Читать книгу Dreizehn. Der Gletscher. Band 4 - Carl Wilckens - Страница 12

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Erwachen

Wir verließen die Lichtung auf demselben Wege, auf dem wir gekommen waren. In gleichen Abständen hallten uns die Hilferufe der Frau nach, als wäre sie ein Vogel, der turnusmäßig wieder und wieder denselben Ruf ausstieß. Schweigend gingen wir den Hügel hinab. Inzwischen hatte die aufgehende Sonne den Nebel zum größten Teil aufgelöst. Obwohl ich in dem überall gleich aussehenden Wald nichts fand, an dem ich mich orientieren konnte, merkte ich schnell, dass wir nicht zu Máedocs Hütte zurückkehrten. Das Meer lag stets zu unserer Rechten; so weit entfernt, dass mein Blick auf seinem Weg dorthin vor eine undurchdringliche Wand aus Fichtenstämmen stieß, und doch nah genug, dass wir das Rauschen der Wellen hören konnten. Auf unserem Weg begegneten uns an der Zahl drei Rehe. Die seltenen Male, da ich einem dieser scheuen Tiere begegnet war, waren sie davongeprescht, kaum dass sich unsere Blicke getroffen hatten. Mit Máedoc an meiner Seite jedoch standen sie ruhig da und ließen mich so nahe herankommen, dass ich sie streicheln konnte. Auch Hasen schienen keinen Grund zu kennen, uns zu fürchten. Mehrmals streichelte ich ihnen über die Löffel und musste mich anschließend beeilen, um zu dem Druiden aufzuschließen.

Schließlich erreichten wir den Waldrand und näherten uns dem Dorf. Schutzlos dem Wind ausgesetzt begann ich wieder zu frieren. Das Kreischen von Möwen und vereinzelte Rufe aus dem Dorf wehten zu uns herüber. In der Nähe eines Bootssteges am nördlichen Ende des Hafens stellte Máedoc sich an den Strand und blickte reglos wie eine Statue aufs Meer hinaus. Ich wollte schon fragen, worauf wir warteten, als er wieder zu sprechen begann: »Ich sagte dir vorhin, dass es drei kosmische Elemente gibt. Das erste, die Synaígie, hast du nun kennengelernt. Das Zweite sind die Enerphagen; genaugenommen ihre Substanz, das dunkle Mana. Auch sie erlauben uns, Magie zu wirken, indem wir mit den Norn – einer bestimmten Sorte sehr mächtiger Enerphagen – einen Pakt schließen. Sie erfüllen dir jeden Wunsch, sofern es sich um eine Bösartigkeit handelt. Du kannst sie nicht bitten, jemandes Krankheit zu heilen.«

»Warum nicht?«, fragte ich.

»Es liegt nicht in ihrer Natur«, erklärte Máedoc. »Du kannst jemandes Ernte verderben lassen, ihn eine Woche lang vom Pech verfolgen lassen, ja, du kannst jemandem sogar den Tod wünschen. Aber je größer der Dienst ist, den dir ein Norn erweist, umso teurer wirst du dafür bezahlen. Du stehst ab diesem Moment in seiner Schuld und du kannst dich darauf verlassen, dass er sie einfordern wird.«

»Und wenn ich nicht bezahle?«

Máedoc blickte zu mir herab. »Dann entsenden sie ihre Schergen, die Folklore. Kleine Enerphagen, die sich in jeden Winkel deines Lebens einnisten. Sie machen dich krank und schicken dir Alpträume. Du wirst im wahrsten Sinne des Wortes vom Pech verfolgt.«

»Kann man die Enerphagen nicht irgendwie bekämpfen?«, fragte ich.

»Warum willst du gegen sie kämpfen?«

»Weil sie böse sind«, erwiderte ich überrascht über die Frage. »Sie bringen nur Schlechtes in unsere Welt.«

»Da ist richtig«, stimmte Máedoc zu. »Aber sie tun es auf unseren Wunsch hin. Die Trinität – das ist die Einheit ihrer drei Könige – wacht darüber, dass die Enerphagen sich nur in unsere Welt einmischen, wenn wir es ihnen durch einen Pakt gestatten. Es ist die Niedertracht derer, die sich mit ihnen einlassen, die uns Schlechtes bringt. Wir wissen wenig über diese Wesen und die Welt, aus der sie kommen. Womöglich würden wir einen Krieg gegen sie verlieren.« Máedoc verfiel in Schweigen. Eine Zeit lang, während der ich zusehends unruhig wurde, stand er wieder bloß da und blickte zum Meer hinaus. In seinen Augen spiegelten sich die Wellen.

