Читать книгу Dreizehn. Der Gletscher. Band 4 - Carl Wilckens - Страница 14

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Erwachen

Als ich erwachte, befand ich mich in einer Finsternis so absolut, dass ich mich fragte, ob ich blind geworden war. Mein Kopf schmerzte und mir war schlecht. Ein anhaltendes Summen und Rauschen füllte meine Ohren. Ich versuchte mich aufzurichten, doch die Welt fing an sich zu drehen, der Boden wankte und mein Magen krampfte sich zusammen. Wo war ich? Die Erinnerung kehrte nur zögerlich zu mir zurück. Ich war in die Kiste der Numiumer geklettert … und dann? Ich wusste es nicht mehr. War ich immer noch dort drin? Wieso sah ich dann kein Sonnenlicht durch die Ritzen der Kiste schimmern? Vielleicht war schon die Nacht hereingebrochen. Wenn ich doch nur etwas sehen könnte! Dann erinnerte ich mich, wie Máedoc meinen Stab zum Leuchten gebracht hatte. Ich hatte es seither dutzende Male wiederholt, doch nun fiel es mir schwer, mich an das Wort zu erinnern. Was war nur los mit mir? Hatte ich einen Schlag auf den Schädel bekommen? Ich tastete über meinen Kopf und fand die Antwort auf wenigstens eine meiner Fragen: eine faustgroße Beule. Jetzt erinnerte ich mich! Der Kistendeckel war mir auf den Kopf gekracht. Ich stöhnte und wagte einen zweiten Versuch, mich aufzusetzen. Die Welt drehte sich nicht länger, doch das Gefühl, dass der Boden wankte, blieb. Hoffentlich hatte ich keinen bleibenden Schaden erhalten. Konnte ein Schlag auf den Kopf blind machen?

Ich streckte die Hände aus, bis ich mit den Fingerspitzen den Kistendeckel berührte, und drückte dagegen. Er rührte sich nicht. Dafür erinnerte ich mich plötzlich an das Wort, das meinen Stab leuchten ließ. Ich tastete durch die Dunkelheit, bis ich ihn gefunden hatte, strich mit der Hand über den Bernstein und sprach: »Latha.« Goldenes Licht füllte das Innere der Kiste. Ich atmete auf, doch meine Erleichterung war von kurzer Dauer. Ich war nicht blind, doch scheinbar in dieser Kiste gefangen. Ich kroch zu einem Spalt in der Wand und hielt meinen Stab davor. Das Licht fiel auf eine weitere Kistenwand, die vor meiner stand. Meine Kehle schnürte sich zusammen. Ich glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Ich legte den Stab beiseite, stand auf und stemmte mich so fest ich konnte mit den Schultern gegen den Deckel. Er rührte sich nicht. Ein Bild nahm in meinem Kopf Gestalt an: Ich steckte in einer Kiste, eingepfercht zwischen weiteren Kisten. Der Schweiß brach mir aus und ich fing an zu hyperventilieren. Ich schrie um Hilfe, doch meine Stimme vermochte kaum das allgegenwärtige Rauschen und Summen zu übertönen. Und dann begriff ich. Ein ähnliches Geräusch hatte ich schon einmal gehört, als die Numiumer den reparierten synaígischen Antrieb ausprobiert hatten. Ich steckte im Rumpf ihres Schiffes auf dem Weg ins Nirgendwo! Panisch trommelte ich mit den Fäusten gegen die Kistenwand. Ich schrie und heulte, trat mit den Füßen gegen das Holz, tat, was immer möglich war, um auf mich aufmerksam zu machen, bis die Erschöpfung mich übermannte. Schwer atmend lag ich da und ließ zu, dass die Verzweiflung sich in meinen Verstand fraß. Meine Mutter. Meine arme Mutter, die schon den Verlust ihres Mannes hatte verkraften müssen, fragte sich vermutlich längst, wo ich war. Suchte nach mir, schrie meinen Namen, weinte. Ich musste einen Weg finden, um zu ihr zurückzukehren!

Mein Blick fiel auf einen weiteren Holzspalt in der Kiste. Eine der Latten war gesplittert! Vielleicht, während ich um mich getreten hatte. Ich nahm meinen Stab zur Hand und näherte mich dem Spalt. Das Licht fiel dahinter vor keine Wand, sondern erhellte einen Gang zwischen zwei weiteren mannshohen Kisten – schmal und doch breit genug, dass ich mich hindurchzwängen könnte. Ich legte den Stab aus der Hand, fasste durch den Spalt und zog an der gesplitterten Holzlatte. Sie rührte sich nicht. Ich lehnte mich zurück und trat dagegen. Beim dritten Mal knackte es. Wieder versuchte ich, den Spalt mit den Händen zu erweitern, und jetzt ließ sich die Leiste herausbrechen. Nach einer Weile war das Loch groß genug, dass ich hindurchschlüpfen konnte. Seitlich und mit eingezogenem Bauch bewegte ich mich durch den Gang zwischen den beiden Kisten hindurch und gelangte in einen Freiraum: eine Sackgasse, abgedeckt durch eine weitere Kiste und zu allen Seiten begrenzt durch Kistenwände, aber immerhin hoch genug, dass sie mir ein wenig von meiner Raumangst nahm. Was nun? Mir blieb nur, mich durch die Kisten hindurch vorzuarbeiten. Aber in welche Richtung? Nach oben würde mich irgendwann sicher unter die Decke des Schiffrumpfes führen. Dort musste es irgendwo eine Luke an Deck geben. Aber allein die Vorstellung, dass ich den Boden der Kiste zerstörte, die den Freiraum abdeckte, und ihr Inhalt mich unter sich begrub, ließ mich erneut hyperventilieren. Also durch eine der Seitenwände.

Ich kehrte zurück, woher ich gekommen war, und fing an, die Schachteln nach brauchbarem Werkzeug zu durchsuchen. Die erste, die ich öffnete, war bis zum Rand mit bronzenen Broschen gefüllt. Die zweite beinhaltete Wollstrümpfe, die dritte schmucklose Tonbecher. Schließlich fand ich in einer länglichen Schachtel ein gutes Dutzend Schüreisen. Ich nahm eines heraus, kehrte damit in den Hohlraum zurück und fing an, die erstbeste Kiste zu meiner Linken zu bearbeiten. Das Holz war robuster, als ich erwartet hatte, zumal ich mit dem langen Schüreisen in dem beengten Raum nicht richtig ausholen konnte. Stunden später, so schien es, gelang es mir, einen Teil der Kistenwand herauszubrechen, indem ich mein Werkzeug in einen mühsam erzeugten Spalt zwängte und mit aller Kraft dagegen drückte. Schon zehrten Hunger und Durst an meinen Kräften. Wie viele Kistenwände würde ich durchbrechen müssen, ehe ich an den Rand des Stapels gelangte? Ich wusste ja nicht einmal, ob ich mich in die richtige Richtung vorarbeitete. Ich kämpfte die Tränen nieder und erweiterte das Loch, das ich geschaffen hatte. Zumindest ging es jetzt schneller voran. Sobald die Öffnung groß genug war, begann ich, die Schachteln daraus hervorzuziehen und in dem Hohlraum zu stapeln darauf bedacht, mir den Rückweg nicht zu verbauen. Ich öffnete jede Schachtel in der Hoffnung etwas Nützliches zu finden, und ergänzte mein Werkzeug um ein Jagdmesser. Eine weitere Ewigkeit verging, bis ich einen Gang durch das Innere der Kiste geschaffen und auch die Rückwand durchbrochen hatte. Mit vor Erschöpfung schweren Armen machte ich mich daran, die Wand der nächsten Kiste zu bearbeiten. Der Schweiß rann mir in Strömen über den Rücken. Noch immer plagten mich Kopfschmerzen und Schwindel. Mir war warm, die Luft stickig. Meine Zunge fühlte sich an wie ein mumifiziertes, pelziges Etwas, das in meiner Mundhöhle lag. Ich brauchte dringend Wasser! Irgendwie gelang es mir, auch in die nächste Kistenwand ein Loch zu schlagen. Ich sparte mir, in die Spanschachteln zu blicken. Ich würde ja doch nichts Nützlicheres finden als das Werkzeug, das ich bereits hatte, und es kostete mich genug Zeit und Kraft, die Waren in den rückwärtigen Teil des Ganges zu schleppen. Bei der nächsten Kistenwand angelangt konnte ich nicht mehr. Müdigkeit, Hunger und Durst ließen das Gewicht des Schüreisens und des Jagdmessers, ja sogar das meiner eigenen Arme um ein Zehnfaches schwerer wiegen. Erschöpft rollte ich mich auf dem Boden zusammen, und obwohl meine trockene Kehle lautstark und beharrlich nach Wasser verlangte, fielen mir die Augen zu, und ich schlief ein. In meinen Träumen entdeckte ich einen weiteren Gang zwischen den Kisten, durch den ein Licht schien; nicht gelb und dämmrig wie das meines Stabes, sondern helles weißes Tageslicht. Ich quetschte mich durch den Spalt. Musste die Augen zukneifen, so hell schien es. Als ich hineintrat, erwachte ich, noch bevor sich meine Augen daran gewöhnt hatten. Mein Mund fühlte sich an, als wäre er eine von Rissen durchzogene Wüstenlandschaft. Ich musste Wasser lassen und zog mich dafür so weit in den Gang zurück, wie nur möglich. Erst danach kam mir der Gedanke, dass es vielleicht klüger gewesen wäre, den Urin aufzufangen. Ich setzte meine Bemühungen fort, einen Gang durch die Kisten zu graben, legte das Werkzeug jedoch schon nach kurzer Zeit nieder. Ich sank auf die Knie, zu erschöpft, um zu weinen. Ich legte mich auf den Bauch und starrte an die Wand aus Schachteln, die den Gang säumte, den ich geschaffen hatte. So würde es enden. Sie würden meine vertrocknete und vermutlich rattenzerfressene Leiche wohl erst in einigen Runden finden. Würden den Gang sehen, den ich gegraben hatte, und mein Schicksal bemitleiden.

