Читать книгу Orpheus Stufen - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - Страница 13

7.

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Keine Ahnung, was das sein könnte. Es sieht aus wie ein Straßenplan. Und der Artikel . . .? Es geht um Macht oder Kraft, Forza, das ist das einzige, was ich verstehe. Aber du kennst ja mein Italienisch, frag lieber jemanden, der sich richtig damit auskennt.«

Erich Luckmann kratzt sich mit dem Fingernagel an der Wange, bringt die Haare seines dunklen Vollbarts an der Stelle so durcheinander, daß sich kleine Wirbel bilden. Dann legt er die Skizze und den Zeitungsartikel auf den Tisch.

Felix beobachtet seinen Stiefvater, der anscheinend nichts spürt von der gespannten Erwartung, die die Fundsachen in ihm selber ausgelöst haben. Jedenfalls sieht er so ruhig und beherrscht aus wie immer.

»Forza. Es ist nur ein kurzer Artikel, also scheint die Sache für die Zeitung nicht so wichtig gewesen zu sein.«

»Kann man nicht sagen. Du weißt nicht, wie damals die Zeitungen aufgebaut waren, wie lang die Artikel normalerweise im Durchschnitt waren und so weiter.«

Er hat natürlich recht, so wie er immer recht hatte, seit er ihn kennt.

Felix hat seinen richtigen Vater kaum erlebt. Wenn er an ihn denkt, dann hat er ein Bild vor Augen, das aufs Haar einer Fotografie gleicht, die seine Mutter aufbewahrt: Ein großer, blonder Mann mit blauen Augen, Mitte Dreißig, muskulös gebaut, aber schon mit einem kleinen Bauch, steht in Badehose vor einer Palmengruppe am Meer und lacht in die Kamera. Er strahlt Lebensfreude und Optimismus aus, so als wäre die Welt nur für ihn gemacht und nichts und niemand könnte ihm etwas anhaben.

Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte, bald schon, nachdem das Bild aufgenommen worden war und Felix gerade seinen zweiten Geburtstag gefeiert hatte. Man fand Siegfried Rauh tot in einem Waldstück in der Nähe der Stadt, den Körper unversehrt bis auf einen einzigen Stich ins Herz, ausgeführt mit einer dicken Nadel oder etwas Ähnlichem. Die Experten konnten nie ganz klären, was eigentlich die Tatwaffe gewesen war, waren sich aber einig darüber, daß der Mord – denn um einen solchen handelte es sich zweifelsohne – von einem Experten ausgeführt worden war. Weder Täter noch Waffe wurden übrigens jemals gefunden; nicht einmal ein mögliches Motiv wurde bekannt, denn Siegfried Rauh hatte keine bekannten Feinde, und niemand hätte Grund gehabt, ihn zu töten. Man schob die Gründe für das Verbrechen auf einen Zufall oder wahlweise auf die Vergangenheit des Mannes, in der es wohl einige Ungereimtheiten gab. Seine Frau, Felix’ Mutter, äußerte sich nie zu diesen Vermutungen und schien überhaupt nicht über die Sache reden zu wollen.

Kurze Zeit nach dem Mord meldete sich ein alter Freund des Toten bei der Familie. Die Witwe Rauh hatte ihn weder zuvor gesehen, noch von ihm gehört, aber er bot Hilfe an, mit Geld und mit Tat, und sie machte gern Gebrauch davon. Es galt, ein Vakuum zu füllen: Sie war nicht gewohnt, alleine etwas zu tun oder zu entscheiden, weder in ihrem Elternhaus noch in ihrer Ehe, und hatte sich mit der unfreiwilligen Selbständigkeit des Witwenstandes von Anfang an sehr schwer getan. Sie brauchte jemanden, der sich ihrer annahm, der sie beherrschte, und als ihr der Freund nach einiger Zeit, die ziemlich genau dem Trauerjahr entsprach, einen Heiratsantrag machte, nahm sie mit Freuden an.

Der Freund war Erich Luckmann, und Felix hat sich in den Jahren an ihn gewöhnt.

»Und die Skizze?«

Der Stiefvater zuckt die Schultern, nimmt die Brille ab, die er beim Lesen tragen muß, sonst aber immer verborgen hält.

»Wie gesagt, eine Art Lageplan. Aber wovon? Sieht ein bißchen aus wie unsere Innenstadt, hier der Bohlweg, da der Steinweg, aber es fehlen viele Straßen, und die Abmessungen und die Verhältnisse der Streckenlängen zueinander passen nicht. Siehst du das Kreuz da? Vielleicht ist da was versteckt.«

»Oder es ist eine Kirche. In Landkarten sind Kreuze immer Kirchen oder Friedhöfe.«

Eine Zeitlang schweigen sie, und Felix fragt sich, wann sich sein Vater das letzte Mal soviel Zeit für ihn genommen hat. Ihr Verhältnis ist nicht schlecht, aber auch nicht herzlich, und er hatte immer das Gefühl, daß er nicht besser von ihm behandelt wird als irgendeiner der Angestellten seines Architekturbüros: Freundlich, aber unpersönlich und ohne tiefere Anteilnahme.

»Du denkst auch, daß Großvater mir damit was sagen will?«

»Vielleicht. Wahrscheinlich sogar. Aber in welche Richtung das zielt . . . «

Er läßt den Satz unvollendet.

