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Am Schultor hatten es die Fünfer, wie immer, besonders eilig. Sie wimmelten herum, mussten noch dieses und jenes erledigen und quasselten ohne Unterlass. Im Gegensatz dazu schlurfte Felix mit einer Schicksalsergebenheit durch das Gewusel auf dem Hof, die eine Gruppe Siebener für besondere Lässigkeit hielt und aus den Augenwinkeln heraus neiderfüllt bewunderte. Er war immerhin so etwas wie der Star der Schule, denn er hatte sie bei der letzten Schwimmmeisterschaft zum Stadtsieger gemacht und es sogar zu einer Erwähnung auf der Lokalseite der Zeitung gebracht. Felix nahm keine der herumstehenden Schülergruppen sonderlich wahr. Sie waren die Staffage, die zu jedem Schultag dazugehörte. Er ging über den Hof, ohne auf den Weg zu achten, den er schon tausende Male gegangen war, vertieft in die Frage, ob man ihm eigentlich etwas ansah. So lief er auf den rechteckigen Schulbau zu, vier Reihen Fenster übereinander, ein Eingang rechts, ein anderer links, dazwischen eine Reihe vernachlässigter Sträucher, zwischen denen Coladosen und Papier vergammelten. Genauso fühlte er sich auch. Benutzt. Man musste es ihm doch ansehen! Es stand doch in großen Buchstaben auf seiner Stirn geschrieben, für jeden sichtbar: Ich bin ein Dreck. Aber niemand beachtete die rotglühende Flammenschrift.

„Hey, Hummuckel!“

Noch ehe Felix das Schulgebäude erreicht hatte, umschlangen zwei dicke Arme die Mitte seines Körpers und das dazugehörige Gesicht drückte sich fest in seinen Bauch. Er roch nach Gummibärchen und war wie immer voll guter Laune. Felix sog seinen Geruch ein und drückte ihn ebenfalls.

„Hallo Juri, altes Haus.“

Der Junge hielt Felix weiter umklammert, hob aber nun den Kopf und sah zu ihm auf. „Quatschkopf du! Du dünner Hering. Ich bin doch ein junges Haus.“

Er schmatzte beim Sprechen und die Worte kamen mit Pausen zwischen den Buchstaben aus seinem Mund. Dann hob er seine geschlossene Faust und Felix reagierte sofort und hielt ihm seine entgegen und sie klatschten sich ab, Faust an Faust. Gleich darauf fuhr Juri den Zeigefinger seiner rechten Hand aus und sagte:

„Weißt du, dass Heringe die Lieblingsspeise vom Haifisch sind?“ Er grinste.

Felix grinste mechanisch zurück.

„Du hast wohl mal im Unterricht aufgepasst oder wie kommst du darauf?“

„War gestern im Fernsehen“, antwortete Juri. „Die sind soooo gruselig, wenn die das Maul aufreißen!“ Er schüttelte sich. „Zum Glück bin ich kein Hering, sondern Astronaut!“

„Astronaut?! Und wo sind dein Raumanzug und dein Helm?“

Juri stemmte seine Fäuste in die Hüfte.

„Brauch ich doch nicht! Wenn die Erde der Mond ist, kann ich doch ganz einfach Sauertopf atmen.“

„Sauerstoff!“

Juri schlenkerte mit seinen Armen. „Ja, genau, sag ich doch. Du Besserwürstchen.“ Er hob die Faust und sie klatschen sich wieder ab. „Bis dann“, sagte Juri, „und schwimm nicht so weit raus, okay!“ Im nächsten Augenblick breitete er seine Arme aus und lief als Flugzeug in Richtung des Schulhauses davon. Dabei zog er Schleifen nach links und nach rechts direkt auf die Gruppe der Siebener zu, die auseinanderstoben und „Spasti!“ riefen. Felix sah ihm grinsend hinterher.

Ein einziges winziges Gen hatte Juri zu einem lebendigen Beispiel dafür gemacht, dass eben nicht alle Menschen auf die gleiche Weise normal waren. Aber was hatte seine Normalität für unglaubliche Vorteile! Für ihn gab es keine unsichtbaren Mauern, die andere selbstverständlich umgaben. Er trat auf jeden ohne Scheu zu und sagte, was er sagen wollte. Oder stellte sich zu einer Gruppe, die ihn auf irgendeine Weise anzog, einfach dazu, sagte Hallo und war dabei. All die tausend Bedenken, die jeder andere mit sich herumschleppte, schienen für ihn nicht zu existieren. Außerdem hatte er oft so eine Art siebten Sinn für das, was mit den anderen los war. Als besäße er einen geheimen Draht in das Innere der Menschen. Es war schwer, etwas vor Juri zu verheimlichen.