Mein Blick fiel auf etwas Glänzendes, das durch den Spalt zwischen Deckel und Rand einer Schachtel schimmerte. Ich richtete mich auf. Die Schachtel ließ sich ohne Weiteres hervorholen wie ein loser Stein aus einer Mauer. Aus ihrem Innern drang ein leises Klirren wie von Gläsern, die aneinanderstießen. Ich öffnete sie, und mein Blick fiel auf sechs bauchige Einmachgläser, in denen gelbe Pfirsiche schwammen. Mein Herz schlug schneller, hoffnungsvoll, als versuche es, mir aus der Brust zu springen und in dem Pfirsichsaft zu baden. Ich nahm eines der Gläser heraus und klappte den Bügelverschluss um, setzte das Glas an die aufgeplatzten Lippen und trank. Der kühle, süße Saft rann meine Kehle hinunter wie flüssige, lebensspendende Energie und strömte in mein Inneres. Ich ließ mir nicht die Zeit zum Luftholen zwischen den Schlucken und setzte das Glas erst ab, als meine Lungen anfingen zu protestieren. Anschließend fischte ich einen der Pfirsiche heraus und stopfte ihn mir in den Mund. Innerhalb von kürzester Zeit hatte ich das Glas geleert. Erst dann machte ich mich daran, weitere Schachteln zu durchsuchen. Ich fand mehr Gläser gefüllt mit eingemachten Preiselbeeren, Äpfeln und Quitten, in Essig eingelegte Gurken und Pakete voller Zwieback und Dörrfleisch. Ich hatte mich geradewegs durch eine Kiste mit haltbaren Vorräten gegraben und wäre beinahe neben Schachteln voller trinkbarer Flüssigkeit verdurstet. Wer meine sterblichen Überreste gefunden hätte, hätte mich nicht bemitleidet. Er hätte mich ausgelacht.

Indem ich aß, fütterte ich auch meine Hoffnung. Mit frischer Kraft machte ich mich ans Werk, durchbrach die Wand der nächsten Kiste und erweiterte meinen Gang um zusätzliche eineinhalb Meter. Als ich auch durch die nächste Rückwand eine Öffnung geschlagen hatte, fand ich mich in einem weiteren Freiraum wieder. Ich genehmigte mir eine Pause, aß und trank und schöpfte Atem.

Bald verlor ich jegliches Zeitgefühl. Meine Muskeln wurden mit jeder Kiste, die ich durchbohrte, lahmer und ich kam immer langsamer voran.

Nach einigen weiteren Stunden unruhigen Schlafs musste ich feststellen, dass das Licht meines Bernsteins schwächer geworden war. Mir war nicht klar gewesen, dass es endlich war. Dennoch schalt ich mich für meine Dummheit, ihn nicht wenigstens gelöscht zu haben, während ich geschlafen hatte. Im schwindenden Licht des Steins arbeitete ich weiter, löschte ihn beim Essen oder wenn ich eine Pause einlegte, um Atem zu schöpfen. Während ich die Rückwand der gefühlt zwanzigsten Kiste bearbeitete, bemerkte ich wieder einmal einen Hohlraum dahinter, größer als die beiden bisherigen. Stumm flehte ich, dass sich dort ein Weg nach oben befände. Ich erweiterte das Loch und schlüpfte hindurch, kaum dass es groß genug war. Im schummrigen Licht des Bernsteins sah ich, dass ich den Rand des Frachtraums erreicht hatte. Vor mir begrenzte eine Wand aus massivem Eichenholz den Hohlraum, hinter mir eine Mauer aus Kisten. Eine Luke oder gar sowas wie eine Leiter war nirgends zu sehen. Ich schluckte schwer und wandte mich nach rechts. Vielleicht konnte ich mich seitlich zwischen der Wand des Frachtraums und dem Fort aus Kisten vorbeiquetschen …

Ich erkannte auf den ersten Blick, dass der Spalt zu klein war. Mit aller Kraft zog ich an der schweren Fracht, doch sie rührte sich keinen Millimeter. Auch bei dem Spalt unter der Decke war an ein Durchkommen nicht zu denken. Gerade als ich glaubte, dass es schlimmer nicht kommen konnte, verlosch mein Bernstein und kleidete mich in Finsternis.

Wie oft hatte ich mir vorgestellt, dass es so kommen würde? Dass ich mich durch die Kisten arbeitete, Stunde um Stunde, Tag für Tag, nur um irgendwann festzustellen, dass ich die falsche Richtung eingeschlagen hatte? Ich hatte mir ausgemalt, wie ich schreien und heulen und mit den Fäusten gegen die Kisten trommeln würde. Manchmal hatten allein bei der Vorstellung meine Augen gebrannt, und ich hatte mich zwingen müssen, an etwas anderes zu denken.

Nun jedoch, wo es tatsächlich so gekommen war, tat ich nichts dergleichen. Ich fühlte keine Wut, keine Verzweiflung und fragte mich auch nicht, womit ich das verdient hatte. Ich war nur müde. Der Frachtraum hatte mich besiegt. Selbst wenn ich anfing, mich in die andere Richtung zu graben, und tatsächlich irgendwann einen Weg hinausfände, wäre ich bis dahin doch längst unzählige Meilen von meiner Heimat entfernt. Ich dachte an meine Mutter, und erst jetzt war mir zum Weinen zumute. Ich stellte mir vor, wie ihre Angst um mich und die Ungewissheit, ob ich noch lebte, sie auf Schritt und Tritt begleiteten wie Folklore, die sich in ihrem Herzen eingenistet hatten. Ich sank auf die Knie und obwohl ich mich hier, in einem Schiff aus totem Holz angetrieben von einer gottlosen Technologie, nie weniger verbunden zur Natur und dem Glauben der Normaren gefühlt hatte, fing ich an, zu meinen Ahnen zu beten. Ich flehte sie an, mir zu helfen, nicht um meinetwillen, sondern um den meiner Mutter. Doch sollte jemand meine Gebete erhört haben, dann konnte oder wollte derjenige nicht helfen.

Ich schleppte mich zurück in den Gang, den ich geschaffen hatte, und rollte mich auf dem Boden zusammen. Ich kann unmöglich sagen, wie viel Zeit ich in der absoluten Finsternis des Lagerraums verbrachte. Vielleicht mehrere Runde, vielleicht auch nur ein paar Tage. Ich schlief viel, wenn auch unruhig. Ratten suchten mich heim, angelockt von den Resten meiner Vorräte, vom Geruch meiner Exkremente und meines ungewaschenen Leibes. Zwei Mal versuchte ich, das Licht im Bernstein meines Stabs wiederzubeleben: das erste Mal wenige Stunden, nachdem er verloschen war – er erwachte matt leuchtend, nur um gleich darauf wieder zu verlöschen – das zweite Mal einige Tage später, wobei ich nicht sagen kann, wie viele genau. Sein Licht war heller als beim ersten Versuch, und ich schätzte, dass es etwa eine Stunde lang währen würde. Im mattgoldenen Schein betrachtete ich das Durcheinander aus leeren Einmachgläsern und geöffneten Schachteln. Der Anblick befreite ein wütendes Etwas in meiner Brust. Ich warf den Stab beiseite, packte den Schürhaken und kehrte damit in den ersten Freiraum zurück. Zwischen Türmen aus Schachteln stehend stieß ich wieder und wieder mit dem Eisen gegen die Unterseite der Kiste über mir. Das Holz splitterte. Knackte. Schließlich gab es unter dem Gewicht der in der Kiste befindlichen Waren nach. Ich floh in den Gang und entkam somit knapp der Lawine aus Schachteln, die in den Freiraum donnerte.

Danach wurde es still. Zu still. Es dauerte einige Sekunden, ehe ich begriff, dass das Rauschen und Summen des synaígischen Antriebs verstummt war. War er wieder kaputt? Oder war das Schiff in einen Hafen eingelaufen?

Nun, da der Antrieb nicht mehr lärmte, vernahm ich Stimmen von draußen. Worte in einer fremden Sprache. Ich hörte Gepolter, ganz in der Nähe! Reglos wie ein Tier, das Gefahr witterte, wartete ich. Ein wiederkehrendes, mechanisches Summen erklang, das mit jedem Mal lauter wurde. Dann wurde die Kiste neben der, in deren Boden ich ein Loch geschlagen hatte, angehoben. Grelles Tageslicht fiel in mein Versteck und mein Herz fing an zu hüpfen. Tränen, die nicht nur daher rührten, dass das Licht in meinen Augen brannte, strömten über meine Wangen. Mein Atem ging schneller und ich kämpfte darum, zu begreifen, dass die Qualen ein Ende hatten. Ich formte die Hände zu einem Trichter – wollte um Hilfe rufen –, da besann ich mich eines Besseren. Ich hatte die Kisten und Waren der Numiumer stark beschädigt. Vermutlich würden sie mich massakrieren, wenn sie sahen, was ich angestellt hatte.

Ich sammelte den Stab ein und löschte ihn, kletterte die Schachteln empor, die wie Geröll von einem Erdrutsch in dem Gang lagen, und zog mich durch das Loch ins Innere der Kiste. Wenig später ertönte wieder jenes mechanische Summen. Etwas schlug gegen die Außenwand. Dann spürte ich, wie sie emporgehoben wurde. Das Licht, das durch das Loch im Boden schien, wurde immer greller. Trotzdem sah ich durch zusammengekniffene Augen das Fort aus Kisten nun von oben durch die geöffnete Luke im Deck des Schiffes der Numiumer. Ich schloss die Augen und musste mich zusammenreißen, um nicht frustriert zu heulen. Hätte ich mich in die genau entgegengesetzte Richtung vorgearbeitet, wäre ich schon nach der ersten Kiste an eine Treppe gelangt, die ans Deck des Schiffes führte. Ich spielte mit der Idee, durch das Loch in der Kiste zu springen, um auf dem Deck des Schiffes zerschmettert zu werden.

Ein wütender Ruf vertrieb diesen Gedanken, und ich öffnete die Augen. Durch das blendend helle Licht des Tages sah ich eine Gruppe von Männern, die sich um die kleiner werdende Luke versammelt hatte und auf das Chaos zwischen ihrer Ladung blickte. Einer von ihnen hob den Kopf und deutete auf die Kiste, in der ich mich befand. Zwei Männer winkten jemandem zu, den ich nicht sah, und riefen etwas in einer fremden Sprache; vielleicht um dem Kranführer zu bedeuten, die Kiste wieder abzulassen. Als sie sich weiterhin vom Deck entfernte und nun auch noch herumschwenkte, setzten sich die Männer in Bewegung. Sie wollten vor mir im Hafen sein! Und sie wirkten nicht gerade wohlgefällig. Ich schluckte. Kurz sah ich durch das Loch im Boden der Kiste nur glitzerndes Wasser, so grell, als trieben Splitter der Sonne selbst auf der Wasseroberfläche. Dann erschienen eine Kaimauer und ein gepflasterter Boden. Nachdem ich tagelang nur das Surren des synaígischen Antriebs und das Rauschen des Wassers, das er umwälzte, gehört hatte, war das Meer aus Lärm, in das ich nun eintauchte, geradezu erdrückend. Das mechanische Surren von – wie ich vermutete – synaígisch betriebenen Kränen, das Gebrüll von Hafenarbeitern, Händlern und Fischern, Hammerschläge aus den Werften und das niemals anhaltende glockenhelle Stöhnen von glühendem Rohstahl, wenn ihn der Schmiedehammer küsst, vereinten sich zu einem infernalischen Tumult, der an die Schmerzensgrenze reichte. Wenn es an einem Ort wie diesem überhaupt Vögel oder Bäume gab, dann wäre ihr Zwitschern und Flüstern, das ich so liebte, vermutlich niemals zu hören.

