Читать книгу Dreizehn. Der Gletscher. Band 4 - Carl Wilckens - Страница 10

Оглавление

Erwachen

Das ist das Ende. Das Ende der Welt, so wie wir sie gekannt haben. Eine ganze Zivilisation ist am heutigen Tage erloschen. Ein Volk verschwand für immer vom Angesicht dieses Planeten. Nicht einmal die Naturgesetze sind noch die, die sie einmal waren.

Um zu verstehen, wie es zu alldem kam, ist meine ganze Geschichte von Bedeutung. Mein Name ist Norin. Geboren wurde ich in einem Fischerdorf an der Küste der Einsamkeit in Normar. Mein Vater verdiente sein Brot – wie hätte es anders sein können – als Fischer. Ich habe nicht viele Erinnerungen an ihn. Ein Sommerabend jedoch, wenige Tage nach Beltane, einem normarischen Festtag, ist mir so klar im Gedächtnis geblieben, als hätte ihn jemand synaígisch konserviert. Ich war sechs Jahre alt. Ich saß am Ende des Stegs, an dem das Boot meines Vaters vertäut war, mit zwei Schüsseln von Mutters Eintopf. Meine Beine baumelten über dem Wasser, während ich wartete. Der verführerische Duft der Mahlzeit stieg mir in die Nase, und mein Magen knurrte, doch ich fing nicht an zu essen. Nicht einmal eine Löffelspitze. Ich wartete, bis ich die knarrenden Schritte meines Vaters auf dem Bootssteg hörte. Mit einem erleichterten Seufzer ließ er sich neben mir nieder, strich mir über das blondgelockte Haar und nahm eine der Schüsseln zur Hand. Schweigend aßen wir, während die Sonne vor uns im Meer versank. Die Luft roch nach Salz und war angenehm mild für normarische Verhältnisse. Die Sonne verwandelte das Kalte Meer in einen See aus Lava. Wo am Firmament das Feuerrot einem kühlen Blau gewichen war, zeigten sich die ersten Sterne, die wie diamantene Perlen in einer nachtblauen Felswand steckten. Seevögel zogen an dem flammend roten Ball vorbei und kreischten verzückt, als genössen auch sie das Schauspiel, das die Natur ihnen bot – allabendlich und doch einzigartig. Bald schon würde der Sonnenuntergang den Nordlichtern weichen.

»Dort«, sagte mein Vater, sobald wir aufgegessen hatten, und deutete auf einen Punkt jenseits der Bucht, »beißen die Fische am besten. Sie kommen in der Nacht – fette Heringe, Dorsche, Makrelen. Máedoc hat es mir verraten.« Máedoc, der Druide, lebte in einer Hütte im Fichtenwald unweit vom Dorf. Die Dorfbewohner munkelten über ihn. Manche fürchteten ihn sogar, und trotzdem suchten sie regelmäßig Rat und Heilung bei ihm. Meine Eltern waren vielleicht die einzigen Menschen im Dorf, die ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm pflegten.

»Es ist gefährlich, so weit hinauszufahren«, fuhr mein Vater fort, »doch nur eine Nacht jenseits der Bucht und ich hätte für das nächste Rund ausgesorgt.«

Noch am selben Abend fuhr er hinaus, wurde von einem Synaígiegewitter überrascht und kehrte nie mehr zurück. Am nächsten Morgen wartete ich am Bootssteg auf meinen Vater mit einem Beutel voll Äpfeln, die ich mit ihm teilen wollte, bis die Sonne erneut hinterm Horizont versank.

Schließlich vernahm ich knarrende Schritte hinter mir, die zu leicht waren, um die meines Vaters zu sein.

»Hier steckst du«, sagte Laya, meine Mutter. »Warst du den ganzen Tag auf diesem Steg?« So unbekümmert ihre Stimme klang, so tief hatte sich die Trauer in ihren Blick gegraben. Ich antwortete nicht. Meine Mutter nahm mir den Beutel mit den Äpfeln ab und sah hinein. »Du hast nichts gegessen?«, fragte sie.

Ich hob den Blick und sprach die letzten Worte der nächsten zwei Tage. »Wann kommt Papa?« Die grünen Augen meiner Mutter glitzerten im Licht der untergehenden Sonne, und eine Träne rann wie flüssiges Feuer ihre Wange hinab. Sie ließ sich neben mir nieder und legte einen Arm um meine Schultern.

