Читать книгу Orpheus Stufen - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - Страница 14
8.
ОглавлениеDie Stimme ist fast zu tief für das jugendlich wirkende Gesicht und die schlacksige Gestalt.
»Na, Herr Ringelnatz, wie stehen die Ermittlungen? Schon was herausgefunden?«
Schade. Fast wäre er wieder aus der Bibliothek herausgewesen, war schon in der Nähe des Haupteinganges, da lief ihm Zwanziger über den Weg. Claus Zwanziger, der Bibliothekar, der den Diebstahl des Buches bemerkt und den er gestern dazu vernommen hat.
Routinert ein angenehme Überraschung heuchelnd, bricht der Angesprochene widerstrebend den Rückzug ab.
»Oh, hallo, wie geht es? Nein, leider gibt es noch keine Neuigkeiten, aber wir haben ja erst mit den Nachforschungen angefangen.«
Seltsam, der Plural, so als wäre ein ganzes Team von Leuten an dem Fall dran, und als hätte er zumindest die Dimension des englischen Postraubes in den sechziger Jahren.
Der andere nickt heiter.
»Ja, ja, gut Ding will Weile haben.«
Schön, wenn er es so haben will.
»So schnell schießen die Preußen nicht.«
Das kleine gesellschaftliche Lachen kommt nicht aus dem Herzen, ist aber dazu angetan, gute Stimmung zu verbreiten. Der Bibliothekar scheint empfänglich für solche Signale, jedenfalls lehnt er sich bequem an eines der umstehenden Regale; die Haltung des schlanken Körpers signalisiert Bereitschaft zu einem kleinen Plausch.
»Ich verstehe nur eines nicht. Warum mußte es ausgerechnet diese wertlose Schwarte sein? Das Buch ist nicht aufwendig gemacht, weist nichts Besonderes auf, und der Zustand ist auch nicht toll. Der Dieb hätte auf dem gleichen Weg auch viel wertvollere Werke bekommen können.«
Die alte Frage, für Ringelnatz schon geklärt. Er hat keine Lust, mit dem Mann darüber zu sprechen.
»Vielleicht war es Zufall, vielleicht hat es was mit dem Inhalt zu tun. Oder er hat im Auftrag gehandelt. Wir wissen es noch nicht.«
Ein kleine Tätowierung am Handgelenk Zwanzigers läßt ihn genauer hinschauen. Dieser bemerkt den Blick, und zieht den Arm schnell zurück, so als wäre ihm das Tattoo peinlich; aber Ringelnatz hat schon gesehen, was es ist: eine Art Symbol oder Schriftzeichen, ähnlich einer germanischen Rune.
Jedem das Seine. Der alte Detektiv kann von sich behaupten, ein wirklich toleranter Mensch zu sein – zumindest was das Aussehen anbelangt. Bilder auf der Haut des Mitmenschen stören ihn ebensowenig, wie es grüne Haare oder Sicherheitsnadeln im Ohr tun würden. Aber war da nicht kürzlich etwas mit einer Rune gewesen? Richtig, der Bibliotheksdirektor Bilfinger hatte ausgesagt, daß der potentielle Dieb eine solche eintätowiert gehabt hätte.
Plötzlich und ohne erkennbare Ursache ist die Stimmung gekippt. Zwanzigers Gemütlichkeit ist dahin, er tritt nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Tja, ich muß weiter. Hat mich gefreut, auf Wiedersehen.«
Ringelnatz hat nichts dagegen.
Kurz vor zwölf ist er wieder in seinem Büro an der Wolfenbütteler Straße. Die meisten Kollegen sind schon in der Mittagspause, sitzen bei gutem Kantinenessen in trauter Runde zusammen und ziehen über Nichtanwesende her. Bis sie zurück sind, ist die Gefahr von Belästigungen und Anfeindungen relativ gering.
Eine Stunde Zeit zum ungestörten Arbeiten. Er reinigt Stuhl und Schreibtisch notdürftig vom Staub und setzt sich.
Wieder hebt die Übelkeit langsam ihren Kopf, wie ein dicht unter der Wasseroberfläche lauerndes Ungeheuer, jederzeit bereit aufzutauchen. Diesmal ist der Anfall viel stärker als gestern: Ringelnatz’ Gesicht wird weiß wie Kreide, Schweiß bricht ihm aus. Er versucht, schneller zu atmen, immer schneller, das lindert die Beschwerden manchmal. So sitzt er eine ganze Minute an seinem Schreibtisch, mit halboffenenem Mund nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen, den Blick voll Panik auf die gegenüberliegende Wand mit dem Kalender vom letzten Jahr gerichtet, auf das Ende dieses unwürdigen Zustandes und das Abklingen des Schmerzes wartend. Dann, ganz langsam, weicht das Gefühl; zögernd zieht es sich zurück als fiele ihm die Trennung schwer.
