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WO IST SYLVIA?

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Tanjas Besuch in der Redaktion war ein voller Erfolg. Ein erstaunlich kooperativer Bartels stimmte ihren Wünschen und Forderungen in vollem Umfang zu und erklärte sich bereit, die Titelseite der morgigen Ausgabe für sie freizuhalten.

Beschwingt machte sich Tanja auf den Rückweg nach Harsefeld, wo das Hausmädchen Sylvia mit hoffentlich weiteren Sensationen auf sie wartete.

Da sie es eilig hatte, wählte sie die Autobahn als Zubringer und fuhr in Rade auf die Bundesstraße 73. Kaum vierzig Minuten später erreichte sie das Anwesen von Hans Schmock und parkte ihren Wagen vor dem reetgedeckten Haus.

Er musste sie gehört haben, denn als sie ausstieg, trat Hans aus dem Haus. „Kommen Sie“, sagte er und steuerte auf einen Anbau zu, in dem sein Personal wohnte.

Sie betraten das Gebäude und stiegen eine massive Holztreppe zu einer Empore hinauf, von der etliche dunkelgrün lackierte Türen abgingen. Vor der letzten Tür blieben sie stehen. Hans klopfte. Doch niemand meldete sich.

„Sylvia?! Sylvia, mach auf. Die Journalistin aus Hamburg ist hier.“

Keine Antwort!

„Nun mach schon auf, Sylvia. Wir haben keine Lust, hier draußen rumzustehen“, verlangte Hans ungeduldig.

Doch hinter der dunkelgrünen Holztür rührte sich nichts.

„Wo ist das dumme Ding bloß? Sie wollte hier auf Sie warten, jedenfalls hat sie das gesagt“, schimpfte Hans.

„Vielleicht ist sie im Garten oder am Teich. Kommen Sie, wir suchen sie“, schlug Tanja vor. „Sie will doch Geld von mir, da wird sie sich bestimmt nicht weit entfernt haben.“

Sie stiegen die Treppe wieder hinab und traten ins helle Tageslicht hinaus. Und erstmals fiel Tanja die unnatürliche Stille auf. Kein Vogel sang. Kein Lüftchen regte sich. Es war so still, als hielte die Welt den Atem an. Tanja fröstelte trotz der Wärme.

Auch Hans fühlte sich nicht wohl „Wieso ist es so still?“, fragte er. „Selbst mein Bernhardiner Bosko lässt sich nicht sehen. Bosko?! Wo bist du, mein Kleiner? Komm zu Herrchen“, lockte Hans. Doch kein Bosko kam angelaufen. „Das verstehe ich nicht. Sonst kommt er, sobald ein Fremder das Grundstück betritt“, sagte Hans beunruhigt.

Während er sprach, hatten sie den Hof überquert und sich den Stallungen genähert. Eine breite Schleifspur erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie endete vor einem hohen Holzstapel. Zögernd gingen sie um das gestapelte Holz herum.

UND DA WAR BOSKO!

Irgendjemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten! Tanja schluckte und hielt mühsam die Tränen zurück. „Mein Gott! Bosko!“, flüsterte Hans und hockte sich neben seinen toten Hund. „Mein armer Junge, wer hat dir das nur angetan? Er war mein bester Freund“, schluchzte er und streichelte das dichte, weiche Fell.

Tanjas Gedanken summten wie ein Bienenschwarm hinter ihrer Stirn. Wer hatte den armen Hund getötet und warum? Und wo war Sylvia? Hatte Boskos Tod etwas mit dem Verschwinden der Frau zu tun? Musste er sterben, weil er die Frau beschützen wollte?

Aber wovor beschützen? Natürlich vor dem Mörder. Das war doch klar. Aber weshalb sollte jemand ein harmloses Hausmädchen töten wollen? Und plötzlich wusste sie es, wusste so genau was passiert war, als sei sie dabei gewesen.

Der Mörder hatte Sylvia aus dem Haus gelockt. Sie waren dem Bernhardiner begegnet der instinktiv die Gefahr erkannte und zu Hilfe eilte. Der Erpresser hatte ihn kaltblütig umgebracht. Das Opfer seiner grausigen Tat lag vor ihnen.