»Der Wind hat ihn verweht, mein Kind«, sagte sie leise. »Er ist jetzt weit weg in Origon und kann nicht mehr zurückkehren. Aber er wird uns nie vergessen.« Ihre Stimme war ruhig, doch ihre Worte klangen so erstickt, als müssten sie sich an den Schluchzern vorbeikämpfen, die in ihrer Kehle steckten. »Gehen wir nach Hause.«

Das Haus, in dem wir lebten, war kaum eine Hütte. Ein einziger, runder Raum mit Strohdach. Mein Vater hatte es mit seinen eigenen Händen erbaut. Ich hockte mich in meine Schlafnische und heftete den Blick auf die Tür. Irgendwann schlief ich ein, ohne einen Bissen zu Abend gegessen zu haben.

Auch am nächsten Tag aß ich kaum. Nach einer Stunde guten Zuredens gelang es meiner Mutter, mich dazu zu überreden, einen halben Apfel zu verspeisen. Als ich auch am zweiten Tag nach Vaters Verschwinden nichts zu mir nehmen wollte, brachte sie mich zu Máedoc, dem Druiden.

»Er isst nicht mehr und spricht kein Wort, seit Gabhan verschwunden ist«, sagte sie verzweifelt, kaum dass wir seine Hütte betreten hatten. Die Behausung des Druiden war nicht größer als unser Zuhause, dafür schien sie doppelt so viele Dinge zu enthalten. Ein langer Tisch beanspruchte eine der vier Wände für sich. Er war überladen mit Werkzeugen zur Verarbeitung alchemistischer Zutaten, Schalen und Glasgefäßen und merkwürdigen Apparaturen. Eine Ecke des Raumes wurde von einem Kamin beansprucht. Über glimmenden Scheiten stand ein Kessel auf drei Füßen. In einer anderen Ecke des Raumes wuchs eine Eiche durch ein Loch in der Decke. Grün gefiltertes Tageslicht zwängte sich an seinem Stamm vorbei ins Hütteninnere. Eine Leiter führte an dem Stamm empor. Die grüne Laubwolke, die die Krone des Baumes bildete, hatte von außen nicht erkennen lassen, dass es dort etwas gab. Ein Baumhaus? Vielleicht auch nicht. Vielleicht war es bloß ein Zugang zum Dach. Einige Äste mit sattgrünen Blättern tasteten sich unter der Hüttendecke entlang. Dazwischen hingen Knoblauchzöpfe und Kräuter zum Trocknen. Es roch nach Lavendel und Thymian.

»Bitte«, sagte meine Mutter. »Ich möchte ihn nicht auch noch verlieren.« Máedocs grünbraune Augen schienen aus dem Schatten seiner buschigen Brauen hervorzustechen, während er mich musterte. Sein langes, waldbraunes Haar fiel ihm bis auf die Schultern herab und ging an seinen Schläfen nahtlos in einen ebenso langen, braunen Bart über. Sein Gesicht hatte so viele Runzeln wie eine Schildkröte. Er war soeben aus dem Wald zurückgekehrt und trug noch seinen Umhang aus Bärenfell. Der Schädel des Tiers lag wie eine Kapuze auf seinem Rücken. In dem Pelz wuchsen Moos und Pilze, auf denen vereinzelt Feenwürmchen hockten. Spinnen krabbelten darin herum und verirrten sich in seinen Bart.

Máedoc wandte den Blick ab und stellte seinen knorrigen Stab in eine Ecke des Raumes. Er hatte ihn vermutlich gerade erst von einem Baum gebrochen, grünten an seinem oberen Ende doch noch drei Blätter. Die knorrigen Stränge, die sich zu dem Stab verflochten, wanden sich an einem Ende um einen kugelrunden Bernstein. Der Druide zog den Bärenpelzmantel aus und hängte ihn an die Wand. Sein Oberkörper war nackt und überraschend muskulös. Auf seiner linken Brust war eine Bärentatze über einem normarischen Knotenmuster tätowiert. Er betrachtete mich wieder, als lese er in einem Buch. Ich wich seinem Blick aus und beobachtete eine Spinne, die soeben hinter seinen Bart flüchtete.