Als nächstes nahm ich den Gestank wahr, der durch das Loch im Boden der Kiste schwappte, durch jede Ritze in den Wänden drang, sich um Mund und Nase legte und mich würgen ließ. Augenblicklich stellte ich das Atmen durch die Nase ein. Doch selbst jetzt, da die verpestete Luft durch den Mund in meine Lungen gelangte, glaubte ich, ihren Gestank zu schmecken. Er legte sich wie ein Pelz über meine Zunge, eine Mischung aus Fäkalien, Ruß und Verwesung. Ich würde nicht lange hierbleiben können, ohne krank zu werden. Was war das für ein Ort, an dem der Duft nach Meersalz, Tannennadeln und nassem Moos diesem todbringenden Dunst gewichen war?

Der Boden unter mir näherte sich in schnellem Tempo und die Kiste setzte unsanft darauf auf. Ich und die darin verbliebenen Schachteln machten einen Satz, der mich von den Beinen riss. Abgesehen von den schmalen Lichtstreifen, die durch die Ritzen in der Kistenwand drangen, war es dunkel. Ich rappelte mich auf und stellte mich auf eine der Schachteln. Die Kiste, in der ich mich befand, war niedriger als die, durch die ich mich in den letzten Tagen gegraben hatte. Ich reichte mühelos an den Deckel und drückte dagegen. Er rührte sich nicht. Ich überlegte, ob ich sie umwerfen konnte, indem ich mich von innen gegen die Wand warf. Trotz ihrer geringen Höhe, war sie sogar noch schmaler, dafür sehr lang.

Dann ertönten durch den allgegenwärtigen Lärm Rufe und Fußgetrappel von draußen. Die Verschlüsse der Kiste klickten und der Deckel wurde angehoben. Instinktiv drehte ich meinen Stab herum und stieß ihn in das Gesicht, das in dem Schlitz grellen Tageslichts erschienen war. Der Mann schrie auf und wich zurück. Der Deckel der Kiste fiel zu. Mit aller Kraft warf ich mich von innen gegen die Wand. Die Kiste kippte, ihr Schwerpunkt balancierte für die Dauer eines Herzschlags über ihrer Kante. Dann fiel sie auf die Seite. Ich befreite mich von den Schachteln, die sich bei dem Aufprall auf mich geworfen hatten, und kletterte durch das Loch ins grellweiße Tageslicht, das sich vor mir auftat. In die Freiheit.

Zunächst sah ich nichts. Nur Licht und Schemen. Blind rannte ich davon auf der Suche nach Schatten wie ein Insekt, dessen Stein, unter dem es sich verkrochen hatte, umgedreht worden war. Eine Hand legte sich um meinen Oberarm. Ich stieß nach ihrem Besitzer mit meinem Stab, und er schrie auf und ließ mich los. Ich rannte weiter, rempelte gegen eine Gestalt, stolperte über einen Korb, der umkippte und eine Vielzahl kleiner, runder Gegenstände über den Boden verschüttete. Beinahe rutschte ich darauf aus. Hinter mir hörte ich Fußgetrappel und wütende Rufe. Ich lief gegen einen Strom aus Menschen an, die mir entgegenkamen. Dann tat sich eine dunkle Wand vor mir auf. Ich saß in der Falle! Doch während ich weiter darauf zu rannte, erkannte ich, dass es keine Wand war, sondern eine Häuserfront dreistöckiger Gebäude. Ich hielt auf eine Gasse zu und als ich in das Dämmerlicht dazwischen abtauchte, hörte ich, dass die Numiumer die Verfolgung aufgaben. Ich rettete mich hinter die nächste Straßenecke und schöpfte Atem. Riskierte einen Blick zurück und sah bestätigt, was meine Ohren mir schon mitgeteilt hatten: Keine Gestalten lösten sich aus dem grellen Tageslicht des Hafens.

Ich hob den Blick und erkannte, wieso das Sonnenlicht hier nicht ungehindert bis zur Straße durchdringen konnte. Brücken spannten sich kreuz und quer zwischen den Gebäuden auf Höhe der zweiten und dritten Stockwerke. Ich sah Menschen, die auf der zweiten Ebene gingen. Auf der Obersten konnte ich sie nur anhand ihrer Schatten und des Stimmengewirrs, das gedämpft zu mir durchsickerte, erahnen. Auch das Lärmen des Hafens schien auf dem Weg zwischen dem ersten Häuserblock hindurch an Kraft zu verlieren. Eine eigentümliche Stille beherrschte den Rand der Stadt.

Von allen Städten Numiums – Ad Etupiae, die größte und wohlhabendste Metropole des Kontinents, Noviomaridum, die Stadt der Akademien – war ich ausgerechnet in Tabulon von Bord gegangen; einer Stadt, in der Kriminalität und Drogenhandel derartige Ausmaße angenommen hatten, dass man aufgegeben hatte, sie zu bekämpfen. Stattdessen hatte man die Häuser um ein Stockwerk erweitert und diese mit Brücken verbunden, um nicht mehr auf die Straße gehen zu müssen. Als es zunehmend schwerer geworden war, das Gesindel auch von der zweiten Ebene fernzuhalten, baute, wer es sich leisten konnte, ein drittes Stockwerk. Die wenigen Zugänge zu dieser Ebene wurden schwer bewacht und standen nur der Oberschicht offen. Die Stadtwache, ausgerüstet mit synaígischen Feuerwaffen, sorgte dort für Ordnung. Auf der zweiten Ebene führten sie einen ständigen Kampf gegen den Drogenhandel, der in der Stadt blühte. Auf der untersten Ebene hingegen hatte das Gesetz keine Stimme mehr. Hier galt das Recht des Stärkeren.

Allmählich beruhigte sich mein Herzschlag, und abermals wurde ich des Gestanks gewahr, der in den Straßen der Stadt offenbar seinen Ursprung hatte. Warum waren die Numiumer mir nicht gefolgt, fragte ich mich. Sie hatten so abrupt aufgegeben, als wäre ich geradewegs in das aufgesperrte Maul eines Drachen gelaufen. Ich folgte der Straße, die parallel zum Hafen verlief und bog dann nach rechts ab tiefer in die Stadt hinein. Ich würde mich eine Weile zwischen den Häusern verstecken, bis man mein Gesicht im Hafen vergessen hatte, und dann nach einer Möglichkeit suchen, nach Normar überzusetzen. Ich glaubte nicht, dass jemand das Dorf kannte, das meine Heimat war. Es hatte ja nicht einmal einen Namen. Aber zumindest wollte ich wieder an einem Ort sein, wo man meine Sprache sprach.

Mein Blick wanderte zwischen den Häuserfronten hin und her. Ich hatte schon von Städten gehört – Ansammlungen imposanter Gebäude, um ein Vielfaches größer als mein Heimatdorf –, aber so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Diese Stadt wirkte wie ein einziges Bauwerk. Gepflasterte Straßen, unter einer zentimeterdicken Schicht aus Unrat fast nicht mehr zu sehen, verbanden die Häuser, von den Brücken ganz zu schweigen. Das einzige bisschen Grün, das es hier gab, war das Moos zwischen den Mauerfugen und vereinzelt auch Grasbüschel, die die wenigen Plätze besetzten, an die täglich mehr als drei Stunden Sonnenlicht gelangte. Außerdem ungewöhnlich viele Mohnblumen. Vor dem Hintergrund, den sie gewählt hatten, leuchteten ihre Blüten schöner als Edelsteine.

Nicht wenige Fenster waren zugenagelt, die Zugänge mancher Häuser rundherum zugemauert. Hinter anderen dunklen Fensteröffnungen brannte Feuer. Je tiefer ich in die Stadt vordrang, desto belebter waren die Straßen. Männer und Frauen mit abgerissener Kleidung und schmutziger, vernarbter Haut musterten mich. Abgemagerte Kinder teilten sich den Unrat, den die Menschen von den oberen Ebenen herabwarfen, mit Hunden und Kakerlaken. Mir entging nicht, wie ein gieriger Ausdruck in die Gesichter der Menschen trat, wenn sie den Bernstein meines Stabes sahen. Für mich mochte er keinen materiellen Wert haben. Er war ein Geschenk meiner Ahnen, ein Teil von mir und ein Stück Heimat zugleich. Doch in den Augen von jemandem, der täglich mit dem Hunger zu kämpfen hatte, war er nichts weiter als die Aussicht auf die nächsten Mahlzeiten.

Ich hatte kaum die Hand über den Stein gelegt, um ihn zu verbergen, als mir jemand den Stab aus der Hand riss. Die Diebin hatte sich von hinten genähert, ohne einen Laut zu verursachen. Als ich herumwirbelte, zu überrascht, um zu reagieren, floh sie schon in eine schmale Gasse und war genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen war.

»Halt!«, rief ich und stürmte ihr nach. In der Gasse war es noch dunkler als auf der breiten Straße, der ich bis dahin gefolgt war. Die Diebin – ein Mädchen mit schmutzigem blondem Haar – hatte einen Vorsprung von gut zwanzig Schritt. Auf halber Höhe der Gasse schlüpfte sie unter einem Mauerbogen hindurch. Schlitternd kam ich zum Stehen und wäre beinahe auf dem von Unrat übersäten Untergrund ausgerutscht. Ich folgte ihr, musste jedoch nach nur wenigen Schritten erneut innehalten, als mir eine Bestie von einem Hund aus dem dunklen Innern eines Hauseinganges entgegentrat. Er sah aus wie ein zu groß geratener Wolf. Von Schulter zu Schulter war er breit genug, um die Gasse auszufüllen. Von seinem Schwanz war nur ein Stummel geblieben, sein rechtes Auge war milchig weiß und von Narben gesäumt. Er hatte die Lefzen hochgezogen und entblößte knurrend seine dolchartigen Reißzähne. Über seinen Rücken hinweg sah ich die Diebin dem Verlauf der Gasse nach rechts folgen. Ich schluckte meine Angst hinunter und ging in die Hocke. Es war nur ein Tier! Nicht mein Begleiter, aber ein Freund der Druiden. Máedoc hatte mich während unserer Ausflüge in den Wald ihre Körpersprache gelehrt. Im Blick des Hundes sah ich Hunger und Angst. Nicht um sich selbst, nein, sondern um das Mädchen, das meinen Stab geklaut hatte. Sie hatte vermutlich nicht zum ersten Mal mit seiner Hilfe einen Verfolger abgeschnitten und es dem Tier mit einem Happen vergolten.