»Worauf warten wir?«, fragte ich schließlich.

»Hab ein wenig Geduld«, sagte Máedoc. Ich verharrte an seiner Seite, während ich mich unablässig umblickte. Schließlich lief ich dorthin, wo das Meer den Sand glattstrich, und fing an, vor dem heranschießenden Wasser davonzulaufen. Ich entdeckte einen Donnerkeil im Sand, sammelte mehrere Muscheln und interessant aussehende Steine ein und setzte mich an den Strand zum Spielen. Die Sonne stieg höher, der Wind flaute ab und allmählich wurde mir wärmer.

Dann bemerkte ich eine Bewegung auf dem Bootssteg. Ich hob den Kopf und sah Otis, den Trinker. Er war wie immer unrasiert, sein langes Haar schmutzig und verfilzt. Seine Kleidung sah aus, als hätte er sie schon seit mehreren Runden nicht abgelegt, und in der Hand hielt er die obligatorische Flasche Met.

Ich spürte Máedocs Blick auf mir. Ich ließ meine Fundsachen liegen und lief zu ihm.

»Du kennst Otis, nehme ich an«, sagte Máedoc und nickte zu dem Fischer, der soeben das Ende des Stegs erreicht hatte und in sein Boot kletterte. Ich nickte. »Weißt du, wie er zum Trinker geworden ist?«

»Er hat seine Tochter verloren«, sagte ich.

»Weißt du auch, wie er sie verloren hat?«, fragte Máedoc. Ich schüttelte den Kopf. »Er musste sie einem Enerphagen überlassen.« Der Druide seufzte. »Gwaeddan. Ein gutes, unschuldiges Mädchen. Sie wäre jetzt in deinem Alter. Ich habe keine Ahnung, ob sie noch lebt oder nicht.«

»Welchen Pakt hat Otis geschlossen?«

»Er ließ jemanden töten«, sagte Máedoc. »Vor drei Jahren entdeckten er und ein Fischer namens Jennalyn eine Höhle am Fuße der Steilklippe. Darin fanden sie eine mit Juwelen gefüllte Schatulle. Sie wollten den Schatz aufzuteilen – Hälfte, Hälfte. Aber noch in derselben Nacht machte Jennalyn sich mit der Schatulle davon. Otis, blind vor Wut, beschwor einen Norn und verlangte von ihm, dass er Jennalyn tötete und ihm die Juwelen zurückbrachte. Der Norn erfüllte den Auftrag binnen vierundzwanzig Stunden. Wenig später verlangte er seinen Preis. Otis ertrug es nicht lange, sich ihm zu verweigern. Nachdem der Norn seine Tochter mitgenommen hatte, fuhr er weit hinaus – weiter noch als dein Vater – und versenkte die Schatulle im Meer.« Máedocs Worte versetzten mir einen Stich.

»Woher weiß Otis, wie man einen Norn beschwört?«, fragte ich.

»Es ist allgemein bekannt«, antwortete Máedoc. »Du malst ihr Zeichen mit Kohle oder Kreide auf den Boden und sprichst drei Mal ihren Namen. Anders als bei der Runenmathematik hat ein Fehler keine schlimmen Folgen. Ein falsch aufgemaltes Zeichen führt allenfalls dazu, dass der Norn nicht erscheint. Sobald er da ist, kannst du es dir noch anders überlegen. Einmal ausgesprochen, was du von ihm verlangst, ist der Pakt besiegelt. Voraussetzung ist allerdings, dass du jemand bist, der etwas zu verlieren hat. Ein mächtiger Enerphag wird sich nicht mit jemandem abgeben, der nicht mehr als sein Leben zu bieten hat. Besitzt du Reichtum und gibt es Menschen, die du liebst, sieht das schon ganz anders aus.« Máedoc wandte sich um und schickte sich an, den Hafen zu verlassen. Ich warf Otis, der soeben einen tiefen Schluck aus seiner Flasche nahm, einen letzten Blick zu, und folgte dem Druiden zwischen die Häuser des Fischerdorfes. Máedoc ignorierte die Blicke der Dorfbewohner, die ihm auswichen, wenn er näherkam, und ihm folgten, sobald er vorüber war.

»Bevor ich zum dritten und letzten Element komme, lass uns deine Mutter besuchen«, sagte der Druide. »Sie wird wissen wollen, wie es dir geht.«

Rauch stieg aus dem Schornstein der Hütte meiner Eltern. Ich rannte darauf zu und klopfte an die Tür. Meine Mutter öffnete und hieß mich mit einer Umarmung willkommen. Sie roch nach frisch gebackenem Brot. Während ich an ihr vorbei das Hütteninnere betrat, wandte Laya sich an Máedoc.