Und was war mit Sylvia geschehen?

„Hans, wir müssen nach Sylvia suchen“, drängte Tanja und rüttelte ihn an der Schulter. „Vielleicht hatte der Mörder es auf sie abgesehen und Bosko kam ihm dazwischen.“

Hans stand auf und sah sie an. „Sie glauben, ihr ist auch etwas zugestoßen?“

Tanja nickte. „Wohin könnte sie gegangen sein?“

„Dieser Weg führt zwar zum Forellenteich, aber was sollte sie dort wollen? Dort ist es nicht mehr besonders schön, nachdem, was dort mit meinen Forellen und dem Wasser geschieht.“

„Trotzdem sehen wir uns dort besser mal um“, sagte Tanja energisch. Niedergeschlagen trottete Hans ihr hinterher.

Wieso war sie sich eigentlich so sicher, dass dem Hausmädchen etwas zugestoßen war? Konnte sie nicht ebenso gut im Schatten eines Baumes sitzen und ein Buch lesen oder auch gar nichts tun? Einfach nur die Zeit vergessen und zufrieden die Schönheit des Augenblicks genießen?

Nein, sagte ihr eine innere Stimme. Sie ist tot oder befindet sich zumindest in großer Gefahr. Sie behielt den Weg und das dichte Gebüsch im Auge, das zu beiden Seiten wuchs. Und doch hätte sie fast das winzige Stückchen Stoff übersehen, das sich im dornigen Gestrüpp verfangen hatte, wäre Hans nicht bei ihr gewesen.

„Es ist ein Stück von Sylvias Bluse!“, rief Hans erschrocken. „Sie hat sie heute zum ersten Mal angehabt und war sehr stolz darauf, deshalb weiß ich das so genau.“

„Dann sind wir auf dem richtigen Weg. Kommen Sie!“, rief Tanja von plötzlicher Unruhe erfüllt. Die Frau war in Gefahr! Sie wusste es. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät! Sie rannten den Sandweg entlang, der sich unvermittelt in einem Wiesengrundstück verlor, in dem eingebettet der Forellenteich im sanften Nachmittagslicht lag.

Zögernd gingen sie weiter. Schritt für Schritt, bewegten sie sich auf das brodelnde Wasser zu, in dem die Wasserkiller eifrig Sand produzierten.

Tanja hielt die Augen starr auf den Teich gerichtet. Etwas unsagbar Böses ging von ihm aus, das sie bis ins Innerste ihrer Seele traf. Noch ein Schritt und noch einer und immer weiter auf das Wasser, auf das Böse zu. Plötzlich stolperte sie. Sie sah verwirrt zu Boden und ... begann zu schreien!

Sie schrie – und schrie – und schrie!

Ein harter Schlag auf die Wange brachte sie wieder zur Besinnung. „Oh, mein Gott!“, flüsterte sie kreidebleich. Am ganzen Körper zitternd starrte sie auf die tote Frau zu ihren Füßen, über deren Kopf sie gestolpert war. Ihr wurde übel. Sie taumelte zur Seite und übergab sich stöhnend.

„Sylvia!“, keuchte Hans. „Das ist Sylvia!“

Tanja drehte sich widerwillig um und starrte zitternd auf die Tote herab. Das Hausmädchen war tot, daran bestand kein Zweifel. Aber woran war sie gestorben? Äußerlich waren auf den ersten Blick keine gewaltsamen Verletzungen zu erkennen.

Der Frauenkörper lag zur Hälfte im Wasser, nur der Oberkörper und die Arme ragten heraus. Ihre wie skelettiert aussehenden Finger hatten sich in den Sand gekrallt.

Von Grauen erfüllt sah Tanja Sylvias rechten Ring- und Mittelfinger neben ihrer Hand liegen. Sie waren abgebrochen! Irgendetwas hatte die Knochen so brüchig werden lassen wie bei einer Jahrtausende alten Mumie.

„Ihre Haare! Sehen Sie Ihre Haare!“, krächzte Hans kreideweiß im Gesicht.

Tanja starrte ihn an. Was meinte er? Und dann begriff sie. Die tote Frau zu ihren Füßen konnte nicht älter als fünfundzwanzig Jahre alt geworden sein, aber ihre langen, zu einem Knoten aufgesteckten Haare waren schlohweiß!

