Читать книгу Jagd auf Cosima - Bärbel Junker - Страница 16
TRAURIGES ENDE EINER FREUNDSCHAFT
ОглавлениеPünktlich um neunzehn Uhr öffnete Tanja die prachtvolle Jugendstiltür zu Mimis Kneipe und betrat den gemütlichen, mit wunderschönem alten Mobiliar, Spiegeln und üppigen Pflanzen ausgestatteten Schankraum.
Mimi ließ alles stehen und liegen, umrundete flink einige Tische und schloss Tanja liebevoll in ihre molligen Arme. Sofort verschwand deren Ärger darüber, dass Bernd sie versetzt hatte; und nach mehreren herzlichen Küsschen auf beide Wangen fühlte sie sich gleich wieder wie zu Hause.
Sie kannte die kleine, korpulente Besitzerin der Jugendstilkneipe schon seit neun Jahren und war ihr in Dankbarkeit und inniger Zuneigung verbunden. Unzählige Male hatte sich Mimi geduldig ihre Sorgen angehört, ihr Trost gespendet und ihr in der winzigen Küche eine warme Mahlzeit zubereitet, wenn sie wieder mal pleite war.
Ihr Vater war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie gerade mal ein Jahr alt war. Bereits im Jahr darauf hatte ihre Mutter Robert geheiratet, der sie kurz darauf adoptierte. Zwei Jahre später wurde dann Connie geboren, die Tanja vom ersten Tag an über alles liebte.
Vor nunmehr sieben Jahren waren ihre Eltern dann bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Tanja hatte sich um ihre jüngere Schwester so lange gekümmert, bis Connie vor drei Jahren in eine eigene Wohnung gezogen war, nachdem sie bei einer Bank eine gut bezahlte Stelle als Programmiererin gefunden hatte.
Kurz darauf hatte Connie durch sie dann Piet kennen gelernt. Zwischen den beiden hatte es wie ein Blitz eingeschlagen. Und in sechs Wochen sollte diese Liebe auf dem Standesamt besiegelt werden.
„Was ist mit dir?“, riss Mimis Stimme Tanja aus ihren Gedanken.
„Mit mir ist alles in Ordnung“, sagte Tanja und gab ihrer mütterlichen Freundin einen dicken Kuss.
„Von wegen“, erwiderte Mimi. „Du siehst abgespannt aus, hast Ringe unter den Augen und bist viel zu dünn. Ich wüsste nicht, was daran in Ordnung sein soll, Kind!“
Sobald sich Mimi um Tanja sorgte, war diese trotz ihrer neunundzwanzig Jahre wie früher ihr Kind und würde es wohl auch bleiben. Und wie schon so oft dachte Tanja auch jetzt wieder, dass sie in Mimi mehr die Mutter sah, als in ihrer leiblichen, zu der sie nie eine so enge Beziehung entwickelt hatte.
Mimis von ihr innig geliebter Mann war nach nur fünfjähriger, glücklicher Ehe mit sechsunddreißig Jahren einem Krebsleiden erlegen. Mimi hatte nie wieder geheiratet. Auch heute noch, nach nunmehr fünfundzwanzig Jahren, trauerte sie um ihn und so würde es wohl auch bis an ihr Lebensende bleiben.
Außer ihrer Schwester, die mit Sohn und Mann, einem Fischer, auf einer Hallig lebte, hatte Mimi keine Verwandten. Und als sie dann Tanja kennenlernte, hatte sie diese spontan in ihr Herz geschlossen. Und obwohl sie auch Connie sehr zugetan war, nahm Tanja den ersten Platz in ihrem Herzen ein.
