Читать книгу Orpheus Stufen - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - Страница 10

4.

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Geht es euch gut, meine Lieben? Habt Ihr genug Wasser?«

Das Pfeifen des Wasserkessels zerschneidet den halblaut gesprochenen Monolog des Mannes wie ein Sägeblatt, und gleichzeitig die Rede des Nachrichtensprechers aus dem Fernsehgerät im Hintergrund.

Ringelnatz erhebt sich schwerfällig aus den Tiefen des alten Sofas. Seine Füße tasten suchend nach den ausgetretenen Pantoffeln, die Agnes immer so gehaßt hat. Es sind zwar nicht mehr dieselben wie damals, aber er hat sich wieder ähnliche gekauft, als die alten nicht mehr zu gebrauchen waren. Das ist ein Jahr nach ihrem Auszug gewesen.

Fast acht Jahre ist es her. Seine Frau hat ihn von einem Tag auf den anderen verlassen, ohne Vorwarnung. Sie haben sich über die Jahre auseinandergelebt, das stimmte, und sein Beruf ist ihm immer wichtiger gewesen als sie, das stimmte auch. Trotzdem hat ihn die Trennung schwerer getroffen, als er geglaubt hat. Nicht sofort, in der ersten Zeit war er überwiegend mit der Pflege seiner gekränkten Eitelkeit und dem daraus entstandenen Zorn auf Agnes beschäftigt. Aber dann, nach ein paar Wochen, da trat das Selbstmitleid zurück und er begann, die Einsamkeit zu spüren.

Er geht hinüber, in die Küche der kleinen Wohnung, die er allein mit seinen zwei Sittichen bewohnt. Das Wasser brodelt hörbar im Inneren des Kessels, wie Lava in einem Vulkan kurz vor der Eruption. Ringelnatz nimmt die Pfeife ab, das Geräusch verstummt. Dann gießt er das kochende Wasser in die vorbereitete Tasse mit dem Teebeutel.

Niemals hätte er angenommen, daß sich Agnes in ihrer Ehe derart unwohl fühlen würde, daß sie sich dazu gezwungen sehen könnte, ihn zu verlassen. Und noch weniger wäre er auf die Idee gekommen, daß sie zu einem solchen Schritt überhaupt den Mut aufbringen würde. Gerade dies machte ihm am meisten zu schaffen: Das Gefühl, dreißig Jahre neben ihr gelebt zu haben, ohne sie zu kennen und ohne jemals mitzubekommen, was wirklich in ihr vorging.

Er hat sie nicht wahrgenommen, all die Zeit.

Der Detektiv geht mit der Tasse nach nebenan, nimmt den Platz auf dem Sofa wieder ein. Der Tee wird ihm guttun. Die Übelkeit vom Nachmittag ist zwar verschwunden, aber immer noch ist da ein unangenehmes Zwicken im Magen und ein leichtes Völlegefühl, obwohl er kaum etwas gegessen hat über den Tag. Er drückt auf den Knopf der Fernbedienung. Das Bild zieht sich blitzschnell bis auf einen schmalen, horizontalen Spalt zusammen, wird dann vertikal immer dünner und ist verschwunden.

Nun ist es still, bis auf das Ticken der beiden Wanduhren, und gelegentlich leise, zirpende Töne, die die Vögel von sich geben. Er führt die Tasse zu den Lippen; während er trinkt, spaziert sein Blick kritisch durch den Raum.

Mit Agnes hat sich auch die Wohnkultur von ihm verabschiedet, das ist überdeutlich. Er kann das einfach nicht, seine Frau hatte ihm seinen schlechten Geschmack manchmal vorgehalten. Ringelnatz hält die drei Räume zwar klinisch sauber, aber seine Einrichtungsgegenstände wirken alle, als stünden sie nur zufällig bei ihm herum; kein Stück paßt zum Stil des anderen. Er spürt die Disharmonie, und sie stört ihn, aber er ist nicht in der Lage, etwas daran zu ändern.