Schließlich wandte Máedoc sich ab und trat vor die Feuerstelle. Er griff nach einem der Holzscheite, die daneben aufgeschichtet lagen, und schob ihn unter den Kessel in die Glut. Dann blies er hinein. Wenig später erwachte eine gelbe Flamme zum Leben. Niemand sagte ein Wort, während Máedoc geschäftig durch seine Hütte eilte, von überallher Zutaten zusammenklaubte und sie in den Kessel über dem Feuer warf; unter anderem eine Locke meines blonden Haares. Schließlich stieg goldener Dampf daraus hervor, begleitet von einem Duft, der mich schwindeln ließ. Er schien mir ein Leben ohne Sorgen zu versprechen. Máedoc schöpfte eine Kelle davon in ein Fläschchen und reichte es mir. Es war warm. Ohne dass er mich dazu hätte auffordern müssen, leerte ich den Trank in einem Zug. Wohlige Wärme breitete sich in meinem Innern aus und verdrängte die Trauer, die sich dort eingenistet hatte, als meine Mutter mir gesagt hatte, dass mein Vater vom Winde verweht worden sei. Die Wärme stieg mir in den Kopf und betäubte mein Denken fast so, als hätte Máedoc mir einen starken Schnaps verabreicht. Ich seufzte erleichtert.

»Hast du Hunger?«, fragte Máedoc. Als wäre das sein Stichwort gewesen, fing mein Magen an zu knurren. Ich nickte. Máedoc führte mich nach draußen zu einem flachen Felsen und bedeutete mir, mich auf einem der Steine niederzulassen, die darum herum angeordnet waren. Dann ging er in seine Hütte und kehrte mit Brot, Käse und Milch zurück. Während ich aß, hörte ich ihn und meine Mutter drinnen reden.

»Es ist gewissermaßen meine Schuld, Laya.« Máedoc klang bedrückt. »Ich war es, der Gabhan sagte, dass er nachts weiter draußen mehr Fische fangen könnte. Es ist vielleicht nur ein kleiner Trost, aber ich würde Norin als meinen Lehrling in Betracht ziehen. Wenn du einverstanden bist, behalte ich ihn die Nacht über hier und stelle ihn gleich morgen früh auf die Probe.« Die Antwort meiner Mutter drang nur unverständlich an meine Ohren, doch sie klang eindeutig überrascht.

»Es ist eine große Ehre«, bestätigte Máedoc, »doch dir muss klar sein, dass er sich auf den Pfad der Druiden begibt. Er wird ein Sonderling sein. Gefragt und doch ausgestoßen. Ich lebe nicht ohne Grund abseits von allen.« Meine Mutter schwieg kurz. Als sie schließlich sprach, stand sie im Eingang zu Máedocs Hütte. Ihre Augen ruhten auf mir und ich verstand jedes Wort.

»Wird er glücklich sein?«

»Nicht glücklicher oder unglücklicher, als er es mit jeder anderen Berufung wäre«, erwiderte Máedoc. »Aber er wird erfüllt sein.« Meine Mutter trat zur mir und strich mir über die Haare. Dann ging sie neben mir in die Hocke und fragte: »Norin, würdest du eine Nacht bei Druide Máedoc bleiben?« Ich nickte. Unter gewöhnlichen Umständen wäre ich nicht einverstanden gewesen – erst recht nicht, nachdem mein Vater verschwunden war, klammerte ich mich doch seither an den Rockzipfel meiner Mutter –, doch Máedocs Trank und mein voller Bauch machten mich müde und sorglos.

Meine Mutter küsste mich zum Abschied auf die Stirn. Máedoc führte mich in die Hütte und bedeutete mir, die Leiter am Stamm des Baumes hinaufzuklettern. Nicht einmal meine Neugier konnte meine Lebensgeister wiedererwecken. Gefolgt von dem Druiden stieg ich durch das Loch im Hüttendach ins Freie, tauchte in die Baumkrone der Eiche ein und gelangte in einen Kokon mit einem runden Fenster. Er sah aus, als hätte ihn ein riesiges Eichhörnchen gebaut. Es roch nach Moos und Laub. Eine leichte Brise ließ die Blätter rascheln und mich noch schläfriger werden, obwohl es helllichter Tag war. Die Ziegel des Schornsteins von Máedocs Hütte, der geradewegs durch den Kokon führte, strahlten behagliche Wärme ab. Ich wollte mich schon auf einem Polster aus Moos zusammenrollen, das mich nebst einer Decke neben dem Schornstein erwartete, als Máedoc mich mit einer Hand auf der Schulter zurückhielt.

