Читать книгу Orpheus Stufen - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - Страница 9

3.

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Der kurze, zischende Laut, als er den Vorhang beiseite zieht, zerschneidet die Luft wie eine Schwertklinge. Licht erhellt den Raum.

Felix steht im Flur des großväterlichen Hauses. »Sieh es dir mal an«, hat sein Vater gesagt. »Der Alte wollte es so. Er hat es zufällig noch mal erwähnt, ein paar Tage vor seinem Tod. Wenn mir mal was passiert, gib Felix meinen Hausschlüssel. Er soll in meinem Arbeitszimmer nachschauen.«

Eine Vermächtnis? Wenn es eine Belohnung beinhaltet, so hat er nicht das Gefühl, sie verdient zu haben. Er war nicht da, als sein Großvater starb, trotz seiner Bitte; das wirft er sich vor. Dann aber greift die Logik und beruhigt ihn: Du wärst auch nicht hier gewesen, wenn es möglich gewesen wäre. Du wärst nicht hier gewesen, weil es zu plötzlich kam und du hättest es nicht vorhersehen können.

Er sieht sich um: Es hat sich wenig geändert. Die Möbel, die Heinrich Ringel durch die letzten vierzig Jahre seines Lebens begleitet haben, sind immer noch wie neu, sorgfältig poliert und ohne ein Stäubchen. Felix weiß, daß die Sachen eine Menge wert sind, ausgesucht schöne, antike Stücke; aber das bedeutet ihm nichts.

Kein Laut ist zu hören, und in ihm breitet sich eine vage Beklemmung aus, wie Ringe im Wasser nach einem Steinwurf. Alles hier atmet noch die Gegenwart des Alten, jedes Stück der Inneneinrichtung weist auf ihn hin. In diesem Augenblick und an diesem Ort ist der Geist Heinrich Ringels noch so gegenwärtig und lebendig wie ehemals, und sein Enkel weiß, daß es eine ganze Weile dauern wird, bis ihm dieses Haus wirklich unbewohnt erscheint.

Das Haus ist nach dem Krieg gebaut, in den Sechzigern. Sein Großvater hat auch in einer Zeit, in der Geld knapp war, auf Qualität geachtet. Die Bauweise ist solider als die der anderen Gebäude in der Straße, und die Einrichtung ist auf Ewigkeiten ausgelegt: Stein- oder Parkettböden, Kacheln und Holzvertäfelungen, wo immer es möglich war. Bestimmt hat der Bau damals eine Menge Neid erzeugt und – als Balsam für die mißgünstigen Seelen – die Gerüchte über seine Vergangenheit weiter geschürt. Felix kann sich genau vorstellen, wie der Alte damals darauf reagiert hat.

Mit Gleichgültigkeit.

Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen ist eine der hervorstechendsten Eigenschaften des alten Ringel gewesen. Er hat sie alle ignoriert und zeigte ganz selten Interesse an fremden Personen. Seine Familie, ein paar Freunde, sie waren wichtig, alle anderen schienen ihm völlig gleichgültig zu sein. Anfangs wußte Felix nicht einmal, ob das nicht auch für einige Mitglieder der Familie galt.

Einmal, Felix mochte zehn Jahre alt gewesen sein, war er ein paar Tage bei seinem Opa zu Besuch gewesen. Die Eltern waren übers Wochenende fortgefahren und wußten ihn bei dem Alten in zuverlässigen Händen. Am Morgen kam ein junger Aushilfsbriefträger. Felix, sehr vorlaut für sein Alter, fragte ihn, wo der alte Postbote, den er von früheren Besuchen her kannte, sei. Er erfuhr, daß der Mann schwerkrank im Hospital lag.

Als er dies seinem Großvater erzählte, bekam er zur Antwort: »Aber wieso denn, ich habe ihm doch vorhin ein Einschreiben unterschrieben.« Er hatte offensichtlich nicht einmal wahrgenommen, daß der Briefträger diesmal ein viel jüngerer war als sonst.

Das war die Art Gleichgültigkeit, die Felix meinte. Ringel sah die Leute seiner Umgebung selektiv; einen Teil nahm er als Personen war, als Charaktere, die meisten aber nur als Gegenstände oder Funktionen.

Er wußte lange nicht, was er darüber denken sollte. Der alte Mann lehnte die wenigen freundlichen Angebote für zwischenmenschliche Kontakte ab, auf barsche, unfreundliche Art und so, daß dem anderen ein für alle Mal die Lust verging, es nochmals zu versuchen. Gegenüber der Familie und den Freunden war er umgänglich, in unterschiedlicher Abstufung. Am oberen Ende der nach unten offenen Umgänglichkeitsskala rangierte Felix und – mit ein wenig Abstand – seine Mutter. Die Schlußlichter waren seiner Schätzung nach Tante Monika und ihr Mann.