Ich wandte den Blick ab, ehe der Hund sich herausgefordert fühlen konnte, und bot ihm die offene Handfläche dar. Zwang mich, nicht daran zu denken, dass der Vorsprung der Diebin mit jeder Sekunde wuchs. Ich musste Ruhe bewahren, um das Vertrauen des Hundes zu gewinnen.

Die Bestie kam näher. Schnüffelte an meiner Handfläche und knurrte wieder.

»Ich werde deiner Freundin nicht wehtun«, sagte ich mit leiser Stimme. »Sie hat etwas genommen, das mir gehört.« Wieder sah ich dem Hund in die Augen und wich seinem Blick nach wenigen Sekunden aus. Streckte meine Hand ein wenig weiter und kraulte ihn unterm Hals. Das Knurren verstummte. Vorsichtig richtete ich mich auf. Der Hund wandte sich um, was ich angesichts seiner Größe nicht für möglich gehalten hätte, und kehrte zurück in das leerstehende Erdgeschoss, das er bewohnte. Langsamen Schrittes, um keinen seiner Jagdinstinkte zu wecken, folgte ich dem Verlauf der Gasse. Aus dem dunklen Hauseingang spürte ich den Blick der Bestie, der mir folgte, bis ich den Knick erreicht hatte. Kaum war ich außer Sichtweite, wollte ich wieder anfangen zu rennen. Da sah ich, dass der Weg in einer Sackgasse endete. Die Diebin hockte vor einem Kellerfenster und werkelte daran herum. Mein Stab lag neben ihr auf dem Boden. Sie hatte mich noch nicht bemerkt; glaubte offenbar, mich abgehängt zu haben.

Das Gitter, das das Fenster versperrt hatte, schwang mit einem leisen Quietschen nach Innen auf. Sie las den Stab auf, verschwand in dem dunklen Eingang und schloss das Gitter wieder hinter sich. Mit klopfendem Herzen trat ich näher. Ich würde ihr in das Versteck folgen und sie dort stellen. Hoffentlich war sie nicht gefährlich. Sie war vielleicht so alt wie ich und sogar noch magerer. Aber wenn meine Augen mich nicht getäuscht hatten, hatten mehrere Messer in ihrem Gürtel gesteckt.

Bevor ich das Gitter aufschieben konnte, hörte ich, wie jemand von innen daran herumhantierte. Ich wich zurück und suchte Deckung in einem Hauseingang im hinteren Teil der Gasse. Das metallische Quietschen der Scharniere ertönte erneut, und die Diebin kletterte ins Freie. Den Stab trug sie nicht mehr bei sich. Sie zog das Gitter zu und hakte ein schweres Vorhängeschloss in den Verschluss des Fensters ein. Ich würde sie jetzt stellen müssen oder warten, bis sie zurückkehrte. Das Schloss konnte ich nicht knacken. Ich wartete auf das Klicken, das für gewöhnlich den Bügel begleitete, wenn man ihn einrasten ließ, doch es blieb aus. Warum schloss sie nicht ab? Vielleicht konnte ich eine direkte Konfrontation vermeiden.

Ich wartete, bis die Diebin die Sackgasse verlassen hatte. Dann schlich ich zum Kellerfenster und untersuchte das Schloss. Der Bügel ließ sich ohne Weiteres drehen. Vielleicht besaß sie keinen Schlüssel dafür und benutzte es als eine Art Attrappe. Ich nahm es aus dem Verschluss, schob das Gitter auf und kletterte in den dunklen Kellerraum.

Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Finsternis. Trotzdem sah ich nicht mehr als die Umrisse eines Sammelsuriums nicht identifizierbarer Dinge. Beutestücke, wie ich vermutete. Es könnte lange dauern, bis ich hier meinen Stab fände.

»Latha«, flüsterte ich in einem verzweifelten Versuch. Ich hatte das Wort noch nie ausgesprochen, ohne zugleich über den Stein zu streichen, geschweige denn den Stab in meiner Hand zu halten. Aber es funktionierte. Ein müdes Licht erwachte im Innern des Bernsteins. Es reichte kaum, um den Kellerraum auszuleuchten, wohl aber, um auszumachen, wo der Stab lag. Ich stieg über ein längliches Etwas am Boden hinweg und nahm ihn zur Hand. Im mattgoldenen Licht sah ich, dass die Nadeln an dem Zweig, der unterhalb des Bernsteins aus dem Holz wuchs, welk geworden waren. Sie hatten schon im Rumpf des Schiffes nicht mehr so gesund gewirkt, doch nun waren sie braun und trocken und leblos. Nur das Licht des Bernsteins zeugte noch von dem Leben, das dem Stab innewohnte. Ich schluckte. Mir war klar, was ihm fehlte. Es war das Licht der Sonne und saubere Luft. Es waren die grünen Wälder Normars und das Zwitschern der Vögel. Der Geruch des Regens und das Rauschen eines Meeres, das nicht vor Fäkalien und industriellen Abwässern starrte.

Ich wandte mich um und erst jetzt, als das Licht meines Stabes auf das längliche Etwas am Boden fiel, erkannte ich, dass es kein Etwas war, sondern ein Jemand: ein Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als ich, der unter einem Berg aus Decken schlief. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Ich brauchte nicht erst zu fühlen, um zu wissen, dass er Fieber hatte. Ich ging vor ihm in die Hocke, und der Junge murmelte im Schlaf. Sein Haar war blond, wenngleich ich es erst auf den zweiten Blick bemerkte, war es doch so schmutzig, dass es fast schwarz wirkte. Ob er und die Diebin Geschwister waren?

Die Maßnahmen, die sie gegen das Fieber getroffen hatte, waren stümperhaft. Der Junge zitterte nicht, hatte also keinen Schüttelfrost. Das Gewicht der Decken und die Hitze, die sich darunter sammelte, mussten ihn erdrücken! Ich hatte Máedoc das ein oder andere Mal begleitet, wenn er einen Patienten aus unserem Dorf aufgesucht und behandelt hatte.

Der Junge murmelte etwas im Schlaf. Plötzlich hob der die Lider und blickte zu mir auf. »Gwynnifar!«, sagte er in flehendem Tonfall. Zunächst hielt ich es für ein Wort in der Sprache der Numiumer. Dann kam mir die Idee, dass es ein Name war. Hielt er mich für seine Schwester? Seine Augen glänzten. Eine Erkenntnis traf mich wie ein Schwall Eiswasser über den Kopf.

Er starb!

»Ganz ruhig«, sagte ich und legte meinen Stab neben ihn. Ich befreite ihn von einigen Decken, nahm den Stab wieder auf und blickte mich im Zimmer um. Nach kurzer Zeit fand ich, wonach ich suchte: Lappen. Sie hingen über der Lehne eines alten Stuhls und bestanden vermutlich mehr aus Dreck denn aus Stoff. Aber sie würden ihren Zweck erfüllen. Ich übergoss sie mit Wasser aus einem Eimer – nicht ohne mich zuvor davon zu vergewissern, dass es kein Behälter für die Notdurft war – und wickelte sie anschließend um die Waden des Jungen. Er stöhnte, als der kalte Stoff mit seiner Haut in Berührung kam.

Im Licht des Stabes machte ich mich wieder auf die Suche und kehrte wenig später mit einem Becher voller Wasser zurück. Ich setzte ihn dem Jungen an die Lippen, und er trank wie ein Verdurstender. Anschließend entfernte ich die Wickel. Ich hob den Stab und ließ den Blick schweifen, während ich überlegte, was ich noch tun konnte. Das mattgoldene Licht fiel auf mehrere Flaschen und Schalen, die um eine Pfanne herumstanden. Ich trat näher. Sie beinhalteten Gewürze, Mehl und andere Dinge, die man zum Zubereiten von Speisen verwendet. Das Licht des Bernsteins glitt über ein Tonbehältnis, auf dem eine Kakerlake saß, und brach sich dann im kupferfarbenen Inhalt einer Flasche mit langem Hals. Ich nahm sie und betrachtete sie mit ungläubiger Miene. War es das, was ich glaubte, dass es war? Ich legte den Bügel um, schnupperte daran und meine Vermutung bestätigte sich: Cuprumöl. Gwynnifar und ihr Bruder konnten nicht wissen, wie wertvoll es damals noch war, bevor man anfing, es industriell herzustellen. Ansonsten hätten sie es wohl längst zu Geld gemacht. Auf keinen Fall hätten sie es zum Kochen benutzt. Es gab zahlreiche alchemistische Anwendungen dafür, und hätte ich einen Kessel und einige wenige weitere Zutaten gehabt, ich hätte hier und jetzt einen Trank zusammenbrauen können, der Gwynnifars Bruder binnen weniger Stunden vollständig geheilt hätte. Aber auch unbehandelt konnte das Öl wahre Wunder wirken.

Mit der Flasche in der Hand kehrte ich zu dem Jungen zurück, der inzwischen wieder in einen fiebrigen Schlaf geglitten war und unablässig vor sich hinmurmelte. Ich kniete mich neben ihn und tupfte seine Stirn mit einem Deckenzipfel ab. Dann träufelte ich mir ein wenig von dem Cuprumöl auf die Finger und rieb damit seinen Hals und das Gesicht ein. Die Wirkung des Öls war erstaunlich. Schon nach einer Minute entspannten sich die Züge des Jungen. Sein Murmeln verstummte, seine Atemzüge wurden regelmäßig. Ich verschloss die Flasche und erhob mich. Ich hatte alles in meiner Macht Stehende getan, um dem Jungen zu helfen; mehr als man von mir hätte erwarten dürfen, nachdem das Mädchen mich bestohlen hatte. Nun war es Zeit, dass ich von hier verschwand.

Ich wandte mich um und erstarrte vor Schreck. Vor dem Zwielicht, das durch das Kellerfenster hereinfiel, zeichnete sich undeutlich der Schatten eines Menschen ab. Die Gestalt trat in das Licht meines Stabes, und ich erkannte die Diebin. Entschlossenheit und Wut dominierten die Angst in ihrem Blick. In der ausgestreckten Hand hielt sie ein Messer, das drohend auf meine Brust deutete, und um den Hals – sah ich richtig? – trug sie eine Kette aus schrumpeligen Ohren.