»Hat er gegessen?«, fragte sie besorgt.

»Nein«, sagte Máedoc und klang belustigt, »aber es sieht ganz danach aus, als würde er jetzt ein ausgiebiges Frühstück nicht ablehnen.« Er nickte zu mir, der ich Posten vorm Herd bezogen hatte.

Meine Mutter deckte den Tisch und ich aß, als wollte ich die ausgelassenen Mahlzeiten der vergangenen Tage wettmachen. Währenddessen berichtete ich von der Frau oben beim Steinkreis und den Tieren, die sich von mir hatten streicheln lassen.

»Also hat er deinen Test bestanden«, schlussfolgerte meine Mutter und sah zu Máedoc.

Der Druide nickte. »Er wird in der nächsten Zeit bei mir bleiben. Keine Sorge, Laya«, fügte er hinzu, als er ihren bekümmerten Gesichtsausdruck bemerkte. »Er kann dich immer besuchen und jede Nacht von Healthhain auf Last bei dir verbringen. Es gibt Vieles, das ich ihm beibringen muss, und dafür brauch ich ihn in meiner Nähe.« Laya nickte und sah zu mir. Ihre Augen glitzerten im Feuerschein des Ofens.

»Ich bin sehr stolz auf dich, mein Kleiner«, sagte sie und strich mir eine meiner Locken hinter die Ohren. »Du siehst deinem Vater mit jedem Tag ähnlicher.« Ihre Worte stimmten mich glücklich und traurig zugleich.

Nach dem Essen verabschiedeten wir uns von meiner Mutter und machten uns auf den Weg zurück zu Máedocs Hütte. Die Vorstellung, eine weitere Nacht im Kokon in Máedocs Eiche zu verbringen, bereitete mir Sorgen. Ich rief mir in Erinnerung, dass morgen schon Healthhain war.

»Das dritte kosmische Element«, setzte Máedoc an, sobald wir das Dorf verlassen hatten, »ist die materielle Welt. Materie ist die Substanz, aus der alles gemacht ist: Wiesen und Bäume, Berge und Meere, Menschen und Tiere. Auch sie birgt Magie. Oft ist sie so alltäglich, dass wir sie nicht mehr als solche wahrnehmen. Der Sonnenaufgang zum Beispiel. Das Nordlicht. Das Leben in seiner Vielfältigkeit. Sieh aufmerksam hin, Norin. Wie viele wundersame Geschöpfe hat die Natur hervorgebracht? Solche, die fliegen oder unter Wasser leben. Manche groß und ungestalt wie die Baumriesen, andere klein und filigran wie ein Schmetterling.« Er hielt die Hand auf, und wie auf Zuruf kam ein Tagpfauenauge herbeigeflogen und ließ sich auf der Handfläche nieder.

»Sind Baumriesen echt?«, fragte ich. Ich hatte noch nie einen gesehen und war mir nicht sicher, ob sie nicht bloß ein Märchen waren wie Nome oder Trolle.

»So echt wie die Bergriesen«, sagte Máedoc, während wir wieder in den Fichtenwald eintraten. Er deutete auf die Stämme, die uns umgaben, und sagte: »Jeder Baum hat das Potential, zu einem Baumriesen zu werden. Viele sind noch zu jung für die Transformation. Manche ziehen das ruhige Leben, das sie jetzt führen, vor. Wieder andere haben schon ein Leben als Baumriese hinter sich. Im hohen Alter schlagen sie wieder Wurzeln, musst du wissen.« Staunend betrachtete ich die Bäume ringsum. Der Gedanke, dass sie denken konnten – auch die Eiche in Máedocs Hütte – hatte etwas ungemein Beruhigendes. »Es gibt aber auch jene Sorte von Magie, die verborgen ist«, fuhr Máedoc fort. »Sie lässt sich nur dann entfesseln, wenn man die Dinge richtig verarbeitet, zum Beispiel in einem Kessel. Genau damit befasst sich die Alchemie. Sie lehrt, wie man sich die Magie der materiellen Welt zunutze macht. Wir Druiden haben uns ihr verschrieben, Norin. Sie ist die einzige Form der Magie, die keine Opfer fordert. Bedienst du dich der Runenmathematik, endest du als Iduns Werkzeug. Gehst du einen Pakt mit einem Enerphagen ein, verkaufst du dich an sie. Es ist eine Sünde, sich dieser Elemente zu bedienen.« Ein Schatten lag über Máedocs Gesicht, als er sich zu mir umwandte und mich eindringlich ansah. »Es sind die ersten beiden Gebote der Druiden: Bediene dich niemals der Synaígie. Schließe niemals einen Pakt mit einem Enerphagen. Verstößt du gegen eines unserer Gebote, Norin, werde ich dich aus dem Kreis der Druiden verbannen. Du wirst niemals wieder mein Lehrling oder der eines anderen Druiden sein können, geschweige denn eines Tages selbst zu unsereins gehören. Hast du verstanden?« Der Ausdruck in seinem Gesicht war so ernst geworden, als hätte ich mich bereits gegen den Kodex der Druiden versündigt. Allein der Gedanke schien eine Wut in ihm zu entfachen, die nur darauf wartete, entfesselt zu werden. Ich schluckte schwer und nickte. Niemals würde ich dem Druiden Anlass geben, von mir enttäuscht zu sein.