Mimi musterte sie besorgt. „Isst du auch regelmäßig, Kind?“, fragte sie. Und als Tanja nickte: „Stimmt das auch wirklich?“
„Ich bin in Ordnung“, versicherte Tanja. „Ich habe in letzter Zeit nur zu wenig geschlafen. Darf ich mich jetzt setzen oder hast du mir als Strafe einen Stehplatz zugedacht?“
„Freche Göre“, murmelte Mimi liebevoll. Sie nahm Tanjas Arm und dirigierte sie zu einem kleinen runden Tisch, der verborgen hinter hohen Grünpflanzen neben einer Tür mit der Aufschrift Privat stand. „Was möchtest du trinken? Aber vielleicht solltest du erst mal etwas essen. Vielleicht ein leckeres Steak mit Kräuterbutter und Salat?“
„Nur ein schönes Glas Rotwein“, erwiderte die junge Frau lächelnd. „Und ein leckeres Käsebrot“, fügte sie hastig hinzu, als sie Mimis enttäuschtes Gesicht gewahrte.
„Kommt sofort“, sagte Mimi glücklich und eilte flink in die Küche. Nachdem sie Tanja mit Brot und Wein versorgt hatte, setzte sie sich zu ihr und beobachtete zufrieden, wie gut es Tanja schmeckte.
Nachdem Mimi abgeräumt hatte, saßen sie sich bei einer Tasse Kaffee gegenüber. „Was ist an dieser Horrormeldung über diese Wasserkiller wirklich dran, Tanja?“, fragte sie beunruhigt.
Und Tanja erzählte Mimi alles, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatte und ließ nichts aus. Als sie van Cliffs Namen erwähnte, stutzte Mimi und runzelte nachdenklich die Stirn. „Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor“, murmelte sie. „Na ja, vielleicht fällt es mir ja noch wieder ein.“
Als Tanja Cosima beschrieb, riss Mimi entsetzt ihre braunen Augen auf. „Das gibt´s doch nicht! Wer erschafft denn ein solches Lebewesen?“, fragte sie schockiert.
„Das habe ich mich auch schon gefragt, Mimi. Entweder ist der Erpresser total übergeschnappt oder bösartig, bis auf den Grund seiner rabenschwarzen Seele. Auf jeden Fall jedoch ist er absolut skrupellos.“
„Wird die Regierung zahlen, Tanja? Was meinst du?“
„Ich weiß es nicht, Mimi. Aber selbst wenn sie zahlt heißt das noch nicht, dass der Erpresser Wort hält und seine Kreatur vernichtet.“
„Sag mal, Kind. Willst du diesen Videofilm des Erpressers wirklich im Fernsehen zeigen und kommentieren?“, fragte Mimi leise.
„Meinst du, ich sollte es nicht tun?“
„Ja, das meine ich. Tu´s nicht, Tanja. Daraus entsteht nichts Gutes für dich.“
„Wie meinst du das?“
„Ich denke, dass dich dieser Bartels benutzt. Sollten aus dieser Berichterstattung hinterher irgendwelche Probleme entstehen, wird man ganz alleine dir die Schuld zuschieben. Deine Karriere wäre zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat. Du könntest sogar in Gefahr geraten.
Denk doch nur mal daran wie schnell dieser Schmidt van Cliff entführt hat; ebenso gut hätte er ihn auch ganz verschwinden lassen können. Diese Geheimdienste machen doch, was sie wollen. Lass lieber die Finger davon, Kind.“
Tanja war sehr nachdenklich geworden. Wenn die Regierung gewollt hätte, dass der Film im Fernsehen gezeigt wurde, dann hätte sie dafür gesorgt. Und wenn sie jetzt den Geheimdiensten dadurch in die Quere kam, dass sie ihn an die Öffentlichkeit brachte, konnte das böse für sie ausgehen
Mimi hatte recht. Sie tat besser daran, sich auf die schriftliche Berichterstattung zu beschränken. Sie wollte es Mimi gerade sagen, als das Telefon läutete.
Mimi sprang auf und lief zum Tresen. „Bei Mimi“, meldete sie sich freundlich und dann ungeduldig: „Hallo? Wer ist denn da? Antworten Sie bitte! Dann eben nicht!“ Sie wollte gerade den Hörer auflegen, als ihre Hand mitten in der Bewegung erstarrte.
„Piet?! Piet, bist du es? Was ist los mit dir? Tanja ist hier. Bist du noch dran, Piet? So melde dich doch, Junge!“, rief Mimi aufgeregt.