Ich wich zurück und brachte den Jungen zwischen mich und die Diebin. Hob die Hände, die immer noch den Stab und das Cuprumöl hielten. Das Mädchen sagte etwas.

»Ich verstehe nicht«, sagte ich mit zitternder Stimme. Die Diebin trat über ihren Bruder hinweg und drängte mich mit vorgestreckter Klinge zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Bei meinen Ahnen, sie würde mir die Ohren abschneiden und auf ihre makabre Kette fädeln!

Sie hob das Messer.

»Gwynnifar!«, stieß ich verzweifelt hervor. Das Mädchen hielt inne. Sie starrte mich an, als hätte ich soeben den Kopf einmal um dreihundertsechzig Grad und zurückgedreht. Wieder sagte sie etwas, und obwohl ich kein Wort verstand, glaubte ich zu wissen, dass sie fragte: Woher kennst du meinen Namen?

»Ich habe deinem Bruder geholfen«, sagte ich und deutete mit der Flasche Cuprumöl in der Hand auf die schlafende Gestalt am Boden. Gwynnifar folgte meinem Blick, ohne mich aus den Augen zu lassen. Wieder sagte sie etwas, das viel bedrohlicher klang als ihre Frage zuvor, und hob abermals das Messer.

»Gwynnifar.« Dieses Mal hatte nicht ich den Namen des Mädchens ausgesprochen, sondern ihr Bruder. Seine Stimme war so schwach wie das Licht einer heruntergebrannten Kerze. Er sagte nur zwei kurze Sätze, doch sie genügten, um den Zorn aus der Miene seiner Schwester zu vertreiben. Stattdessen taxierte sie mich mit nachdenklichem Blick. Sie trat zur Seite und nickte zum Ausgang. Mit steifen Schritten stieg ich über ihren Bruder hinweg, stellte das Öl zurück neben die Pfanne und kletterte ins Freie. Zurück im Zwielicht der Stadt löschte ich als erstes das Licht meines Stabes. Dann ließ ich mich mit dem Rücken an einer der Hauswände nieder und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich dachte an Mutter und musste mich zwingen, nicht in Tränen auszubrechen. Ich musste stark sein; einen kühlen Kopf bewahren! Nur so konnte ich zu ihr zurückfinden.

Sobald ich wieder ruhig atmen konnte, überlegte ich. Vielleicht war ich an der Grenze zum Hafen, wo es weniger Menschen gab, besser aufgehoben. Ich stand auf, folgte dem Verlauf der Gasse zurück und trat unter dem Mauerbogen hindurch. Anstatt wieder zur Straße zu gehen, folgte ich dem Verlauf der Gasse nach links. Auf Abwegen war ich vermutlich sicherer.

Wie wenig ich über eine Stadt wusste, zeigte sich jetzt, als mir schon nach der ersten Biegung ein Junge mit pickeligem Gesicht entgegentrat. Auch er war mager, dafür um einen Kopf größer als ich. Seine Kleidung war abgewetzt, seine Füße nackt und so schwarz, dass es schien, als trüge er Socken. Energischen Schrittes trat er mir entgegen, den gierigen Blick auf meinen Stab gerichtet. Seine Mundwinkel zuckten. Unweigerlich fühlte ich mich wie im Pelz einer Maus, die einer Katze gegenüberstand, wissend, dass ihr Schicksal nicht damit besiegelt wäre, gefressen zu werden, sondern dass man sie zuvor zu Tode spielen würde.

Ich wandte mich um, musste jedoch feststellen, dass ein weiterer Junge, noch größer als der erste, mir den Rückweg abgeschnitten hatte. Seiner Statur nach zu urteilen, war er das Alphatier unter den Straßenkindern. Hunger schien er keinen zu leiden.

Schon hatte der Pickelige mich erreicht und stieß mir grob in den Rücken. Ich stolperte und stürzte in den Schmutz, nicht ohne mir die Handflächen aufzuschürfen. Beim Versuch, den Sturz abzufangen, fiel mir der Stab aus den Händen, rollte klappernd über den Boden und blieb vor den Füßen des Alphatiers liegen.

Der Junge sagte etwas, wobei sein Mund sich zu einem hässlichen Lächeln verzog, und hob den Stab auf. Mit gieriger Miene betrachtete er den Bernstein. Seine Finger legten sich um das Juwel und versuchten, es aus seiner natürlichen Fassung zu zerren.

»Nicht!«, rief ich und rappelte mich auf. Doch der Pickelige kam mir zuvor. Er hakte seinen Fuß hinter mein Bein, und ich stürzte erneut. Das Alphatier lachte. Es nahm die Enden meines Stabes in je eine Hand, legte ihn übers Knie und brach ihn mit einem Ruck in zwei.

»Nein …« Die Stimme versagte mir. Das durfte nicht sein. Der Stab war zerstört, und mein Traum, ein Druide zu werden, mit ihm.

Das Alphatier warf seinem Kumpan die untere Hälfte des Stabes zu, und die beiden bauten sich über mir auf. Das Letzte, was ich sah, bevor sie mit den Bruchstücken auf mich einprügelten und ich die Augen zusammenkniff und die Arme schützend über dem Kopf hielt, waren ihre zu fiesem Grinsen verzerrten Münder. Ihre Schläge lösten Schmerzexplosionen in mir aus, als befände sich Sprengstoff unter jedem Zentimeter meiner Haut, der detonierte, wenn man ihn traf. Ich flehte zu meinen Ahnen, dass sie aufhören mochten, dass ich doch wenigstens das Bewusstsein verlor. Doch diese Gnade wurde mir nicht zuteil. Meine anfänglichen Schreie verebbten zu einem Wimmern. Als sie schließlich von mir abließen, war die Welt auf das Bündel aus Schmerzen zusammengeschrumpft, zu dem ich geworden war. Jede noch so kleine Bewegung schlug wie die Taste eines Cembalos auf die peinvoll schwingenden Saiten meines Leibes ein. Ein leiser, unkontrollierter Laut drang zwischen meinen aufgeplatzten Lippen hervor. Dass ich keinen Zahn verloren hatte, grenzte an ein Wunder.

In meinem Sichtfeld, das sich an den Rändern trübte, während ich auf der Grenze zur Ohnmacht balancierte, tauchten die Beine meiner Peiniger auf. Durch das Klingeln in meinen Ohren hörte ich, wie sie in der fremden Sprache der Numiumer ein paar Worte wechselten. Dann erschien der Bernstein in meinem Sichtfeld, als das Alphatier das Bruchstück meines Stabes mit der Spitze voran auf dem Boden absetzte. Dumpf nahm ich wahr, dass etwas, das dem Stein bislang innegewohnt hatte, verloren gegangen war; ein Glanz, der nichts mit dem Licht zu tun hatte, in dem der Stein bisweilen erstrahlt war. Es war, als blickte ich in die Augen eines Menschen, in denen der Funke des Lebens verloschen war.

Das Alphatier hob seinen in einem zerfledderten Stiefel steckenden Fuß und ließ ihn mit Wucht knapp unterhalb des Bernsteins auf den Stab krachen. Laut knackend brach die Spitze ab. Neben meinen physischen Schmerzen bohrte sich nun auch Trauer in meine Brust. Meine Augen brannten, und Tränen rannen mir über das Gesicht, ohne dass ich einen meiner geschwollenen Gesichtsmuskeln verzog.

Meine Peiniger warfen die Überreste des Stabes achtlos in den Dreck. Anschließend sammelte das Alphatier den Bernstein ein und entfernte sich, während sein Kumpan mir die Schuhe auszog und meine Taschen durchwühlte. Nachdem er mir alles bis auf die Kleider am Leib genommen hatte, ging auch er. Ließ mich zurück wie eine Kakerlake, auf die er getreten war, dazu verurteilt, qualvoll am Boden zu verenden.

Schließlich sank ich doch in gnädige Besinnungslosigkeit. Ich erwachte, als Unrat von einer der höheren Ebenen auf mich herabregnete. Ich schlug die Augen auf – oder besser gesagt das Auge; das andere fühlte sich an, als habe es jemand aus seiner Höhle gerissen und durch einen faustgroßen Apfel ersetzt – und sah verschwommen die Brücken der zweiten und dritten Ebene, die sich über die Gasse spannten. Meine Glieder waren taub und kalt, obwohl es ein warmer Tag war. Ich stöhnte und versuchte, mich aufzusetzen, was meinen geschundenen Leib augenblicklich dazu veranlasste, Salven des Schmerzens abzufeuern. Eine Ratte, die mich wohl schon für tot gehalten hatte, rannte quiekend davon.

Ich sank zurück und starrte mit trübem Blick nach oben. Meine Gedanken fanden wie schon so oft, seit ich als blinder Passagier in das Schiff der Numiumer geraten war, zu meiner Mutter. Meine Lippen zitterten. Ob sie die Hoffnung schon aufgegeben hatte? Es war ein Glück, dass sie nicht wusste, welches Schicksal ihr Sohn gefunden hatte. Vielleicht stellte sie sich vor, dass auch ich vom Winde verweht worden war. Dass ich nun an der Seite meines Vaters säße, auf einer tropischen Insel vor der Westküste von Origon. Wir lebten in einem Dorf zusammen mit schwarzhäutigen Einheimischen, fingen Fische und aßen die Fürchte des üppigen Dschungels, der einen Großteil der Insel bedeckte.

Mein Tagtraum fand ein abruptes Ende, als eine verschwommene Gestalt in meinem Sichtfeld erschien. Ein Jemand mit schmutzig blondem Haar und einer Kette welker Ohrmuscheln um den Hals hockte sich neben mich und legte zwei Finger an meinen Hals. Dann erhob sie sich, fasste mich bei den Fußknöcheln und schleifte mich durch die Gasse. Das matte Stöhnen, das über meine Lippen kam, wurde meinen Schmerzen nicht einmal ansatzweise gerecht. Zahlreiche bereits verkrustete Wunden rissen auf. Mehrmals stieß ich mir den Kopf an einem hervorstehenden Pflasterstein. Ich sah einen Mauerbogen über mir vorbeiziehen, sah kurz die wolfsähnliche Schnauze eines Hundes, der an mir schnüffelte. Dann wurde es dunkel um mich herum, als ich mit den Füßen voran durch ein Kellerfenster gezerrt wurde. Nur kurz belastete ich die Beine und meine geprellten Knochen schrien auf. Dann wurde ich unter den Armen gefasst und nicht gerade sanft, aber immer noch sanfter, als wenn ich gestürzt wäre, auf dem Boden abgelegt.

