Читать книгу Orpheus Stufen - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - Страница 15
9.
ОглавлениеKasemenstraße. Die Häuser sind alt – Felix schätzt sie auf Anfang des Jahrhunderts – die Steine dunkel gefärbt von den Spuren der Zeit. Die Straße ist aus Kopfsteinpflaster, holperig unter den Reifen des Fahrrades, so daß man jeden Knochen zu spüren glaubt. Bei jedem Stoß reibt sich Felix’ Uhr schmerzhaft an seinem Handgelenksknöchel.
Die Nummer 58 unterscheidet sich nicht von den anderen, sie umgebenden Häusern. Er schließt sein Rad draußen an einen Laternenpfahl. Die Tür zum Treppenhaus ist nicht abgeschlossen.
Es ist angenehm kühl hier drinnen. Durch ein paar große Fenster entlang der Treppe dringt Licht. Felix blickt nach unten, auf die dunkle Maserung der hölzernen Treppen, während er hinaufsteigt in den dritten Stock, wie es das Schild mit dem Plan der Mietparteien im Erdgeschoß demjenigen gebietet, der zu Franz Achtstetter gelangen will.
Das Haus macht einen sehr sauberen Eindruck, auffällig sauber sogar. Kein Schmutz, nicht mal Staub findet sich auf Treppe und Geländer. Das Treppenhaus sieht aus wie frisch renoviert, keine Reklamesendungen, die im Erdgeschoß aus den Briefkasten hängen, keine Fahrräder, Schuhe, Kinderwagen vor den Türen der Wohnungen. Kein Laut durchdringt die bohnerwachsgeschwängerte Luft, die Stille ist vollkommen. Ein Vorzeigehaus für Immobilienkäufer, unbewohnt und immer in perfektem Zustand, so kommt es dem jungen Mann vor.
Der dritte Stock ist wie die anderen. Das Namenschild an Achtstetters Tür ist mit der gleichen Schablone gemalt wie die an allen anderen Türen. Felix sucht vergeblich nach einer Klingel und klopft dann in angemessener Lautstärke.
Er erkennt den Besitzer der Wohnung sofort: Es ist der alte, hochgewachsene Mann, der ihm bei der Beerdigung seines Großvaters aufgefallen ist. Er trägt jetzt keinen dunklen Anzug wie vorgestern, sondern ein graues Hemd und eine graue Hose und Filzpantoffeln an den Füßen, aber Gesicht und Haltung sind unverkennbar.
Die raubvogelartigen Züge des Alten, beim Öffnen abwehrend, vielleicht auf Vertreterbesuch eingestellt, entspannen sich sofort, als er dem hellblonden jungen Mann vor seiner Tür ins Gesicht sieht, und machen einem Lächeln Platz.
»Du bist Felix. Er hat mir oft von dir erzählt.«
Er tritt beiseite. Eine knappe, einladende Handbewegung, nicht zu mißdeuten, dann schließt sich die Tür hinter dem Besucher, und Felix sieht sich neugierig um.
Die Wohnung ist von einer solchen Schmucklosigkeit, daß ihm seine eigene letzte Wohnstatt dagegen wie eine Luxuswohnung vorkommt. Es ist, als hätte sich der Bewohner ganz genau überlegt, »Was brauche ich wirklich?« und nur das, und nichts anderes, hätte er gekauft. Die wenigen Möbel sind funktionell, es gibt nichts, was auch bei großzügigster Deutung als Schmuck oder Dekoration hätte gelten können, bis auf ein paar alte Fotografien, gerahmte Zeugen der Menschen, die ihrem Besitzer etwas bedeuten mochten.
Die Stühle, auf denen sie Platz nehmen, sind nicht allzu bequem. Achtstetter sitzt sehr aufrecht, unverwandt und prüfend seinen Besucher ansehend. Er wirkt ruhig, seine Miene ist verschlossen. Keine Freundlichkeit ist in seinem Blick, aber auch keine Ablehnung. Er sitzt nur da und wartet.