Ein kleiner Schluck Tee rinnt seine Speiseröhre hinab. Die Wärme des Getränks wirkt wohltuend und beruhigend auf seine Magenwände.

Das Gespräch mit Millstadt fällt ihm wieder ein, der Ausstieg aus dem Berufsleben. Vielleicht kann er sogar eine kleine Abfindung herausschinden. Im Moment baut die Insura wieder Personal ab, in einigen Bereichen jedenfalls. Wenn er geht, dann tut er ihnen sogar einen Gefallen, warum sollen sie nicht dafür zahlen?

Wieder ein Schluck.

Ringelnatz sieht dem Pensionärsdasein mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits wird die Anspannung, die auf ihm lastet, mit einem Male verschwunden sein, und hoffentlich auch das Gefühl von Minderwertigkeit und Nutzlosigkeit, daß sich in den letzten Jahren in ihm entwickelt hat. Die anderen, seine jüngeren Kollegen, sind jetzt die Leistungsträger der Abteilung; sie sind schneller als er, denken klarer, wissen immer besser, was zu tun ist. Sie lassen ihn spüren, daß sie besser sind, oder sich zumindest dafür halten, und er hat es akzeptiert und wehrt sich nicht mehr.

Nutzlos. Genau das ist das Stichwort für die Zeit des Ruhestands. Was wird er machen mit seiner freien Zeit? Ringelnatz hat keine Ahnung. Im Moment sieht er meist fern, wenn er zu Hause ist, oder er liest Zeitung. Er hat keine Hobbys. Trotz der schlechten Position, die er jetzt in der Geschäftshierarchie einnimmt, hat ihn nie etwas anderes interessiert als das Geschäft.

Ich muß mich vorbereiten, denkt er in aufkommender Panik, die Hand mit der Teetasse beginnt leicht zu zittern. Ich muß mir etwas suchen, daß mich beschäftigt, sonst ist es bald aus. Er hat es oft genug erlebt, wenn Kollegen ausgeschieden sind, die genauso gelebt hatten wie er. Auf einmal ist der Boden aus beruflich definiertem Selbstwertgefühl, auf dem sie sich all die Jahre sicher bewegt hatten, verschwunden, und damit alles, was das Leben lebenswert macht. Die wenigsten verkraften, was ihnen da passiert. Einige von ihnen schleichen noch ab und zu in den Büros herum, lästige Besucher, die keiner mehr kennt und für die keiner Zeit hat. Gespenster ihres früheren Seins.

Ihm, Ringelnatz, würde das nie passieren, davon war er früher überzeugt gewesen. Er war dynamisch, umtriebig, und er hatte Agnes und seinen Sohn; das würde ihn in Bewegung halten bis in alle Ewigkeit, jawohl.

Bis in alle Ewigkeit.

Die Teetasse beruhigt sich allmählich. Er wird schon etwas finden, das ihn interessiert.

Noch ist Zeit genug. Und bis dahin hat er ja noch den Fall, wahrscheinlich seinen letzten.

Nach dem Gespräch mit Bilfinger ist er noch einmal zurückgegangen in die Bibliothek, heimlich, so daß ihn der Direktor nicht sieht. Er kann nicht sagen, wieso, aber es wäre ihm unangenehm gewesen, den Mann so schnell wieder zu treffen, nachdem der ihn quasi vor die Tür gesetzt hat.

Ringelnatz hat mit Wenders gesprochen, dem Sündenbock mit der dicken Brille. Dieser hat die Aussage seines Chefs im Kern bestätigt, und seine Brille ist wirklich sehr dick. Auch mit Glaus Zwanziger, dem Angestellten, der den Diebstahl bemerkt hat, hat er kurz geredet. Zwanziger, ein hochgewachsener Mann Mitte Dreißig, mit knappen, abgehackt wirkenden Bewegungen, konnte ihm zum Ablauf des Diebstahls aber auch nicht mehr erzählen, als er schon wußte.