Gwynnifars Gesicht erschien über mir. Sie fing an, meine Wunden zu säubern. Ich versuchte, mich von den Schmerzen abzulenken, indem ich mich auf ihr Gesicht konzentrierte. Zwei Linien führten wie die Ufer eines Flussbettes von ihrem Nasenvorhof zum v-förmigen Amorbogen ihrer Lippen. Ihre Oberlippe ähnelte der Silhouette zweier Wale, die einander küssten, und ihre grünen, konzentrierten Augen denen meiner Mutter. Eine Zeit lang gab ich mich der Illusion hin, dass es Laya war, die mich versorgte. Schließlich kam ich nicht umhin zu bemerken, dass Gwynnifars Brauen anders geschwungen waren. Auch ihre Nase war etwas markanter, ihre Züge runder und umrahmt von schmutzig verfilztem Haar.

Schließlich ließ das Mädchen von meinem Gesicht ab, zog mir das Leinenhemd über den Kopf und setzte ihre Arbeit an meinem Oberkörper fort. Nun war da nur noch die dunkle Kellerdecke in meinem Blickfeld. Ich schloss die Augen. Die Verletzungen, die sie gesäubert hatte, fühlten sich bereits besser an, aber dort, wo sie mich mit dem Lappen berührte, schmerzte es. So sehr, dass in meinem Kopf nicht einmal Platz für Scham war, als sie mich schließlich bis auf die Unterwäsche auszog, um auch den Rest der Wunden zu behandeln.

Als sie fertig war, setzte sie einen Becher Wasser an meine Lippen, und ich trank in kleinen Schlucken. Dann fütterte sie mich mit einem Stück trockenen Brotes, von dem ich kaum zwei Bissen hinunter bekam. Mehrere Schläge, die ich auf den Kopf bekommen hatte, schienen vorläufig jegliches Hungergefühl aus meinen Gedanken vertrieben zu haben. Ich glitt in einen unruhigen, nicht lange währenden Schlaf. Als ich erwachte, glaubte ich, in Flammen zu stehen. Ich vernahm gemurmelte Stimmen und Schritte. Versuchte, die Augen zu öffnen, musste aber feststellen, dass eine Kruste meine Lider verklebt hatte. Ich stöhnte matt und wollte mich aufrichten. Allein das Gewicht der Decken hielt mich am Boden fest und machte mir das Atmen schwer.

Flackernder Kerzenschein schien durch meine Lider. Jemand sagte etwas – ein Junge. Im nächsten Moment wurde das Gewicht einiger Decken von meiner Brust entfernt, und ich atmete auf. Jemand tupfte mir mit einem feuchten Lappen über die Stirn, und ich vernahm den unverwechselbaren Geruch des Cuprumöls. Vier Finger fingen an, das Öl in die Haut meines Gesichts einzumassieren mit zarten Berührungen und so umsichtig um meine Verletzungen herum, als wäre ich ein Neugeborenes, das von seiner Mutter gestreichelt wurde. Ich vernahm Gwynnifars Stimme aus einem anderen Winkel des Raumes und schloss daraus, dass es ihr Bruder sein musste, der mich behandelte. Die Diebin klang unwillig, als wäre sie nicht glücklich darüber, dass sie mir meine Hilfe vergolten, indem sie ihr wertvolles Öl für mich vergeudeten. Ihr Bruder antwortete in ruhigem Ton.

Nach einer Weile reduzierte sich die Hitze in meinem Körper zu einer stillen Glut. Ich schlief wieder ein. Begab mich auf eine regelrechte Berg- und Talfahrt, während ich erst tief und traumlos ruhte und mich dann von Fieberträumen und Schmerzen geplagt unter den Decken wand, bis man mir erneut das Gesicht mit Cuprumöl einrieb. Mindestens zwei Nächte verbrachte ich im Versteck des Geschwisterpaars, was ich nur daran erkannte, dass mal Zwielicht durch das Kellerfenster hereinfiel, mal allenfalls das Licht einer Kerze oder eines Feuers das Innere des Raums erhellte. Zumindest gelang es mir, das eine meiner Augen zu öffnen, das es weniger schlimm getroffen hatte.

Als ich am dritten Tag erwachte, fühlte ich mich wie durch eine Walkmühle gepresst. Meine Kehle war ausgetrocknet und doch wusste ich, dass ich das Schlimmste überstanden hatte. Es roch nach Rauch und brutzelndem Öl. Ich brachte mich in eine halbaufrechte Position und wandte mich um. Gwynnifars Bruder hockte vor einem kleinen Feuer neben dem Eingang zu ihrem Versteck und briet etwas. Der Rauch zog mehr schlecht denn recht durch das Fenster ab. Seine Schwester lehnte an der gegenüberliegenden Wand, halb verborgen hinter einem mit wertlosem Zeug beladenen Tisch, und schnitzte an einem Stock. Als sie mich bemerkte, sah sie zu ihrem Bruder und sprach ein Wort: »Runis!« Ob es eine Warnung war? Oder bedeutete es vielleicht so viel wie Sieh mal? Der Junge wandte sich um, und seine Miene hellte sich auf. Er stellte die Pfanne beiseite und erhob sich, kam einen Schritt auf mich zu und fragte etwas. Ich begegnete seinem Blick mit ratloser Miene.

»Ich verstehe euch nicht«, sagte ich.

Der Junge wechselte einen Blick mit Gwynnifar. Dann sah er wieder zu mir, deutete auf seine Brust und sagte: »Runis.« Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Runis war also sein Name. Der Junge deutete auf seine Schwester und sagte: »Gwynnifar.« Dann deutete er auf mich und hob fragend die Brauen.

»Norin«, sagte ich und räusperte mich. »Ich habe Durst.« Ich mimte einen Becher, aus dem ich trank. Runis nickte und ging wieder zur Feuerstelle. Kurz darauf kehrte er mit einem Becher voll Wasser zu mir zurück. Mir entging Gwynnifars finstere Miene nicht. Offenbar war sie gar nicht glücklich darüber, dass ihr Bruder so bereitwillig ihre Ressourcen teilte. Ob Wasser an diesem Ort wertvoll war? In meinem Dorf gab es einen Brunnen, und in den Wäldern meiner Heimat unzählige Quellen.

Ich leerte den Becher in einem Zug und blickte dann verunsichert von Gwynnifar zu Runis. Ohne zu zögern nahm der Junge den Becher und füllte ihn erneut. Gwynnifar verschränkte die Arme vor der Brust. Wieder trank ich. Dann erst bemerkte ich, dass der Junge dieses Mal auch die Flasche mit dem Cuprumöl mitgebracht hatte. Er zeigte sie mir und hob abermals fragend die Brauen.

»Cuprumöl«, sagte ich.

»Cup-rum-ol«, wiederholte Runis. Er stellte die Flasche auf den Boden, griff in seine Hosentasche und brachte eine Hand voll Kupfermünzen zum Vorschein. Damit formte er drei Häufchen, von denen einer größer war als der nächste. Er bewegte die Flasche davor hin und her und sah wieder fragend zu mir. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, worauf er hinauswollte: Er wollte wissen, ob das Öl wertvoll war. Ich nahm die Flasche und stellte sie vor den größten Haufen. Runis warf einen freudig erregten Blick zu seiner Schwester, und selbst Gwynnifar konnte ihre finstere Miene nicht wahren. Sie löste ihre verschränkten Arme und trat einen Schritt näher. Runis erhob sich und holte ein weiteres Gefäß aus der Kochecke. Er reichte es mir und wartete mit gespannter Miene. Ich hob den Deckel und darunter kam ein weißes Pulver zum Vorschein. Ich roch daran und zerrieb anschließend eine Prise der körnigen Substanz zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich ahnte, was es war, und wusste auch, wie ich meine Vermutung bestätigen konnte. Ich behielt wenige Körner zwischen Daumen und Zeigefinger, stellte das Gefäß beiseite und stand auf. Noch immer schmerzte jeder Zentimeter meines Körpers, aber immerhin konnte ich mich bewegen. Mit steifen Schritten ging ich zur Feuerstelle und warf die Körner in die Flammen. Obwohl sie kaum größer als Sandkörner waren, vergingen sie in einem gleißend weißen Blitz, der sich in meine Netzhaut brannte. Ich schluckte. Detomagnesium; genug, um alles und jeden in diesem Raum zu zerfetzen, sollte es mit dem Feuer in Berührung kommen. Wie waren sie in seinen Besitz gelangt? Ich sah zu Gwynnifar und glaubte, irgendwo hinter ihrer bröckelnden finsteren Miene eine Spur von Schuldbewusstsein zu sehen. War sie in das Labor eines Alchemisten eingebrochen?

Ich deutete auf das Pulver. »Nicht neben dem Feuer aufbewahren«, sagte ich. Ich schüttete das Pulver aus einem imaginären Glas ins Feuer und imitierte das Geräusch einer Explosion. Runis nickte, schien aber keinen weiteren Gedanken an die Tatsache zu verschwenden, dass er und seine Schwester seit einiger Zeit ihr Heim mit einer Bombe teilten. Er deutete auf die Münzhaufen. Ich zögerte. Das Cuprumöl hatte ich eindeutig zuordnen können, weil es selten war. Doch im Allgemeinen wusste ich nicht viel über den Wert alchemistischer Zutaten. Máedoc und ich hatten sie meist selbst hergestellt oder gesammelt. Nur bei den seltenen Gelegenheiten, da sich ein reisender Händler in unser Dorf verirrt hatte, hatten wir damit gehandelt. Ich war mir sicher, dass Detomagnesium nicht so wertvoll war wie Cuprumöl. Für Runis und Gwynnifars Verhältnisse jedoch wäre das, was man dafür bekommen konnte, immer noch ein Vermögen. Ich stellte es zu der Cuprumölflasche neben den größten Münzhaufen. Runis jauchzte, und Gwynnifars Miene hellte sich endgültig auf. Eine Zeit lang schienen sie vergessen zu haben, dass ich anwesend war. Sie redeten auf schnellem Numiumisch miteinander. Vielleicht überlegten sie, wo sie die Zutaten am schnellsten zu Geld machen konnten. Schließlich sah Gwynnifar zu mir und sagte etwas in unverkennbar kühlem Tonfall, der mich alles andere als willkommenen Gast konstatierte. Runis folgte ihrem Blick mit gequälter Miene.