Sie kommen nicht weiter. Felix muß sich mehr Informationen besorgen und er braucht eine Übersetzung des Artikels. Es wäre schön, jemanden zu haben, der ihm bei seinen Überlegungen hilft, aber instinktiv weiß er, daß sein Stiefvater nicht geeignet dafür ist. Da ist immer eine Art Barriere, die ihn hindert, sich ihm völlig zu offenbaren, sich ihm restlos anzuvertrauen, und er ahnt, daß dies bei Erich Luckmann genauso ist. Sie können über vieles miteinander reden, aber nicht über alles.

Anderes Blut.

Natürlich ist das Unsinn. Dennoch – seinem Opa gegenüber hat Felix diesen Vorbehalt nie gehabt.

Sein Adoptivvater räuspert sich.

»Wie denkst du dir eigentlich die nähere Zukunft? Du hast dir doch schon Gedanken darüber gemacht?«

Ein Thema, über das Felix nicht gern redet. Es beinhaltet zu viele Dinge, von denen er weiß, daß sie ihm sehr schwerfallen werden.

Er wird sich überwinden müssen.

»Ich muß die Schule zu Ende bringen, nicht nur für die Ausbildung, sondern auch für meine . . . Erinnerungen. Und dann . . ., ich denke, ich mache was mit Informatik.«

»Willst du auf deine alte Schule zurück?«

Felix schließt die Augen, reibt sich über die heiß brennenden Lider. Die unangenehme Situation wird dadurch nicht besser.

»Ja. Ich muß das tun. Anders komme ich mit der alten Geschichte nicht klar, und die anderen wahrscheinlich auch nicht.«

Erich Luckmann nickt. Er kann sich vorstellen, wie schwer seinem Stiefsohn dieser Entschluß gefallen ist, sieht aber ebenfalls die Notwendigkeit.

»Ich spreche morgen mit der Schulleitung. Der Rektor wird, denke ich, keine Schwierigkeiten machen. Er hat die Sache immer wie einen Unglücksfall gesehen. Und er hält immer noch viel von dir. Erst vor kurzem, als ich ihn zufällig traf, sagte er mir wieder, für wie begabt er dich hält.«

Wagner. Rektor Wagner. Klein, zäh, mit ewig zerrauftem Scheitel. Jetzt, wo sie von ihm reden, kommt die Erinnerung. Der Mann ist immer schon schwer in Ordnung gewesen; einen liberaleren Menschen konnte man sich kaum vorstellen. Von ihm hat Felix aber auch keine Probleme erwartet.

Die werden eher von seinen Mitschülern kommen.

Sein Vater steht auf. Wie beinahe jeden Abend, muß er noch mal ins Geschäft. Er legt ihm ganz kurz die Hand auf die Schulter, flüchtige Geste des Beistandes, dann ist er fort und Felix wieder allein mit seinen Gedanken.

In der Jugendhaft lernt man, mit vielem fertig zu werden. Wenn man Glück hat, gilt das auch für quälende Erinnerungen. Er hat verarbeitet, wofür er bestraft worden ist, aber er rechnet nicht damit, daß dies auch für seine ehemaligen Freunde gilt. Besucht hat ihn jedenfalls keiner, die ganze Zeit nicht, und geschrieben hat auch keiner.

Die Konfrontation mit ihnen ist das einzige, wovor er sich in der Haft gefürchtet hat und immer noch fürchtet.

Er muß Zeit gewinnen und Abstand.

Aber noch ist es nicht soweit, die Schule beginnt für ihn frühestens in einem Vierteljahr, und bis dahin hat er eine Aufgabe.

Er legt die beiden Papierblätter sorgfältig vor sich hin. Die Handschrift, mit der das Datum auf den Zeitungsausschnitt gekritzelt wurde, könnte die seines Großvaters sein. Wen kann er fragen? Wer war so vertraut mit dem alten Ringel, daß er etwas über die Bedeutung des Papierschnitzels wissen kann?

Felix’ blonde Augenbrauen ziehen sich nachdenklich zusammen, berühren sich fast mit den inneren Rändern. Da war etwas, ein Name, den der Alte vor Jahren ein paarmal genannt hat. Ein Kamerad aus Kriegstagen, der in der Stadt wohnt und den er manchmal traf, ohne Gesicht, denn er selbst hat den Mann nie gesehen.

Achtstetter.

Ganz plötzlich ist der Name da, wie das Bild auf einem Fernseher, kurz nachdem man ihn eingeschaltet hat.

Achtstetter heißt der Mann. Es ist lange her, daß sein Opa den Namen genannt hat. Hoffentlich ist der Mann überhaupt noch am Leben.

Blitzschnell ist er im Untergeschoß des Hauses. Im Flur steht das kleine, Rokoko imitierende Tischchen, das er nie gemocht hat. Darauf das Telefon und in der Schublade darunter das Fernmeldeverzeichnis für Braunschweig und Umgebung, Beweis für menschliches Leben, für die Existenz des Individuums zwischen den Druckterminen des Telefonbuches. Eilig wie ein Sturmwind fegt er durch die Seiten, dann hat er ihn, es gibt nur einen:

Franz Achtstetter, Kasernenstraße 58.

Orpheus Stufen - Kriminalroman

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