»Junge«, sagte er mit ernstem Blick. »Dir mag es jetzt gut gehen. Aber die Wirkung meines Trankes wird nicht für immer anhalten. Dann musst du lernen, mit dem Verlust deines Vaters zu leben. Hast du mich verstanden?« Ich nickte unbekümmert. »Du darfst nicht noch einmal von dem Trank trinken. Hast du auch das verstanden?« Wieder nickte ich. Nichts davon wäre ein Problem, dachte ich.

»Dann ruh dich aus«, sagte Máedoc und stieg die Leiter wieder hinab in seine Hütte. Ich rollte mich in die Decke gekuschelt auf dem Polster aus Moos zusammen und ließ mich vom Flüstern der Eiche davontragen.

Als ich erwachte, war es finstere Nacht. Der Kokon war erfüllt von kühler Nachtluft, doch unter meiner Decke war es behaglich warm. Das Laub der Eiche raschelte. In regelmäßigen Abständen hallte der Ruf einer Waldeule durch die Nacht. Er klang so nahe, dass ich mich fragte, ob der Vogel womöglich in Máedocs Eiche saß. Dann glaubte ich, Schritte zu hören. Das weiche Moospolster unter den Fichten dämpfte sie, doch das Knacken des Reisigs konnte es nicht verschlucken. Jemand schlich durch die Dunkelheit um Máedocs Hütte! Das Rascheln des Eichenlaubs klang nunmehr wie eine Warnung. Ich erhob mich von meiner Schlafstelle und schlich, die Decke um meine Schultern geschlungen, zum Fenster. Vorsichtig spähte ich über den Rand nach draußen. Máedocs Hütte und die kleine Lichtung, auf der sie stand, lagen in silbernem Mondlicht. Dahinter eine Wand aus Dunkelheit, verflochten mit den Stämmen der Fichten. Je länger ich hinsah, desto lebendiger wurde sie. Die Schatten bewegten sich. Gestalten huschten von Stamm zu Stamm. Die Silhouetten von Männern, die gesichtslosen Köpfe Máedocs Hütte zugewandt, wurden sichtbar.

Das Kreischen eines Vogels zerriss die nächtliche Stille, und ich zuckte zusammen. Ich wich vom Fenster zurück und kauerte mich unter der Decke auf dem Polster aus Moos zusammen. Plötzlich zitterte ich. Wo war mein Vater? Vom Winde verweht, hallte Mutters Stimme durch meinen Kopf. Vater war fort und würde nie mehr zurückkehren. Heiße Tränen stiegen mir in die Augen. Ich wollte zu Mutter. Sofort! Ich nahm all meinen Mut zusammen und erhob mich abermals von der Schlafstätte. Kletterte die Leiter ein kurzes Stück hinab durch finstere Nacht und gelangte ins sichere Innere von Máedocs Hütte. Das Schnarchen des Druiden wog durch die Dunkelheit. Ich tastete mich zu seiner Schlafnische. Ich würde ihn wecken und bitten, mich nach Hause zu bringen. Ich streckte eine Hand aus, um das dunkle Bündel, das er bildete, an der Schulter zu rütteln, als meine Augen sich an die Finsternis von Máedocs Schlafnische gewöhnten, und ich sein Gesicht sah. Seine Augen standen offen. Einen schrecklichen Moment lang hielt ich ihn für tot.