»Norin«, sagte Gwynnifar, und es hätte nicht mehr Unbarmherzigkeit in diesem einen Wort liegen können. Sie deutete zuerst auf mich, dann zum Kellerfenster. Ich hatte verstanden. Sie wollte weder ihre Schätze noch ihr Versteck mit mir teilen. Wieso sollte sie auch? Sie kannten mich nicht und hatten ihre Schuld beglichen. Mit hängenden Schultern humpelte ich durch den Raum. Während ich aus dem Fenster kletterte, stellte Runis seiner Schwester eine Frage. Ihre schroffe Antwort erstickte meine Hoffnung im Keim.

»Norin«, hörte ich Runis’ Stimme, kaum war ich draußen in der Gasse. Ich wandte mich um und sah, dass er mir einen Kanten Brot und zwei Münzen hinhielt; eine kupferne und eine messingfarbene. Unter Gwynnifars missbilligendem Blick nahm ich die Geschenke entgegen, und er verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Ich kehrte zunächst zur Straße zurück, ließ mich dort auf einer modernden Kiste nieder und aß die Hälfte des Brotes. Die andere Hälfte steckte ich mir in die Hosentasche und ging dorthin, wo ich überfallen worden war. Eine Hälfte meines Stabes war noch dort. Ich sammelte sie ein und machte mich auf den Weg zum Hafen. Unterdessen überlegte ich, wie ich erklären sollte, dass ich nach Normar wollte, ohne ein Wort Numiumisch zu sprechen. Ich hatte immer noch keine Idee, als ich den Hafen erreichte. Das Summen und Rattern der synaígischen Maschinerie sowie das Tönen der Schiffshörner und Schmieden formten einen so dichten Lärmnebel, dass selbst meine Gedanken darin unterzugehen schienen. Zum ersten Mal sah ich diesen Ort mit Augen, die nicht an die Finsternis eines verschlossenen Frachtraums gewöhnt waren. Unzählige Schiffe ankerten im Hafenbecken. Manche so klein wie das, das mich hergebracht hatte; andere größer, als ich für möglich gehalten hätte. Fast alle hatten Segel, doch bedienten sie sich offenkundig auch der Synaígie. Davon zeugten Schaufelräder und Schiffsschrauben. Staunend starrte ich auf die dreimastige Fregatte, die vor mir am Ende eines Anlegestegs ankerte. Die Segel waren eingeholt und kamen vermutlich nur dann zum Einsatz, wenn der synaígische Motor seinen Dienst versagte und die jeweils fünf Schaufelräder back- und steuerbord nicht mehr antreiben konnte. Noch mehr staunte ich, als ich den Frachter bemerkte. Er war so weit weg, dass ich nur ahnen konnte, wie groß er wirklich war, doch musste er um ein Vielfaches größer als die Fregatte sein. Kleinere Transportschiffe fuhren zwischen ihm und der Kaimauer hin und her und brachten sein Ladegut an Land, das dann in eines von zahllosen Lagerhäusern gebracht wurde. Holzkräne – manche fahrbar gelagert auf Schienen – zerrten Kisten mit Waren aus den Frachträumen der Transporter wie einarmige Raubtiere, die Fleisch aus ihrer Beute rissen. Werfthallen gliederten den Hafen in unterschiedlich lange Segmente. In unmittelbarer Nähe spien Schmieden und Eisenwerke dunklen Rauch in den Himmel. Es war, als konzentrierte sich die gesamte Industrie Tabulons auf den schmalen Streifen zwischen Stadt und Meer. Dazwischen wuchsen Buden wie Pilze aus dem Boden. Ein steter Strom aus Leibern bewegte sich daran vorbei, teilweise so dicht gedrängt, dass den Menschen kaum Zeit blieb, stehen zu bleiben und die Waren zu betrachten. Eine Zeit lang war ich unfähig, mich zu rühren, überwältigt von der Flut aus Sinnesreizen, die auf mich einprasselte wie ein donnernder Wasserfall. Ich tat nur wenige Schritte und wurde vom Strom der Menschen mitgerissen wie von einem rotierenden Ritzel hinein in eine niemals ruhende Maschinerie. Ich sah andere Kinder – der abgewetzten Kleidung und den nackten, schmutzigen Füßen nach zu urteilen Obdachlose. Geschickt flitzten sie zwischen den Beinen der Menschen durch und sammelten alles ein, was auf dem Boden landete. Mehrmals bemerkte ich, wie sie sich am Taschendiebstahl versuchten. Es endete fast auf die immer gleiche Weise: Das Opfer bemerkte sie und vergalt ihnen ihre Dreistigkeit mit einer schallenden Ohrfeige.

Während ich vorwärts gedrängt wurde, sprach ich wahllos Menschen an in der Hoffnung, jemanden zu finden, der Normar verstand. Die wenigsten würdigten mich überhaupt eines Blickes. Mehrmals wurde ich unsanft zurückgestoßen, einmal so heftig, dass ich auf dem Hinterteil landete. Ein anderes Mal warf mir jemand eine Kupfermünze hin, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Ich wurde schon weitergedrängt, während ich noch auf die Münze starrte, als ein Mädchen zwischen den rastlos schreitenden Beinen auftauchte, die Münze aufpickte und genauso schnell verschwand, wie es erschienen war. Ich war für die Menschen hier bloß ein weiteres, bettelndes Kind.

Als mein lädiertes Knie immer heftiger protestierte, und ich mich fragte, ob die Menschen mich einfach zu Tode trampeln würden, sollte ich einknicken, floh ich bei nächster Gelegenheit aus dem Gedränge zwischen den Buden. Ich fand mich in unmittelbarer Nähe der Kaimauer wieder. Nicht weit von mir entfernt ankerte eine Kogge, ähnlich der, die mich hergebracht hatte. Eine Brücke führte vom Deck des Schiffes an Land. Davor waren zwei Männer in ein Gespräch vertieft. In den Händen hielten sie je eine doppelläufige Flinte, die sie auf den Boden abgesetzt hatten: synaígische Feuerwaffen. Nie zuvor hatte ich eine zu Gesicht bekommen. Die Bedrohung, die von diesen Mordwerkzeugen ausging, umgab die Männer wie eine tödliche Aura. Wer sie schnitt, beschleunigte wie von selbst seine Schritte. Ich rang meine Angst nieder und trat geradewegs dazu. Vielleicht hatte ich Glück, und einer von diesen beiden würde mich verstehen.

Ich trat näher. »Bitte entschuldigt«, sagte ich. Das Gespräch der Männer fand ein abruptes Ende und sie wandten die Köpfe. »Spricht einer von euch Normar?« Ich erhielt eine schroffe Antwort, und sie setzten ihr Gespräch fort. Ich tat noch einen Schritt. »Ich verstehe euch nicht …« Wieder verstummten sie und sahen zu mir. Dann hob einer von ihnen die Waffe und richtete den Lauf auf meine Brust. Erschrocken stolperte ich rückwärts und wäre beinahe gestürzt. Ich wandte mich um und humpelte so schnell davon, wie es mein kaputtes Knie erlaubte. Dabei bemerkte ich die erwartungsvollen Gesichter von gleich drei Kindern, die vermutlich darauf hofften, dass ich niedergeschossen wurde, um meine Leiche zu plündern. So allmählich festigte sich ein Bild dieser Stadt. Hier führten die der untersten Ebene täglich einen Kampf ums Überleben.

Zunächst war es mir ein Rätsel, woher all diese Menschen im Hafen kamen, die zwar nicht wohlhabend zu sein schienen, jedoch kein Vergleich zu den abgewetzten Gestalten im Stadtinnern waren. Dann bemerkte ich die Türme, die in regelmäßigen Abständen vor der dreistöckigen Häuserfront aufragten. Breite Brücken führten von der zweiten und dritten Ebene ins Turminnere. Vor allem auf der Brücke der zweiten Ebene strömten einerseits unablässig Menschen in den Turm, andererseits vom Turm zurück hinter die Häuserfront. An einem Portal mit Fallgitter am Fuße des Turms herrschte ein ebensolches Kommen und Gehen. Zwei Aufzüge seitlich am Bauwerk beförderten unablässig Kisten und Fässer hinauf und hinab. Mehrere schwer bewaffnete Wachen hielten das Gesindel auf Abstand, das sich so nahe wie möglich um den Turm versammelt hatte, um die Mittel- und Oberschicht anzubetteln.

Gegen Mittag schmerzte mir vom Lärm und der schlechten Luft der Kopf. Ich ließ mich auf einem Poller nieder und aß den Rest des Brotes, das Runis mir geschenkt hatte. Wieder verspürte ich Durst, und allmählich wurde mir klar, dass ich bald ganz andere Sorgen hätte, als in meine Heimat zurückzukehren. Ich war erst seit wenigen Tagen hier, doch schon hatte diese Stadt mich in ihren gierigen Klauen; zog mich mit jeder Sekunde tiefer in ihr Nest, wo sie mich über Jahre hinweg aussaugen würde, bis ich nur noch eine leblose Hülle wäre.

Mit einem Kloß im Hals holte ich die Münzen hervor, die Runis mir geschenkt hatte, und betrachtete sie im grellen Licht der Sonne. Das Gesicht irgendeines ernst dreinblickenden Lords im Profil war ins Metall der Messingfarbenen geprägt worden. Entlang des Randes stand etwas geschrieben, das ich nicht lesen konnte. Zumindest verwendeten die Numiumer ein Zeichensystem, das ich kannte: guntrische Buchstaben. Auch die andere Seite der Münze wurde entlang des Randes von einem Schriftzug beansprucht sowie in ihrem Zentrum von der Prägung eines Schiffes. Eine Zahl war nicht darauf abgebildet. Auf der Kupfermünze hingegen prangte vorne eine Eins, hinten wieder das Gesicht des Lords.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Bewegung. Ich hob den Kopf und sah einen Jungen von vielleicht sechs oder sieben Jahren, der einen Punkt an der Kaimauer nicht weit von mir entfernt ansteuerte. Er warf mir einen Blick zu; nein, er sah zu den Münzen in meiner Hand! Es hätte wie beiläufig gewirkt, wäre nicht ein unverkennbar gieriger Ausdruck über sein Gesicht gehuscht. Ich ließ das Geld wieder in der Hosentasche verschwinden – jede Münze in eine andere, damit sie beim Gehen nicht klimperten – und griff nach dem Bruchstück meines Stabs. Unsere Blicke trafen sich, und der Junge verzog sich.

Ich erhob mich und während ich durch den Hafen humpelte, darauf bedacht, stark belebte Zonen zu meiden, überlegte ich, etwas zu trinken zu kaufen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich sonst an Wasser kommen sollte, doch sollte ich mit dem bisschen Geld, das ich hatte, sparsam umgehen. Ich wollte zunächst herausfinden, ob es einen Brunnen gab.