„Angst und Entsetzen können dazu geführt haben. So etwas hat es schon des Öfteren gegeben“, sagte Tanja leise.

„Vielleicht! Vielleicht aber auch etwas ganz anderes. Spüren Sie auch die böse Ausstrahlung des Sees?“, flüsterte Hans.

Natürlich spürte sie es!

Waren es die Wasserkiller, die sich in dem Teich tummelten? Konnten sie Menschen so beeinflussen? Oder entsprangen diese Empfindungen ihrer beider Fantasie? Erst der tote Hund und jetzt Sylvia. Da konnten die Gefühle schon durcheinander geraten.

Schaudernd blickte sie auf die tote Frau im Sand. „Wir sollten sie aus dem Wasser ziehen“, murmelte sie.

„Und – und wenn sie dabei zerbricht?“, flüsterte Hans auf die zwei abgebrochenen Finger deutend.

Tanja schüttelte sich. „Aber wodurch wurden ihre Knochen so brüchig? Ich begreife das nicht.“ Sie holte ihre kleine Kamera heraus.

Sie brauchte Fotos für ihren Artikel. Nachdem sie ihre Übelkeit überwunden hatte, fotografierte sie die Leiche von allen Seiten. Und dabei entdeckte sie die blutverkrustete Wunde am Hinterkopf der Toten.

„Sie könnte von einem Schlag herrühren“, sagte Hans. „Vielleicht schlug dieser Mistkerl sie nieder und ließ sie dann einfach mit Hilfe der Wasserkiller krepieren.“

„Wie kommen Sie denn auf diese abscheuliche Idee?“

„Ja, ist es Ihnen denn noch nicht aufgefallen?“

„Was soll mir aufgefallen sein? Was meinen Sie?“

„Na ja, sie sieht aus wie meine toten Forellen“, murmelte Hans.

Was?! Sind Sie verrückt geworden?“

„Nein, bin ich nicht. Aber Sylvias Körper wurde ebenfalls alle Flüssigkeit entzogen, genau wie bei meinen Forellen.“

Tanja starrte ihn an. Ihre Gedanken überschlugen sich. „Da...das würde bedeuten, da...das die...diese Wasserkiller auch noch blutrünstige Vampire sind“, stotterte sie.

„Scheint so“, entgegnete Hans lapidar.

„Da...das ist grauenhaft“, flüsterte Tanja. Und plötzlich drängte sich ihr eine Vision des Geschehens auf, die sie aufstöhnen ließ. „Der Mörder schlägt sein Opfer nieder und wirft die ohnmächtige Frau in den Teich, um einen Unfall vorzutäuschen. Danach verlässt er fluchtartig den Tatort in dem Glauben, Sylvia sei ertrunken. Doch diese kommt wieder zu sich und versucht an Land zu schwimmen.

Und vielleicht wäre ihr das auch trotz der Kopfverletzung gelungen. Aber da stürzen sich die Wasserkiller wie Vampire auf die wehrlose Frau und beginnen ihr Blut aus ihr herauszusaugen. Trotzdem gelingt es ihr, den Sandgürtel zu erreichen. Doch der Blutverlust hat sie so geschwächt, dass ihr die Kraft fehlt, sich vollständig aus dem Wasser herauszuarbeiten. Und die Wasserkiller beenden ihr schauriges Werk.“

„Warum stöhnen Sie?“, fragte Hans.

Und Tanja erzählte es ihm.

Schweigend standen sie nebeneinander und dachten an gar nichts. Ihre Köpfe waren so leer wie die endlose Weite der Antarktis. Und so wie dort ab und an ein Lebewesen auftaucht, zuckte hinter Tanjas Stirn der Ansatz eines Gedanken auf, um im selben Moment wieder zu verschwinden. Lange standen sie so da, bis ein unheimliches Brodeln und Zischen aus der Mitte des Sees Tanja aus ihrer lethargischen Stimmung riss.