Dann schnarchte er wieder. Ich atmete auf und nahm erstmals den Geruch wahr, der an mir vorbei zum offenen Fenster hinauszog. Er war erkaltet. Trotzdem rief er die Erinnerungen an ein sorgloses Leben wach. Es war der Trank, den Máedoc mir vor wenigen Stunden verabreicht hatte. Ich trat vor den Kessel und blickte über seinen Rand. Er war bis über die Hälfte mit jener goldgelben Flüssigkeit gefüllt! Im Dunkeln wirkte sie schwarz wie Pech. Ich blickte mich um und entdeckte auf Máedocs Tisch ein Fläschchen. Du musst lernen, mit dem Verlust deines Vaters zu leben, hörte ich die Stimme des Druiden in meinem Kopf. Mit Händen, die zitterten wie die eines Trunksüchtigen auf Entzug, nahm ich das Fläschchen und kehrte damit zum Kessel zurück. Die Kelle hing noch über dem Rand. Ich nahm sie und schöpfte ein wenig von dem Trank ab. Du darfst nicht noch einmal von dem Trank trinken. Hast du das verstanden? Máedocs Schnarchen wogte mahnend durch den Raum. Irgendwie gelang es mir, das Fläschchen zu füllen, ohne viel zu verschütten. Ich setzte es an die Lippen und verharrte. Ich war drauf und dran, Máedocs Rat zu ignorieren. Meine Augen brannten. Eine Träne lief mir aus dem Augenwinkel die Nase hinab, kam zitternd an meiner Nasenspitze zum Halt und fiel in den Trank. Ich schüttete den Inhalt des Fläschchens zurück in Máedocs Kessel und stellte es wieder auf den Tisch. Entschlossen, den Rest der Nacht im Kokon in Máedocs Eiche zu verbringen, und wenn ich kein Auge zutäte und den furchteinflößenden Geräuschen der Nacht lauschen müsste – das Andenken meines Vaters in Ehren! – trat ich vor die Leiter am Stamm des Baumes.

»Norin.« Ich zuckte zusammen. Ich hatte nicht bemerkt, dass Máedoc aufgehört hatte zu schnarchen. »Was hast du hier zu suchen?« Ich wandte mich um und blickte in sein in Schatten gehülltes Gesicht. Ich öffnete den Mund, eine Ausrede auf der Zunge, als ich bemerkte, dass ich im Begriff war, zum ersten Mal seit dem Verschwinden meines Vaters zu sprechen. Die Worte blieben mir im Hals stecken. Máedoc trat vor, und das silberne Licht des Mondes beleuchtete sein Gesicht. Seine grünbraunen Augen durchbohrten mich. Sein Blick verlangte die Wahrheit.

Ich schluckte. »Ich wollte Euren Trank trinken«, murmelte ich und sah auf meine Fußspitzen.

»Hast du?«, fragte Máedoc mit ernster Stimme. Ich schüttelte den Kopf und blickte auf. »Dann geh wieder schlafen. Morgen unterhalten wir uns.«

Den Rest der Nacht lag ich wach und starrte an die Decke des Kokons. Ich hatte es vermasselt! Máedoc hatte gesagt, dass er mich am Morgen auf die Probe stellen wollte. Doch bevor es überhaupt dazu hätte kommen können, hatte ich dem Druiden einen Grund geliefert, mich fortzuschicken.

Beim ersten Tageslicht stieg ich wieder in Máedocs Hütte hinab. Der Druide war schon auf. Er stand vor seinem Kessel, schöpfte ein wenig von dessen Inhalt mit der Kelle und ließ ihn zurückplätschern.

»Guten Morgen, Norin«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Hast du Hunger?«

»Nein«, sagte ich mit dünner Stimme.

»Ich habe mich gestern mit deiner Mutter unterhalten, wie du vielleicht mitbekommen hast«, sagte Máedoc, hing die Kelle über den Rand seines Kessels und wandte sich um. »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, dich als meinen Lehrling anzunehmen, und wollte dich heute auf die Probe stellen.« Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde ernst. »Nach dem, was heute Nacht passiert ist, wird das nicht mehr nötig sein.« Ich ließ den Kopf hängen. »Wir Druiden verbreiten die Lehre der Alchemie«, fuhr Máedoc fort. »Die einzige annehmbare Form der Magie. Der Trank, den ich dir gestern gab, war nur eines von unzähligen Rausch- und Suchtmitteln, mit denen Alchemisten zu tun haben. Ich kann niemanden als meinen Lehrling aufnehmen, der solchen Mitteln nicht widerstehen kann.« Mein Unterkiefer zitterte. »Den Ahnen von Normar sei Dank hast du widerstanden.« Ich hob den Blick, und erst jetzt sah ich, dass Máedoc lächelte. Seine braungrünen Augen blitzten. »Es ist nur verständlich, dass du nach dem Verlust deines Vaters noch einmal von meinem Trank kosten wolltest. Dass du es nicht getan hast, zeugt von großer Willenskraft. Zieh dich an, Novize Norin. Es ist Zeit für deine erste Lektion.«