Der Detektiv trocknet sich zitternd die Stirn mit einem Papiertaschentuch; der Mund ist ihm wie ausgedörrt. Was ist das nur? So schlimm war es noch nie.
Bevor er sich wirklich Sorgen machen kann, beruhigt er sich mit dem Gedanken an den Arzttermin, den er sich hat geben lassen. Was immer der Grund für die Beschwerden ist, der Arzt wird wissen, was man dagegen tun kann, davon ist er überzeugt. Der Arzt weiß immer Rat bei Krankheit, wie der Mechaniker beim Motorschaden und der Installateur bei einem verstopften Abfluß. Sie sind ausgebildet dafür, Rat zu wissen.
Ringelnatz gießt sich Wasser aus einer Flasche ein, die er in einem kleinen Kühlschrank hinter seinem Schreibtisch verwahrt – einziger Luxus in dem ansonsten billigst eingerichteten Büro. Kühl rinnt es seine Kehle hinunter, scheint die letzten Überbleibsel des schlechten Gefühls hinunterzuspülen, und er fühlt sich wieder in der Lage, seine Arbeit aufzunehmen.
Die Namensliste aus der Bibliothek liegt vor ihm.
Im Einwohnermeldeamt arbeitet sein Neffe, Sohn eines früh verstorbenen Bruders seiner Frau. Er mag den Mann nicht besonders, zu sehr ist sein Name mit dem von Agnes verknüpft. Trotzdem schickt er ihm jedes Jahr zum Geburtstag ein kleines Geldgeschenk. Niemals erhält er etwas von ihm zurück, niemals kommt ein Wort des Dankes. Aber ein paarmal im Jahr ruft er ihn an, wenn er Informationen braucht, die es sonst nirgends gibt. Er bekommt sie immer, ohne Zögern oder Mahnungen zur Vertraulichkeit.
Familiensinn. Er grinst.
Andreas meldet sich nach dem zweiten Läuten.
»Einwohnermeldeamt, Merkel.«
»Ich bin's, dein Onkel. Lange nichts voneinander gehört.«
Er kann sich das Gesicht des anderen in diesem Augenblick so gut vorstellen, als säße er ihm gegenüber: flächig, mit ungesund blassem Teint, die schwarzen Haare mit Haargel an den Kopf geklebt und den Blick in die Ferne gerichtet. So bedient er auch die Kunden, die zu ihm kommen: ohne sie anzusehen, durch sie hindurchblickend.
»Ja, du weißt ja. Viel Arbeit, und die Familie verlangt auch ihr Recht.«
Soviel zu den Formalitäten.
»Andreas, ich hab da ein Problem. Und ich frage mich, ob du mir nicht helfen kannst.«
Sein Neffe gähnt, er kann es durch das Telefon hören. Aber er ist bereit zu helfen.
»Gib mir die Namen, Onkel. Ich seh zu, was ich tun kann, und ruf’ dich zurück.«
Familiensinn. Braver Junge, trotz seines unvorteilhaften Äußeren.
Ringelnatz lehnt sich zurück, gießt sich noch einmal Wasser ein. Schon zehn Minuten später klingelt das Telefon.
»Also, schreib mit. Friedrich Bauer und Hermine Luellich sind schon seit Ende der Sechziger tot; er war zweiundsechzig, sie fünfundsiebzig. Keine besonderen Eintragungen. Walter Schwiermann und Klaus Mevenkamp sind vor zwei bzw. drei Monaten gestorben, im Alter von fünfundfünfzig bzw. achtunddreißig Jahren. Als Todesursache steht bei Schwiermann Unfall, bei Mevenkamp Apoplexie in der Akte, das ist wohl Schlaganfall. Dann Stefanie Klingmann. Fünfundvierzig Jahre, vor vierzehn Tagen verstorben, ebenfalls Schlaganfall. Zwei Tage später hat es Robert Schmidt erwischt, zweiundvierzig Jahre alt. Todesursache auch hier Schlaganfall. Der letzte von deiner Liste, Heinrich Ringel, ist vor ein paar Tagen dahingegangen, im schönen Alter von achtundsiebzig. Dann ein Überlebender deiner Liste: Alfred Jellinek, Kastanienallee 28, Braunschweig, geboren 1933 in Pilsen. Er hat noch eine Geschäftsadresse im Magniviertel. Und schließlich Martin Wiegald. Zu dem konnte ich nichts finden, ist hier nicht gemeldet.«
Ringelnatz hat alles mitgeschrieben. Zunächst mit Interesse, dann mit wachsender Spannung. Und schließlich, als alle Fakten auf dem Tisch liegen, in der sicheren Gewißheit, etwas gefunden zu haben. Oder sollte die Anhäufung von Todesfällen, die ihm sein Neffe eben beschrieben hat, Zufall sein?
Neun Menschen haben das Buch seit 1950 gelesen. Sieben sind tot, fünf davon sind im letzten Vierteljahr verstorben.
Und bei vieren von ihnen ist Schlaganfall die Todesursache.