Máedocs Lehre begann ebenso faszinierend wie anspruchsvoll. Oft streiften wir durch den Wald, wo der Druide mich die Namen von Pilzen und Kräutern lehrte. Er machte mich auf die Düfte von Blüten und Blättern aufmerksam und riet mir, sie mir gut einzuprägen. Häufig verströmten Tränke solche oder ähnliche Gerüche, die einen Hinweis darauf gaben, ob man auf dem richtigen Weg war. Er lehrte mich, welche Pflanzen heilen konnten, welche giftig waren und welche Zutaten man aus ihnen gewinnen konnte. Ich füllte das Loch, das mein Vater hinterlassen hatte, mit Wissen. Solange mein Kopf beschäftigt war, war dort kein Platz für Trübsal. Es war sicher nicht die beste Art, mit dem Verlust umzugehen. Aber vorerst funktionierte es. Voller gespannter Erwartung, die verborgene Magie aller Dinge kennenzulernen, stürzte ich mich auf alles, was der Druide mir auftrug. Doch der Tag, an dem ich zum ersten Mal einen Trank brauen würde, lag noch in weiter Ferne, so schien es. Ich müsse zunächst einmal die Grundlagen erlernen, erklärte Máedoc am ersten Tag meiner Ausbildung. Dazu gehörte zu meiner Überraschung auch, dass ich lesen und schreiben lernte. Die Normaren gaben ihr Wissen traditionsgemäß mündlich von Generation zu Generation weiter. Doch gab es auch Alchemisten aus anderen Kulturen, wie ich schnell begriff, die ganze Bücher mit ihren Erkenntnissen füllten.

»Wenn du über den Horizont hinaussegeln willst, junger Norin, solltest du unsere Traditionen als Leitfaden erachten, nicht als ein Gesetz«, sagte Máedoc einmal zu mir. »Auch in anderen Teilen der Welt gibt es Alchemisten. Ihre Lehren sind wertvoll, solange sie keines der verbotenen Elemente einbeziehen. Wenn sie sie schriftlich festhalten, so spricht nichts dagegen, dass wir davon profitieren.« Während der ersten Monate verbrachten wir viele Stunden mit Birkenrinden und Schreibrohren. Máedoc lehrte mich sowohl die guntrischen Buchstaben als auch die Runen. Viele alte Texte waren in Runenschrift verfasst und wenngleich die Runenmathematik ein Sakrileg war, so galt ihr Skript als unantastbar.

Obgleich ich selbst nie vorm Kessel stand, so ließ Máedoc mich zumindest dabei zusehen, wann immer er einen Trank braute.

»Der Kessel ist das Herzstück der Alchemie«, erklärte er, während er darin rührte. »Er ist ein Kunstwerk, das nie endet, und genau wie bei einem Gemälde, bei dem jeder Pinselstrich sitzen muss, muss jede Zutat die richtige sein. Mit dem ersten Trank, den du zubereitest, leerst du deinen Kessel nie mehr aus. Du füllst die Menge ab, die du brauchst, und wenn du wieder etwas brauen willst, machst du da weiter, wo du aufgehört hast. Jeder Trank, den du zubereitest, hat Einfluss auf deine nächsten. Je nachdem, welcher dein letzter war und welcher dein nächster sein soll, ist es mehr oder weniger kompliziert, ihn anzurühren. Du kannst nur schwer aus echtem Laudanum ein Gift machen. Aber einen Trank, der dich von einer Krankheit heilt, in einen zu konvertieren, der dich hellwach macht, ist kein Kunststück.«

Als der Winter kam, und mein Schlafplatz in Máedocs Eiche zunehmend kälter wurde, brachte der Druide mir bei, die Wärme in meinem Inneren zu nutzen.