Felix ist befangen. Er hat dieses Gefühl nicht mehr gehabt in den letzten Tagen, in denen er sich in Freiheit bewegen durfte. Die neue Freiheit hatte ihm das Gefühl gegeben, ihm wären keine Grenzen gesetzt. Aber der Mann vor ihm strahlt etwas aus, das man bei Menschen seines vorgerückten Alters nur selten findet und am ehesten noch mit physischer Gefahr umschrieben werden kann. Felix hat das bei einigen seiner Mitinsassen kennengelernt, eine Aura der Gewalt, ultimate Kraft, die nur sich selbst akzeptiert und mit Argumenten nicht aufzubrechen ist.
So ist es Achtstetter, der den Anfang macht. Seine Stimme ist hell wie die eines jungen Mannes.
»Seit wann bist du draußen?«
Er weiß mehr von mir als ich von ihm, denkt Felix.
»Seit ein paar Tagen.«
Der andere nickt.
»Ich habe dich bei der Beerdigung gesehen.«
Wieder ein kleine Pause.
»Was . . . führt dich zu mir?«
Der Blick des jungen Mannes ist unsicher.
»Großvater hat mir etwas hinterlassen. Etwas, mit dem ich nichts anfangen kann. Sie sind einer der wenigen Menschen, mit denen er in den letzten Jahren Kontakt hatte. Deshalb dachte ich . . . «
Achtstetters Gesicht ist immer noch unbeweglich. Als er antwortet, klingt es nicht mehr ganz so gleichgültig. Unerklärlicherweise liegt Besorgnis in seinem Tonfall.
»Wie kommst du auf mich? Wir kennen uns nicht.«
»Großvater hat vor langer Zeit in irgendeinem Zusammenhang mal ihren Namen erwähnt. Ich habe ein gutes Gedächtnis, und ihre Adresse steht im Telefonbuch.«
Die Handbewegung des alten Mannes wirkt resignierend.
»Er und ich, wir waren gute Freunde, eine Zeitlang sogar die besten. Zum Schluß aber, da . . . hatten wir uns etwas voneinander entfernt. Also, was hat Heinrich dir hinterlassen?«
Eilig öffnet Felix den Briefumschlag, in dem er seine Fundstücke verwahrt, und legt Skizze und Zeitungsartikel auf den ansonsten leeren Tisch. Dann lehnt er sich zurück, als wolle er so schnell wie möglich aus der Reichweite seines Gegenübers kommen.
Achtststetter beugt sich leicht vor, mustert die beiden Papierstücke mit kritisch zusammengezogenen Brauen. Und dann auf einmal verändert sich seine Miene, weicht auf wie eine Maske aus Pappmaché im Regen, die den Träger nicht mehr schützen kann.
Er weiß etwas. Und er hat Angst.
Die Sicherheit in den Bewegungen des Mannes ist erschüttert, er nestelt unentschlossen an den Papieren, schiebt sie auf dem Tisch hin und her, nicht aus Interesse, sondern aus Verlegenheit oder aus dem Bedürfnis heraus, Zeit gewinnen zu müssen. Noch einen Moment, dann hat er sich wieder unter Kontrolle. Für einen außenstehenden Beobachter sieht das so aus, als würde ein Computerprogramm, durch eine Unterbrechung in der Stromzufuhr abgestürzt, nach kurzer Zeit wieder anlaufen.
Aber jetzt ist er wieder voll da. Der Blick seiner hellblauen Augen liegt nachdenklich auf dem Gesicht des Jungen, das jetzt schon fast so aussieht wie das seines Großvaters vor fünfzig Jahren, noch unfertig zwar, aber schon Energie und Durchsetzungsvermögen ausstrahlend.
»Ich kann dir nicht helfen. Heinrich und ich waren zwar Freunde, aber über alles hat er nicht mit mir gesprochen.«
»Sie kannten ihn von der Armee her?«
»Von der Wehrmacht. Wir wurden zusammen eingezogen. Aber wir waren schon vorher zusammen, in der SS. Wir verstanden uns immer gut, waren wie Brüder all die Jahre. Wir hatten die gleichen Ideale und die gleichen Feinde.«
Felix' Überraschung über die Enthüllungen aus der Vergangenheit seines Großvaters hält sich in Grenzen. Er hat einiges vermutet, was den Alten anbelangt, und die SS ist einer der harmloseren Aspekte seines Vermutungsspektrums.