Felix hatte zuerst einen Schreck bekommen, als Juri da eben auf ihn zu gekommen war. Aber wenn selbst er nichts gemerkt hatte, dann konnte Felix ziemlich sicher sein, dass niemand etwas bemerkte. Juris Seismografenblick konnte durchaus unangenehm sein – wie überhaupt der ganze Juri mit seiner tapsigen Gestalt, den schrägen Augen und dem meist offen stehenden Mund nicht überall auf große Gegenliebe stieß. Mongo war noch die harmloseste Bezeichnung, die die Schüler hinter seinem Rücken benutzten. Felix mochte ihn exakt deshalb, weil er anders normal war. Er war ein Lichtblick, genau wie Dahlmeier.

Heute hätte er diesen Lehrer wirklich gebraucht. Einfach weil er so war, wie er war. Aber heute hatten sie kein Deutsch. Als Felix das Schulgebäude betrat, schaute er sich suchend um, ob er die schlenkernde Gestalt Dahlmeiers nicht irgendwo auf den Gängen entdeckte. Schon von Weitem fiel auf, dass ihm das Gehen Mühe machte. Das rechte Bein schien bei jedem Schritt gegen einen Widerstand anzugehen und funktionierte nur mit Verzögerung. Humpelnd lief er herum, wobei sein rechter Arm leblos an der einen Seite seines Körpers herunterhing. Nach einem Unfall vor etlichen Jahren war der Arm zu nichts mehr zu gebrauchen und fristete sein Dasein als lästiges Anhängsel. Aber die öde Wüste des Schulalltags öffnete sich einen Spalt weit, wenn Dahlmeier für den Deutschunterricht in die Klasse kam. Wenigstens ein Blick auf diesen Lehrer hätte Felix heute Morgen Mut gemacht. Als er kurze Zeit später das Klassenzimmer betrat, war alles wie immer. Marius feilte seine Fingernägel. Einar schaute in sein Heft und ging noch mal seine ellenlange Hausaufgabe durch, um gleich mindestens einen schlauen Satz raushauen zu können. Vince lag halb auf seinem Pult und hörte Musik. Hamid war in ein Buch versunken. Pufu, mit dem Felix manchmal zusammen Ballerspiele und Waldläufe machte, hob kurz seine Hand und Alva schaute ebenfalls zu ihm herüber, wechselte von der Kippel- in die normale Sitzposition und lächelte. Lächelte so einfach und so selbstverständlich, wie sonst niemand hier. Felix war sogleich wieder verunsichert. Sollte das alles wirklich bedeuten, dass er einfach so weitermachen konnte wie vorher? Niemand reagierte anders als sonst. Keiner sagte: Felix? Wieso bist du heute so anders? Felix, wieso bist du heute so ein Häuflein Asche und nicht mehr der strahlende Schwimmheld?

Er sank an seinem Platz auf den Stuhl, dann kam der Teschner herein und sie hatten Mathe. So ein Mist. Felix holte sein Heft heraus und schaltete im gleichen Moment ab. Er beobachtete die Spinne, die schon gestern begonnen hatte, in der rechten Ecke des mittleren Fensters ihr Netz zu weben. Jetzt saß sie dick und fett mittendrin und Felix wunderte sich, dass Manu noch nicht in hysterisches Gekreische ausgebrochen war. Aber sie saß mit dem Rücken zum Fenster und hatte die Spinne wahrscheinlich noch gar nicht gesehen. Er begann wieder zu zählen, die Fenster, die Rahmen, die Griffe, die Vorhänge. Kleine Fische. Er wanderte hinüber zu den Fliesen an der Wand mit der Tafel, die schon eine größere Herausforderung waren und versuchte, nicht aus der Spur zu geraten. Mathe fand irgendwo in einem anderen Universum statt und er bekam nicht mit, dass der Teschner ihm schon zum zweiten Mal die gleiche Frage stellte.

„Felix! Würdest du dich eventuell zu einer Antwort herablassen?“ – Pause. – „Felix! Bist du bekifft oder einfach nur gewohnheitsmäßig abwesend?“ Der Teschner hob das Mathebuch vom Pult und ließ es im nächsten Moment mit einem lauten Knall auf die Tischplatte fallen.

Schwerfällig veränderte Felix seine Sitzposition und sagte: „Keine Ahnung.“

Die Jungs in der hinteren Reihe lachten anerkennend, aber gerade noch so, dass sie keine Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Der Teschner sagte: „Okay, Einar, hast du vielleicht das, was diesem Herrn hier fehlt?“ Er hatte.

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