Tanja eilte zu ihr und nahm ihr den Hörer aus der Hand. Zuerst war da nur Rauschen. Sie lauschte. Und dann Piets Stimme:
„Tanja...nicht...kom...schlecht...bar...vorsicht...glaube...gift...aaaaaah!“
„Piet?! Mein Gott, was hast du? Wo bist du?“, schrie Tanja kreidebleich in den Hörer.
„Wohnung“, keuchte er und dann:
„Hilf mir, Tanja! Aaaaaaaaaaah!“ Oh Gott, Connie!“, wimmerte Piet.
„Ich komme! Halte durch!“, brüllte Tanja verzweifelt in die Hörmuschel.
Piet keuchte und wimmerte schmerzerfüllt, versuchte aber trotzdem ihr etwas zu sagen:
„Vors...bar...kom...killer...te...te...tel...ha...er....er...“
Sein herzzerreißendes Gestammel verstummte.
„Piet?! Bist du noch da, Piet?“, rief Tanja und ihre Nackenhaare sträubten sich vor Entsetzen. Sie presste den Hörer ans Ohr; hoffte seine Stimme zu hören, hoffte, dass sich alles zum Guten klärte, dass nichts Schlimmes geschehen war.
„Piet?!“
Nur leises Rauschen antwortete ihr.
Tanja hob mühsam den Kopf und starrte in Mimis aschgraues Gesicht, bemerkte plötzlich Menschen, die vorher noch nicht da gewesen waren. Langsam legte sie den Hörer zurück. Und dann katapultierte sie ein plötzlicher Adrenalinstoß förmlich aus ihrer Benommenheit heraus.
„Ich muss zu ihm!“, stieß sie hervor und sprang auf. „Sag Connie Bescheid.“ Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter und rannte zum Ausgang. Krachend schlug die Tür hinter ihr zu. Sie hastete zu ihrem Wagen und stieg ein. Brummend erwachte der Golf zum Leben. Mit quietschenden Reifen jagte sie davon. Sie dachte an Connie und deren innige Liebe zu Piet und daran, dass die beiden in sechs Wochen heiraten wollten.
WAS IST MIT PIET?! schrie es in ihr; und die Angst hielt sie fest im Griff.
WAS IST MIT PIET?!
Dicke Schweißperlen liefen ihr übers Gesicht und verfingen sich im Kragen ihres Polo-Shirts. Sie bemerkte es nicht.
WAS IST MIT PIET?!
Mit kreischenden Bremsen stoppte sie den Golf vor dem roten Backsteingebäude, in dem Piet eine urige Atelierwohnung gemietet hatte. Sie hielt sich nicht damit auf den Wagen abzuschließen, sondern hastete ins Haus. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprintete sie zum Dachgeschoss hinauf. Vor der Wohnungstür blieb sie keuchend stehen.
„Piet! Piet, mach auf“, japste sie und donnerte wie eine Verrückte mit der Faust gegen die Wohnungstür.
Da schwang diese lautlos nach innen auf!
Tanjas Herz setzte vor Schreck sekundenlang aus. Als es wieder zu schlagen begann, hämmerte es wie ein Vorschlaghammer gegen ihre Rippen. Zögernd trat sie in den Flur.
„Piet, wo bist du? Was ist los?“
Noch ein zögernder Schritt und noch einer und damit war der Bann gebrochen. Sie stürzte zum Arbeitszimmer, in dem sie das Telefon wusste, stieß die angelehnte Tür auf und – blieb abrupt stehen.
Piet saß am Boden mit dem Rücken an den Schreibtisch gelehnt. Der Hörer lag in seinem Schoß. Seine weit aufgerissenen Augen starrten leer gegen die Zimmerdecke; in seinen Mundwinkeln klebte blutiger Schaum.
„Mein Gott, Piet!“, flüsterte Tanja erschüttert, und das Zimmer begann sich wie ein Karussell um sie zu drehen. Mit weichen Knien wankte sie zu ihm und hockte sich neben ihn. Sie tastete nach seinem Puls, obwohl seine gebrochenen Augen die Antwort waren.
Kein Puls! Kein Atem! Kein Leben! Nie mehr sein herzliches Lachen! Seine Freundschaft!