Wenig später verließen wir Máedocs Hütte und traten zwischen die Fichten. Es roch nach Kiefernharz. Dichte Nebelschleier hatten sich zwischen den Stämmen verfangen. Der Atem stand mir in weißen Wolken vorm Mund und mir klapperten die Zähne. In Normar gab es nur selten milde Nächte. Manchmal schneite es sogar im Sommer. Máedoc schien die Kälte nicht zu spüren. Er hatte sich den Bärenfellumhang umgelegt, trug aber ansonsten nur eine Hose. Seine Füße waren nackt und auch die Arme schutzlos der kühlen Morgenluft ausgesetzt.

Unweigerlich musste ich an die Geschichte denken, die man sich im Dorf über den Wald erzählte. Gerüchte über ein Ungetüm von einem Bären, der auf den Geschmack von Blut gekommen war. Man erzählte sich, ein Enerphag habe versucht, sich in seinen Kopf zu schleichen, woraufhin der Verstand des Tieres einen Riegel vorgeschoben und den Enerphagen sozusagen zwischen Tür und Angel eingeklemmt habe. Der Geist saß in der Falle, das Tier wurde wahnsinnig. Man hatte ihm sogar einen Namen gegeben: Maturnus. Wann immer ein Tier aus einem Stall verschwand, und sei es bloß ein Huhn, das von einem Marder gerissen worden war, hieß es, Maturnus sei in der Nacht gekommen.

»Es existieren drei kosmische Elemente«, erklärte Máedoc, während wir gingen, und lenkte mich von meinen düsteren Gedanken ab. »Zum ersten gibt es die Synaígie. Sie ist eine einzigartige Form der Energie. Sie ist das Bewusstsein der materiellen Welt und trägt den Namen Idun. Das Synaígiegewitter, das deinen Vater überraschte, war nichts weiter als ein Gedanke von ihr. Sie kann nicht ohne unsere Hilfe gezielt in der materiellen Welt agieren. Obgleich alles, was existiert, zu ihr gehört, hat sie keine Kontrolle darüber.« Máedoc blieb stehen und blickte zu mir zurück. »Verstehst du mich, Norin?« Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war. Mein Lehrmeister sah es mir an. Er ging auf die Knie, sodass er mit mir auf Augenhöhe war, und legte mir eine Hand auf die Schulter. Sie war so warm, als wäre er soeben einem heißen Bad entstiegen. »Weißt du, wie dein Inneres aussieht?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Hast du Aberlin mal dabei zugesehen, wie er ein Schwein schlachtet? Oder hast du gesehen, wie dein Vater einen Fisch ausweidet? Solche Organe, die sie herausnehmen, gibt es auch in deinem Inneren. Dein Herz zum Beispiel! Du weißt, dass du ein Herz hast?« Ich nickte. »Es ist Teil deines Körpers, aber du hast keine Kontrolle darüber. Du kannst ihm nicht befehlen, mit dem Schlagen aufzuhören.« Máedoc erhob sich, und wir setzten unseren Weg fort. »Genauso verhält es sich mit der Synaígie. Die materielle Welt ist ihr Körper, aber sie hat keine Kontrolle.« Wir gelangten an einen Steilhang und machten uns an den Anstieg. Schon nach kurzer Zeit atmete ich schwer. Zumindest wurde mir jetzt wärmer. Irgendwo im Nebel krächzte eine Krähe. »Das Wort Synaígie setzt sich aus Synergie und Energie zusammen, weil sie nur mit unserer Zusammenarbeit aktiv werden kann. Wir können durch die Runen mit ihr kommunizieren. Können ihr Befehle erteilen, wenn wir die Runenmathematik beherrschen. Aber machst du auch nur einen Fehler, gehörst du ihr. Dann ist der Norin, den wir kennen, tot.« Wir erreichten das Ende des Steilhangs und traten auf eine Lichtung. Dort, am höchsten Punkt des Hügels, stand ein Steinkreis. Fast schien es, als hielten die Bäume respektvoll Abstand zu ihm. Dahinter endete die Welt abrupt an einer Klippe, an der sich die Wellen des Kalten Meeres brachen. Als wir uns dem Steinkreis näherten, trat eine Gestalt hinter einem der sieben Megalithen hervor: eine Frau in einem weißen Kleid. Ihr goldenes Haar leuchtete im Licht der aufgehenden Sonne. Sie winkte, legte die Hände an den Mund und rief: »Könnt ihr mir helfen?« Schon wollte ich zu ihr laufen, als Máedoc eine Hand auf meine Schulter legte.