Felix’ Charakter unterschied sich von dem des Alten, deshalb verstand er erst spät, warum sich dieser so verhielt. Wie alles in dessen Leben hatte es mit seiner Vergangenheit zu tun und war nichts als ein Schutzmechanismus. Heinrich Ringel war eine Schildkröte, die sich bei Annäherung von etwas Ungewohntem in den Panzer zurückzieht, um den weichen, verletzlichen Körper vor Verletzung durch den potentiellen Feind in Sicherheit zu bringen.

Eine alte, vorsichtige Schildkröte.

Die dicke Holztür zum Arbeitszimmer ist nur angelehnt, Felix drückt sie auf. Er tritt ins Halbdunkel, ahnt die gediegene Inneneinrichtung mehr, als daß er sie sieht. Er würde hier jedes Detail mit verbundenen Augen erkennen. Dann haben sich die Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt.

Das riesige Bücherregal. Felix hebt die Hand, ein Finger gleitet über die Rücken der alten Wälzer: deutsche Klassiker, zeitgeschichtliche Werke, dazu Schriften von Größen des Dritten Reiches. Als Kind hat er auch manchmal hier gestanden, mit fast der gleichen Neugierde, fast dem gleichen schlechten Gewissen und dem Gefühl, in verbotenes Gebiet einzudringen. Nie hat er eines der Bücher herausgezogen oder gar gewagt, eines aufzuschlagen. Es war keine Angst, es war nur das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, vergleichbar mit dem Verstoß gegen eines der Zehn Gebote, nur viel konkreter.

Felix schüttelt den Kopf. Er ist jetzt älter, gereifter, und das Gefühl, eben noch ganz nah, verschwindet wie verwehender Rauch.

Ratlos sieht er sich um. Er ist hier, um etwas zu finden, und weiß nicht, was es ist. Der Raum bietet tausendundeine Möglichkeit zum Versteck; allein die Durchsuchung der Bücher würde Stunden dauern. Unschlüssig steht er da, die Hände in den Taschen.

Durch die Latten der Fensterläden dringen feine Streifen goldenen Lichtes und malen ein Muster von geometrischer Strenge in das Zimmer; in den Sonnenstrahlen tanzen Millionen kleinster Staubpartikel und bilden eine Galaxis in ständiger Bewegung. Er folgt den hellen Linien mit dem Blick, über Wände und Boden, zum Schreibtisch, der gerade in diesem Augenblick durch den Schatten des Fensterrahmens in zwei exakte Hälften geteilt wird. Wie magnetisiert macht er einen Schritt darauf zu.

Im Schatten des Rahmens liegt ein Stapel geöffneter Briefumschläge. Er nimmt ihn in die Hand. Es sind ältere Briefe, teilweise abgegriffen und verfärbt, offenbar Schriftwechsel mit Freunden, dazu zwei Briefe seiner Großmutter, die sie ihrem Mann vor langer Zeit aus der Schweiz geschrieben hat.

Verbotenes Terrain.

Er legt den Stapel zurück und beugt sich vor, über den Schreibtisch. Sein Hand gleitet suchend unter der Kante der Arbeitsplatte an der Wandseite hin und her. Wo war es nur?

Vor Jahren hat sein Großvater ihm das Geheimnis des massiven Sekretärs offenbart: Das Geheimfach ist hinter der Schublade in der Mitte des Tisches, läßt sich aber nur herausziehen, wenn vorher ein Hebel umgelegt wird. Der Hebel ist irgendwo an der Vorderseite des Schreibtisches. Felix hat ihn zwar damals nicht sehen können, aber er erinnert sich noch gut, wo der Alte gesucht hat.

Die Oberfläche des Holzes fühlt sich warm und glatt an, keine Spur von einem Hebel. Er tastet weiter, spürt schmerzhaft die Kante des Schreibtisches an seiner Hüfte, da, wo sich sein Körper aufstützt. Irgendwo hier muß das Ding sein. Dann stößt sein Zeigefinger an einen kleinen Vorsprung.

Felix drückt mit zwei Fingern darauf und spürt, wie der Vorsprung leicht nachgibt. Irgendwo im Inneren des Möbels rastet, mit deutlich hörbarem metallischen Klicken, ein Riegel ein. Anscheinend hatte sich sein Großvater damals nicht klar ausgedrückt: Es ist eher eine Art Knopf als ein Hebel.

Er richtet sich auf, zieht die Schublade vollständig heraus. Sie enthält Papier, Stifte, Briefmarken und andere Dinge, die in einen Schreibtisch gehören. Er stellt sie schnell auf die Arbeitsplatte und kniet sich hin. Am hinteren Ende der Schienen, die die Schublade gehalten haben, befindet sich noch eine zweite, viel kürzer als die erste und aus rohen, unlackierten Brettern; er zieht auch diese heraus. Der Inhalt wird sichtbar.

Der Umschlag des Briefes ist, im Gegensatz zu denen auf dem Tisch, neu und er ist zugeklebt. Die Adresse besteht aus einem einzigen Wort.

Felix.

Orpheus Stufen - Kriminalroman

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