PIET! Ihr Freund Piet ist tot!
Ihr Freund Piet, mit dem sie aufgewachsen ist; mit dem sie die Schule besucht und danach studiert hat; der immer in ihrer Nähe gewesen ist; dieser Freund, den sie wie einen Bruder liebt, dieser Freund ist ... TOT! Und nichts und niemand konnten ihn ihr jemals wieder zurückgeben.
Tanja legte den Telefonhörer auf die Schreibtischplatte, dann sank sie neben Piets leblosem Körper zu Boden und bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Sanft strich sie über seine Augenlider, verbarg seinen gebrochenen, in Schmerz und Entsetzen erstarrten Blick.
„Schlaf, Piet, und träume was Schönes“, flüsterte sie und streichelte sein Gesicht, das jetzt fast so friedlich aussah, als schliefe er. Nur der blutige Schaum in seinen Mundwinkeln deutete auf etwas anderes, etwas Schreckliches, Endgültiges, hin.
Sie schaute in sein stilles Antlitz. Die Starre, die sie mit eiserner Faust umklammert hielt, löste sich, die Sperre fiel und gewährte endlich den Tränen freien Lauf.
Stetig wie ein sanft fließender Strom rannen sie über ihr vor Schmerz erstarrtes Gesicht. Sie weinte, als könne sie niemals wieder aufhören, weinte, als wären alle Tränen dieser Welt in ihr vereint.
Wahrscheinlich hätte sie die ganze Nacht neben Piet auf dem Boden gesessen, hätte nicht das Klingeln des Telefons sie aus ihrer grenzenlosen Trauer gerissen.
Rrrrrrriiiiiing!
Nein! Sie wollte mit niemandem sprechen!
Rrrrrrriiiiiing!
Aber das Telefon war unerbittlich! Sie erhob sich steifbeinig und taumelte gegen den Schreibtisch.
Rrrrrrriiiiiig!
„Ja, verdammt noch mal!“, murmelte sie und griff nach dem Hörer.
„Ist alles in Ordnung, Tanja?“, drang Mimis besorgte Stimme aus weiter Ferne an ihr Ohr.
Sie brachte keinen Ton hervor, stand da mit dem Hörer in der Hand und starrte verständnislos gegen die Wand. Was wollte Mimi? Was sollte in Ordnung sein?
„Tanja, melde dich! Sprich zu mir! Was ist mit Piet?“
Wieso? Was meinte sie? Was sollte mit Piet sein? Und dann schlug die Wahrheit wie ein Donnerschlag in ihr Bewusstsein und ließ sie gegen die Wand taumeln.
Piet ist T O T!
„Tanja? Bitte Tanja, sag etwas“, flehte Mimi.
„Tot! Er ist tot“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Was hast du gesagt? Du musst lauter sprechen, Kleines. Ich kann dich nicht verstehen.“
„Er ist tot!“, wiederholte sie mit etwas festerer Stimme.
„Oh, mein Gott! Das kann doch nicht wahr sein! Wieso?“, fragte Mimi erschüttert.
„Ich weiß nicht. Er lag auf dem Boden als ich kam, aber da war er schon tot“, krächzte Tanja, deren Hals vom vielen Weinen trocken wie Schmirgelpapier war.
„Oh Tanja! Es tut mir so unendlich leid“, schluchzte Mimi. Und nach einer Weile: „Connie war nicht zu Hause. Ich konnte sie nicht erreichen.“
„Schon gut.“
„Hast du die Polizei benachrichtigt?“
„Die Polizei?! Wieso die Polizei?“
„Du musst die Polizei benachrichtigen, Tanja. Sie werden klären, ob es ein Unfall oder etwas anderes war.“
„Du meinst ...“
„Dass Piet ermordet wurde. Ja, das meine ich. Menschen sterben nicht so einfach ohne Grund, Tanja“, sagte Mimi leise.
„Aber wieso? Wer sollte ihn töten? Er war doch so lieb und so freundlich“, flüsterte Tanja entsetzt.
„Ich rufe für dich die Polizei an, Liebes“, sagte Mimi sanft.