Eine Attrappe anstelle des Buches. Zwei Dinge sind dem Detektiv an der Aussage des Bibliotheksleiters aufgefallen. Zum einen ist da die Tatsache, daß Wenders nichts, aber auch gar nichts gemerkt haben will. Immerhin, der Dieb sah nicht aus wie ein normaler Bücherfreund und Bibliotheksbesucher, hätte also schon aus diesem Grund erhöhte Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollen. Und wäre nicht auch am Papier des Einbandes oder am Gewicht der Fälschung zu erkennen gewesen, worum es sich handelte? Wenders sagt nein.

Das andere ist Zwanzigers zufällige Entdeckung der Attrappe. Der Mann kommt in den Raum, in einen Teil der Bibliothek, der nicht zu seinem Wirkungskreis gehört, und findet auf Anhieb die Attrappe aus einem Haufen Buchrücken heraus, die sich gleichen wie ein Sittich dem anderen.

»Kommt zu Papi. Kommt her.«

Er beugt sich vor, stößt leicht mit der Spitze des Zeigefingers an die dünnen goldglänzenden Stäbe des Käfigs. Die Tiere erschrecken nicht, beachten ihn kaum; einer äugt gelangweilt in seine Richtung, der andere putzt selbstvergessen sein Gefieder.

Der Inhalt des Buches muß der Schlüssel sein, nicht sein Wert. Die Bemerkung Bilfingers hat sich in ihm festgesetzt wie eine Zecke, zerrt und zappelt in seinem Verstand. Wenders hat ihn Einsicht in ein kommentiertes Verzeichnis aller Bücher der Bibliothek nehmen lassen. Die Inhaltsangabe für das »Traktätlein« war nur kurz und gab nicht viel mehr Information her als das, was der Direktor schon gesagt hatte.

Die Wellensittiche sitzen jetzt vereint am Boden des Käfigs und knabbern von zwei Seiten an einem Hirsekolben. Ringelnatz hat sie Max und Moritz getauft, wohl wissend, daß der eine ein Weibchen ist, aber zu träge, sich etwas Treffenderes auszudenken. Aber schließlich – den Tieren ist es egal, sie hören weder auf diese noch auf irgendwelche anderen Namen.

Dummes Federvieh.

Wenn er in Rente ist, wird er sich einen Hund kaufen. Hunde sind treu, intelligent, die idealen Gefährten des Menschen. Er wird mit ihm Spazierengehen, so oft es geht. Hunde brauchen Bewegung, und er, Ringelnatz, wird sie auch nötig haben, wenn er nicht mehr beruflich unterwegs ist.

Eine Aufgabe. Er klammert sich an den Gedanken: Es gibt Dinge, die er später noch tun kann. Der Hund ist nur eine Möglichkeit von vielen, die ihm noch einfallen werden. Er fühlt sich besser jetzt, gleichzeitig kehrt die Schläfrigkeit wieder, die ihn schon den ganzen Tag über plagt. Ächzend läßt er sich zurück in die Polster sinken und schließt die müden, brennenden Augen.

Man müßte genauere Informationen über den Buchinhalt haben. Die kurze Zusammenfassung aus dem Verzeichnis reicht nicht. Man müßte mit jemandem reden, der das Buch gelesen hat.

Sein Bewußtsein verschwimmt, wird unscharf, so als würde jemand mit gesunden Augen durch eine starke Brille schauen.

Er müßte die Listen der Ausleiher anfordern. Jeder, der sich ein Buch herausgeben läßt, wird in einer Liste notiert, mit Anschrift laut Personalausweis. Auch der potentielle Dieb wurde notiert, als letzter in einer Reihe von Lesern der letzen fünfzig Jahre. Wie Ringelnatz inzwischen aus den Akten der Polizei weiß, hat er sich als »Martin Wiegald« ausgewiesen. Der Name war so falsch wie die Adresse und wohl überhaupt die ganzen Papiere.

Das ist der letzte Gedanke, bevor er in einen traumlos erschöpften Schlaf fällt, in unbequemer, halb sitzender Stellung und mit offenem Munde leise schnarchend.

Du mußt die Listen haben. Die Listen werden dir den Weg zeigen.

Orpheus Stufen - Kriminalroman

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