Ich durchquerte den Hafen, ließ die Welt von Lärm und Rauch hinter mir und tauchte ein ins Zwielicht unter den Brücken. Ich mied die Gassen und sorgte dafür, dass die Hälfte meines Stabes jederzeit sichtbar war. Mager und humpelnd gab ich vermutlich keine bedrohliche Gestalt ab. Doch zugleich musste allen klar sein, dass es bei mir, wenn überhaupt, nur wenig zu holen gäbe.

Ich folgte einer Straße bis zum Ende und bog dann nach rechts ab. Der Anblick abgerissener Gestalten, die mir aus tiefliegenden Augenhöhlen nachblickten sowie am Boden liegender Männer und Frauen – ich wusste nicht, ob sie schliefen, high oder tot waren – fütterten meine wachsende Verzweiflung. Ich lenkte mich ab, indem ich darüber nachdachte, welcher Plan dem Bau der Stadt zugrunde liegen mochte. Máedoc hatte mir einst von Noviomaridum erzählt und dass es Jahre der Planung gedauert hatte, ehe der erste Stein gesetzt worden war. Nach einiger Zeit kam mir jedoch der Verdacht, dass diese Stadt ohne System hochgezogen worden war. Straßen und Gassen waren willkürlich angeordnet, als ob es sich um ein abstraktes Kunstwerk handelte. Nur der Sonne, kaum sichtbar durch das Netz aus Brücken, verdankte ich, dass ich überhaupt wusste, in welcher Richtung das Meer lag. Nach einigen Stunden ziellosen Umherirrens überlegte ich, zum Hafen zurückzukehren. Der Tag näherte sich dem Ende. Trotz des Cuprumöls forderten die vergangenen Nächte im Fieber nun ihren Tribut, und auch der Durst zehrte an meinen Kräften. Ich bemerkte einen halbwüchsigen Jungen, der einen rostigen Eimer in der Hand hielt. Kurzentschlossen heftete ich mich an seine Fersen. Wenig später traten wir auf einen Platz hinaus, auf dem sich dutzende Gestalten tummelten. Trotz der hereinbrechenden Nacht war es hier vergleichsweise hell. Nur zwei Brücken kreuzten die Fläche, sodass das schwindende Tageslicht bis zum Boden reichte. Der Junge verschwand im Gewühl, doch erblickte ich weitere Eimer, manche leer, andere bis zum Rand gefüllt mit Wasser. Ich arbeitete mich bis zur Mitte des Platzes vor, und da war er: ein Brunnen. Allein der Anblick des Runds gemauerter Steine trieb mir die Tränen in die Augen. Sogleich sah ich mich dem nächsten Problem gegenüber: Ich hatte keinen Eimer. Ich ließ den Blick schweifen und bemerkte nicht weit entfernt eine am Boden liegende Gestalt mit langem, verfilztem Bart. Neben ihrem Kopf stand ein rostiger Eimer. Vorsichtig trat ich näher. Augen und Mund des Mannes standen offen. Mir wurde eiskalt. Er sah aus wie tot, und doch machte niemand mehr Aufsehen darum, als wenn hier eine tote Ratte gelegen hätte. Ich stieß ihm mit einem Ende meiner Stabhälfte vor die Brust. Der Mann grunzte und schlug mit der Hand durch die Luft, wie um eine lästige Fliege zu verscheuchen. Ich atmete auf. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, ging ich um ihn herum und nahm den Behälter. Der Mann reagierte nicht, und ich reihte mich in die Schlange der Durstigen. Eine gefühlte Ewigkeit später hatte ich endlich einen halbvollen Eimer und führte mit den Händen gierig das schmutzige Wasser zum Mund.

Bevor ich den Platz verließ, stellte ich den Behälter zurück neben den scheinbar paralysierten Mann. Noch hatte ich nicht lange genug hier gelebt – hatte nicht den Atem des Todes im Nacken gespürt –, als dass diese Stadt die mir anerzogenen Tugenden schon verdorben hätte. Ich kehrte zurück in die Dunkelheit außerhalb des Platzes. Wieder knurrte mein Magen, doch eine sichere Bleibe für die Nacht zu finden hatte jetzt Vorrang.

Ich hatte kaum zwei Häuserblocks zwischen mich und den Platz mit dem Brunnen gebracht, als Geschrei zu meiner Linken ertönte. In einer Gasse stritten zwei Männer. Es gab dort nur wenige Brücken und das fahle Licht des Mondes beschien die Szenerie. Der eine schien dem anderen aufgelauert zu haben. Schon wurden sie handgreiflich. Ehe ich wusste, wie ich reagieren sollte, hatte der eine den anderen gepackt und seinen Kopf gegen die Mauer gestoßen. Ich zuckte zusammen. Wollte fliehen, doch meine Beine gehorchten mir nicht. Der Mann sackte zusammen. Blut lief aus einer Platzwunde an seinem Hinterkopf. Sein Kontrahent beugte sich über ihn und fing an, dessen Taschen zu durchwühlen. Er brachte etwas zum Vorschein – etwas Weißes, das im Mondlicht glitzerte – und kurz schienen seine Augen zu leuchten. Dann brach er ein Stück davon ab und steckte es sich in den Mund. Eine Zeit lang stand er da und lutschte. Das Mondlicht beschien sein Gesicht, das glückselige Züge annahm. Er lächelte breit und zeigte dabei zwei Reihen blendend weißer Zähne. Ich stutzte. Der Mann war von den Spitzen seiner zerlumpten Schuhe bis hin zu den verfilzten Haaren ein einziges Wrack. Doch seine Zähne waren so makellos, als wären sie im Innern einer Perlmuschel herangewachsen.

Der Rest von dem, wofür er wenige Minuten zuvor noch bereit gewesen war zu töten, ja, womöglich sogar getötet hatte, fiel ihm aus der Hand. Leise summend ließ er sich neben der reglosen Gestalt nieder und legte den Kopf in den Nacken, wie um den Anblick der Sterne zu genießen.

Unschlüssig verharrte ich. Wenn die Menschen sich für dieses weiße Zeug gegenseitig umbrachten, musste es wertvoll sein.

Zögerlich und ohne den unverwandt lächelnden Mann aus den Augen zu lassen, trat ich näher. Ich beugte mich zu dem Reglosen herab und hielt ihm einen Finger unter die Nase. Er atmete. Zum zweiten Mal innerhalb von weniger als einer Stunde fiel mir eine Last vom Herzen. Das blutverklebte Haar des Mannes glänzte im Mondlicht, aber er lebte. Vorsichtig stieg ich über ihn hinweg und sammelte das im Mondlicht leuchtende Ding ein. Es sah aus wie ein wild wuchernder Kristall – offenbar eine Droge. Nur welche? Mir fielen gleich mehrere Rauschmittel ein, deren Beschreibungen aus Máedocs Büchern auf den Kristall zutrafen. Hätte ich in diesem Moment an die blendend weißen Zähne des Mannes gedacht, ich hätte sofort gewusst, dass es sich um Nimbuszucker handelte. Doch hatte dieser Zucker eine einzigartige Wirkung auf die Aura ihrer Konsumenten, die dazu führte, dass der Mann einschließlich seiner Zähne aus dem Rampenlicht meiner Gedanken getreten war. Eine Wolke des Vergessens hüllte ihn ein, sodass ich es nicht einmal bemerkte, wie er fortging. So glaubte ich, dass es nur eine Möglichkeit gäbe, die Droge zu identifizieren …

Ich brach ein Stück von dem Kristall ab – nicht viel; ich wusste, dass meine Kondition nicht mit der eines Erwachsenen zu vergleichen war, schon gar nicht mit einem, der den Konsum der Droge bereits gewöhnt war. Ich steckte mir den Rest des Kristalls in die Tasche und das Stück in den Mund.

Es schmeckte süß. Süßer als alles, was ich je in meinem Leben gekostet hatte. Das Wasser lief mir im Mund zusammen und löste den Kristall binnen Sekunden auf. Ich schluckte. Eine Zeit lang stand ich bloß da und wartete darauf, dass etwas passierte. Vielleicht war das Stück doch zu klein gewesen. Ich stieg über den am Boden liegenden Mann hinweg und verließ die Gasse. Wie von selbst setzte ich einen Fuß vor den anderen, ziellos, und ließ die Gedanken schweifen. Sollte ich noch etwas von dem Kristall schlucken? Warum nicht?

Aber warum doch?

Aus irgendeinem Grund war es mir einerlei. Vielleicht sollte ich mich lieber auf die Suche nach einem sicheren Schlafplatz machen. Aber warum?

Andererseits: Warum nicht?

Nichts war mehr von Bedeutung. Nicht, dass ich mutterseelenallein war, Hunger und kein Geld hatte. Auch nicht, dass mein Körper von Blutergüssen und Knochenprellungen übersät war. Nicht einmal, dass ich viele Meilen von zu Hause und meiner Mutter entfernt war. Nichts. Ich fühlte mich … wunderbar. Leicht. Ein Lächeln kam herbeigeflattert und setzte sich auf meine Lippen.

Auf der Straße lag ein samtweicher Purpurteppich, und als ich an mir herabblickte, stellte ich fest, dass auch ich festlich gekleidet war. Die Fassaden der Häuser, bislang schmutzig und heruntergekommen, waren nun mit fließend weißem Stoff verhangen. Rosen rankten sich daran empor, umschwirrt von zahllosen Feenwürmchen.

Stundenlang, so kam es mir vor, streifte ich durch die Stadt und nahm deren Schönheit in mich auf. Meine Füße trugen mich wie von selbst, ohne dass ich wusste, wohin. Es gab kein Ziel mehr, keine Himmelsrichtungen. Jeden Augenblick mit all meinen Sinnen einzusaugen, war das einzige, was ich wollte.

Irgendwann gelangte ich vor eine Tür mit einem massiven Türblatt aus schlichtem Holz mit einer Dämonenfratze in ihrer Mitte, die einen eisernen Ring in den Fängen hielt. Ich hatte diese Tür nicht gesucht, hatte nicht einmal gewusst, dass sie existierte, und doch war ich hier. Es war, als hätte sie mich gefunden. Ich trat näher, packte den schweren Eisenring und schlug ihn zwei Mal gegen das Holz. Die Tür schwang auf und gab den Blick auf ein Meer aus Finsternis frei. Marmorstufen, so klar sichtbar, als lägen sie im Sonnenlicht, führten hinab ins Nichts. Ohne zu zögern, trat ich über die Schwelle. Kaum berührte meine Fußspitze die erste Stufe, hörte mein Gedächtnis auf, die Erinnerungen an das, was dann passierte, aufzuzeichnen.

Dreizehn. Der Gletscher. Band 4

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