»War er mal in Italien? Während des Krieges oder so? Irgendwas muß der Zeitungsartikel doch bedeuten.«
»Das weiß ich nicht. Zeitweise hatten wir uns etwas aus den Augen verloren. Er ist während des Krieges viel herumgekommen, aber wo genau er war . . . «
Er bricht ab. Vielleicht weiß er wirklich nichts, aber da ist etwas Merkwürdiges in seinem Verhalten. So, als würde er etwas wissen und als würde er jetzt auf etwas Bestimmtes warten, ein Signal, eine Frage, oder ein Wort. Und wenn das Wort gefallen wäre, dann würde er reden.
Aber Felix kennt das Signal nicht.
»In dem Artikel steht was von großer Kraft oder Macht. Worauf könnte sich das beziehen?«
Sogar Achtstetters Achselzucken hat etwas Lauerndes, Wartendes.
»Das kann alles bedeuten und nichts. Am besten, du läßt den Artikel mal genau übersetzen. Und zu dem Plan kann ich dir überhaupt nichts sagen.«
Immerhin, er deutet die Skizze auch als Plan.
Zeit zu gehen. Der Besuch war Zeitverschwendung.
Felix steht auf.
»Tja, ich muß dann wieder. Hoffentlich habe ich Sie nicht zu sehr gestört.«
Achtstetter erhebt sich fast zeitgleich mit ihm. Er wirkt bestürzt, als bedauerte er es, daß sein Besucher schon gehen will.
»Dein Besuch hat mich gefreut. Irgendwie hat er mich an die alten Zeiten erinnert. Du siehst deinem Opa sehr ähnlich, so wie er früher war, mußt du wissen.«
Sie stehen sich gegenüber, Felix unentschlossen, weil er nicht weiß, wie er dem alten Mann vielleicht doch noch etwas entlocken kann. Auch der Alte wirkt unentschlossen, in seinem Gesicht ist jetzt Leben, als bewegten sich Ameisen unter der dünnen, trockenen Haut. Irgend etwas in seinem Inneren kämpft mit etwas anderem, kann es aber noch nicht besiegen.
Die Tür fällt hinter Felix ins Schloß, aber der Zustand der Unentschlossenheit bleibt ihm erhalten. Er steht noch fast eine Minute dort, wo er ist, grübelnd im Halbdunkel. Wie soll es weitergehen? Wie soll er den Rätseln auf die Spur kommen? Er hat keine Idee.
Aber dann, als er sich gerade resignierend zu den Stufen der Treppe umwenden will, hört er Achststetters jugendliche Stimme durch das Holz der Tür, klar und deutlich und nur ein wenig gedämpft.
»Ich bin nur noch Statist am Bühnenrand, Beobachter, und darf dir nicht bei deiner Aufgabe helfen. Aber du bist Heinrich Ringels Enkel, und vielleicht bist du aus seinem Holz und kannst den Weg zu Ende gehen, den er begonnen hat; nur darum will ich dir einen Hinweis geben. Du darfst mich danach nichts mehr fragen, und wenn du fortgegangen bist, darfst du nie wieder hierherkommen. Du hörst nur zu und merkst dir jedes Wort, und niemals darfst du jemandem erzählen, was ich dir sage. Hast du das verstanden?«
Felix wagt sich kaum zu rühren, als könnte die Bewegung die Situation auflösen, bevor der Mann gesprochen hat.
»Ja.«
In Achtstetters Rede schwingt Erleichterung, wie sie jemand erfährt, der sich gerade einer sehr schweren, fast unlösbaren Aufgabe entledigt hat. Aber unter der Erleichterung liegt wieder die Angst von vorhin und läßt die Stimme kaum wahrnehmbar vibrieren, obwohl ihr Besitzer alles tut, um das zu verhindern.
»Jellinek soll dir Salomon Mergentheimers Geschichte erzählen«.