Sie rüttelte Hans an der Schulter. Doch er rührte sich nicht. „Kommen Sie zu sich, Hans! Im Teich tut sich was“, rief Tanja. „Wir sollten schleunigst von hier verschwinden und die Polizei benachrichtigen!“

Keine Reaktion! Wie hypnotisiert starrte Hans mit leeren Augen aufs Wasser und rührte sich nicht.

Das Brodeln im Mittelpunkt des Sees wurde stärker. Tanjas Unbehagen wuchs und verstärkte sich zu einer Ahnung drohender Gefahr.

Sie mussten unbedingt von hier verschwinden!

Aber der Mann an ihrer Seite wirkte wie paralysiert. Was war nur mit ihm los? Wie konnte sie ihn aus diesem Zustand befreien? Und dann kam ihr eine Idee. „Hans! Was ist mit Bosko? Sie müssen ihn begraben“, rief sie und schüttelte ihn. Und wirklich! Es half!

„Wasch isch mit Boschko?“, nuschelte Hans so undeutlich, als hätte er keine Zähne im Mund.

„Er ist tot. Sie müssen ihn begraben.“

Der Mittelpunkt des Forellenteiches schäumte und bebte, Geysiren gleich sprühten Wasserfontänen in die Höhe. Und dann wölbte sich die Mitte des Teiches wie ein gewaltiger Buckel empor.

„W...was i...ist da los?“, stotterte Hans erschrocken.

„Keine Ahnung. Aber wir sollten schleunigst von hier verschwinden“, drängte Tanja.

„Nichts wie weg hier“, keuchte Hans und nahm die Beine in die Hand. Tanja jagte ihm mit langen Schritten hinterher.

Hinter ihnen brodelte das Wasser immer heftiger, vermischte sich mit einem schrillen Wutschrei der ihnen die Haare zu Berge stehen ließ, ungeahnte Laufreserven weckte und sie geradezu über den Boden hinwegfliegen ließ.

Auf einer Anhöhe blieb Hans so abrupt stehen, dass Tanja auf ihn auflief und beide durch die Wucht des Aufpralls zu Boden stürzten. Keuchend blieben sie liegen.

„Was ist?“, keuchte Tanja.

„Was ist mit Sylvia? Wir haben sie dort unten einfach liegen lassen“, stieß Hans hervor.

„Sie ist tot. Die Polizei wird sich um sie kümmern. Wir hätten nichts mehr für sie tun können.“

„Aber ihr Körper lag im Wasser. Wir hätten sie zumindest an Land bringen sollen.“

„Wozu? Sie sagten doch selbst sie könnte zerbrechen. Außerdem soll man die Lage eines Mordopfers nicht verändern, um die Ermittlungstätigkeit der Polizei nicht zu erschweren.“

„Das ist wahr. Ich hab die Nerven verloren. Entschuldigen Sie“, murmelte Hans verlegen. Er stand auf, reichte ihr die Hand und zog sie hoch.

„Schon gut, da gibt´s nichts zu entschuldigen. Ich hatte auch plötzlich schreckliche Angst. Aber wovor?“ Sie drehten sich um und traten an den Rand der Anhöhe. Nachdenklich starrten sie auf den stillen Teich unter sich.

Hatten sie sich die Bedrohung nur eingebildet? Außer den Wasserkillern und den Forellen gab es nichts in dem Teich, konnte es nichts geben, weil der See versandete.

„Seltsam nicht?“, sagte Hans leise. „Ich glaube nicht, dass wir uns das alles eingebildet haben.“

„Ich auch nicht. Trotzdem sollten wir es lieber für uns behalten, sonst hält man uns noch für verrückt.“

Hans nickte und ging weiter.

„Woher kann der Mörder gewusst haben, dass Sylvia etwas gesehen hat, was sie mir verraten wollte?“, fragte Tanja unterwegs.

„Jeder kann davon gewusst haben“, erwiderte Hans. „Sylvia hat es überall herumerzählt. Sie war nicht besonders verschwiegen. Aber sie hat keinen Namen genannt, denn den wollte sie Ihnen ja verkaufen.“

Enttäuscht trottete Tanja neben ihm her. Als sie sein Haus erreichten, bat sie ihn die Polizei zu informieren, ihre Anwesenheit jedoch nicht zu erwähnen.

Hans versprach es ihr.

Jagd auf Cosima

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