürfe sich zwischen Allah und die Wirklichkeit drängen, keine Fantasie, keine Träume, keine Geschichten. Denn diese waren Trugbilder, die von der einzig wahren Erzählung ablenkten: Wer ist sündiger, als wer wider Allah eine Lüge ersinnt oder Seine Zeichen der Lüge zeiht? Der Wahn nützt nichts gegen die Wahrheit.
Ein beträchtlicher Teil seiner Ausbildung zielte darauf ab, sich niemals in das Leben eines Menschen hineinzuversetzen, auch nicht in sein eigenes und vor allem nicht in das eines Ungläubigen. Helft mir mit Kräften, und ich will zwischen euch und zwischen sie einen Grenzwall ziehen. Einfühlung war Verständnis, und Verständnis bedeutete zu akzeptieren, dass Menschen das Recht hatten, ein gottloses Leben zu führen. Doch es gab nur eine Wahrheit, die Wahrheit Allahs, so wie sie sich im Koran und in der Sunna, den Sprüchen des Propheten, offenbarte. Alles andere war Lüge.
Er durfte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, in wenigen Monaten Rachid der Held zu sein. Unter keinen Umständen durfte er an die Menschen denken, deren Leben geopfert werden musste. Allah hatte ihn beauftragt, die Gottlosen zu töten. Also war es auch an Allah, zu urteilen und Mitleid zu zeigen. Nicht an ihm. Er diente ausschließlich dem Dschihad und der Wahrheit. Er durfte nicht vom Weg abweichen. Dass viele Mitglieder der GIA Naturwissenschaftler und Ingenieure waren wie er, war kein Zufall. Die wussten, dass man stets mit der notwendigen Präzision arbeiten musste. Die waren sich im Klaren, dass man alle Variablen, inklusive des Menschen, in Betracht ziehen musste, um das Ziel zu erreichen. Doch er begriff, dass diese Eigenschaften es ihm schwer machten, das Vertrauen seiner Kollegen zu gewinnen und jemanden zu finden, der ihm helfen konnte. Dass die meisten von ihnen zu den Einwanderern der ersten Generation gehörten und den Bürgerkrieg noch in frischer Erinnerung hatten, spielte keine Rolle. Das Geld und die westliche Dekadenz hatte sie bereits verdorben. Vor allem waren es Facharbeiter, die besser bezahlt wurden als die meisten anderen Ausländer. Die meisten von ihnen würden ihn bedenkenlos anzeigen.
Nur einer war anders: Ahmed. Wer war er? Er hatte nie von sich selbst gesprochen. Ahmed war nicht so wie die anderen. Er verbarg etwas. Rachid hatte versucht, etwas über seinen persönlichen Hintergrund in Erfahrung zu bringen, doch ohne Erfolg. Als existierte Ahmed nicht. Oder wäre ein anderer, ein Rätsel, das es zu lösen galt, ein nicht entzifferbarer Code. Wenn er Ahmed sah, musste Rachid an eine große Raubkatze denken, einen verwundeten Tiger, der nachts herumstrich und angriff, wenn man am wenigsten damit rechnete. Rachid wünschte sich, Ahmeds Geheimnis zu kennen. Er brauchte jemanden, der so war wie dieser: wachsam, verschwiegen und stark. Mit Ahmed wäre das menschliche Problem gelöst. Doch bisher hatte Ahmed alle Versuche Rachids, mit ihm in Kontakt zu treten, abgewehrt und selbst auf Fragen kaum etwas geantwortet.
Es brauchte Geduld und Vertrauen. Früher oder später würde sich mit Allahs Hilfe eine Tür öffnen. Irgendjemand würde eines Tages Rachids Hilfe in Anspruch nehmen, was diesen in die Lage versetzte, eine Gegenleistung zu fordern. Man musste nur auf die richtige Gelegenheit warten. Bis dahin ging es nur um eines: die Aktion minutiös vorzubereiten, um jederzeit zuschlagen zu können.