»Sie ist nicht das, was sie zu sein scheint«, sagte er. Seine Worte klangen überraschend kühl. »Bleib an meiner Seite, Norin. Du wirst gleich verstehen.« Wir gingen weiter, bis wir nur noch wenige Schritte vom Steinkreis entfernt waren.

»Bitte«, sagte die Frau. »Ich brauche eure Hilfe!« Máedoc ignorierte sie.

»Siehst du die Runen, die dort in die Megalithen gemeißelt sind?«, fragte er mich. Nur mit Mühe konnte ich die Augen vom Antlitz der Frau lösen. Ich folgte Máedocs Blick und bemerkte, dass die Megalithen über und über mit Schriftzeichen bedeckt waren. »Es sind die gleichen Schriftzeichen, die wir für unsere Texte verwenden. Nur hat hier jemand vor langer Zeit versucht, sie zu runenmathematischen Formeln zusammenzusetzen, um mit der Synaígie zu kommunizieren. Sie werden daher auch synaígische Runen genannt. Vor langer Zeit hat hier also jemand versucht, einen Zauber zu wirken. Ich weiß nicht, was sie eigentlich vorhatten, aber das ist, was dabei rausgekommen ist.« Er nickte zu der Frau, die uns abwechselnd ansah.

»Hilfe!«, wiederholte sie und klang dabei auf herzzerreißende Art verzweifelt.

»Guten Morgen«, sagte Máedoc zu ihr. »Wie können wir helfen?«

»Bitte«, sagte die Frau und trat an den inneren Rand des Steinkreises. Es sah so aus, als verhindere eine unsichtbare Barriere, dass sie ihn verließ. »Ich brauche dringend Hilfe!«

»Wie ist dein Name?«

»Bitte helft mir!«

»Woher kommst du?«

»Könnt ihr mir helfen?«

Máedoc sah zu mir. »Ich vermute, sie war diejenige, die sich hier an der Runenmathematik versucht hat«, sagte er. »Vielleicht auch nur eine von einer ganzen Gruppe von Menschen. Offenbar ist ihre Formel fehlerhaft, und nun ist sie Teil von Idun.«

»Hilfe!«

»Iduns Macht beschränkt sich auf den Runenkreis«, fuhr Máedoc fort. »Wie du vielleicht gemerkt hast, ist es Idun nicht möglich, sich mit uns durch sie zu unterhalten. Diese Frau ist vielmehr darauf programmiert, hier zu stehen und um Hilfe zu rufen. Vielleicht gibt es den Menschen noch, der sie einst gewesen ist.«

»Können wir sie nicht befreien?«, fragte ich.

»Leider nein«, antwortete Máedoc mit trauriger Miene. »Wenn wir uns ihr nähern, wird sie uns packen und in den Steinkreis ziehen. Und dann werden wir selbst Iduns Sklaven sein. Ich wache schon seit Jahren über diesen Ort. Diese Frau dort wird nicht älter und ihr Kleid wird nie schmutzig. Ihr Haar sieht stets aus, als hätte sie es eben erst mit erlesenen Seifen gewaschen. Die Zeit fügt ihrer Schönheit kein Leid zu.«

»Wer hat die Megalithen hierhergebracht?«, fragte ich.

»Niemand«, sagte Máedoc. »Orte wie diesen gibt es viele auf der Welt. Sie stehen auf den Ley-Linien, den synaígischen Kraftlinien unseres Planeten. Es sind Stätten, an denen sich Iduns Substanz konzentriert.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter und zwang mich mit sanfter Gewalt, mich abzuwenden.

Dreizehn. Der Gletscher. Band 4

Подняться наверх