»Solange wir ausreichend Nahrung zu uns nehmen, haben wir genug Energie, um der Kälte die Stirn zu bieten«, sagte er, während er in seinem Kessel rührte. »Doch unser Körper kann nicht damit haushalten. Tiere tun es intuitiv, doch der Mensch hat auf der Suche nach vollkommenem Bewusstsein diesen Pfad verlassen. Er ist nicht mehr fähig, seinen Körperhaushalt intuitiv zu führen.« Er schöpfte eine Kelle seines Trankes ab und schnupperte daran. Dann füllte er ihn in ein Glasfläschchen und reichte ihn mir. »Das ist grian, ein bewusstseinserweiternder Trank«, fuhr er fort. Sein Inhalt glomm tieforange wie erstarrende Eisenschmelze. Weißer, schwerer Dampf stieg von ihm auf und schwappte über den Rand des Glases. Ich sah zu Máedoc, der mir auffordernd zunickte, und trank den Inhalt in einem Zug. Er war warm und schmeckte wie Holunderblütentee. »Bewusstseinserweiternde Tränke sind keine Drogen. Im Gegenteil: Je mehr du davon zu dir nimmst, desto weniger wirst du von ihnen abhängig, bis du sie irgendwann nicht mehr brauchst. Sie wecken Fähigkeiten, derer du dir bislang nicht bewusst warst.«

Zunächst spürte ich gar nichts. Und dann, ganz allmählich, bemerkte ich die Sonne, die in meiner Mitte schien. Ihre Wärme war hell und stark; so stark sogar, dass mein Körper sie abführen musste. Doch anstatt sie über das Blut in meine Gliedmaßen zu transportieren, gab er sie auf direktem Wege an die Umgebung ab. Es war erstaunlich einfach, den Wärmefluss umzulenken. Wenige Minuten später glühten meine Hände regelrecht. Nun verstand ich, wie Máedoc auch bei niedrigen Temperaturen mit nichts weiter als Hose und Mantel bekleidet draußen umherlief, ohne zu frieren.

Wenn ich nicht gerade Buchstaben auf Birkenrinde schrieb, mich im Lesen übte oder Máedoc mir eine Lektion in Sachen Alchemie erteilte, ließ er mich Holz hacken, den Garten hinter seinem Haus bewirten oder Botengänge erledigen. Die meist körperlich anstrengende Arbeit machte meinen Kopf frei. Anschließend stürzte ich mich umso begeisterter auf mehr Texte oder in Máedocs nächste Lektion – oder aber auf mein Lager und in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Ich lernte schnell. Viel schneller, als Máedoc ahnte. Schon nach wenigen Monaten las ich beinahe fließend. Ich verschlang jeden Text, den ich in die Finger bekam. Der Druide besaß eine ganze Sammlung von Gedichten und Kurzgeschichten, die er schon meinen Vorgängern zu geben gepflegt hatte. Viel interessanter aber waren die Bücher, die er in einer Kiste neben seiner Schlafnische aufbewahrte. Máedoc hatte mir nie ausdrücklich verboten, darin zu lesen, und ich hatte auch nicht vor, ihn zu fragen. Er wurde nicht müde, zu erwähnen, dass Alchemie Kunst war. Man könne sie nicht aus Büchern lernen, die lediglich eine hilfreiche Ergänzung seien. Jedoch fiel mir auf, dass ich den alten Druiden nie mit einem Buch sah. Gewiss hätte er versucht, mir das Lesen auszureden, hätte er gewusst, wie gern ich es tat.

Fast immer, wenn Máedoc seine Hütte ohne mich verließ, um den Pflichten als Wächter des Waldes nachzukommen, beendete ich die von ihm aufgetragenen Aufgaben lange, bevor er zurückkehrte. Dann nahm ich eines der Bücher heraus und las. Es waren Übersetzungen alchemistischer Abhandlungen. Ich hatte eine Rezeptsammlung erwartet, doch nach allem, was Máedoc mir über die Alchemie erzählt hatte, machte es Sinn, dass man Tränke nicht nach Anleitung brauen konnte. Jeder Kessel war einzigartig. Und doch gab es gewisse Finessen.

Ich lernte, dass man als Grundlage für den ersten Trank eines jeden Kessels frisches Quellwasser oder mit dem Sekret einer Quellenfee versetztes Regenwasser verwendete. Bis dahin hatte ich nicht geglaubt, dass Wesen wie Quellenfeen überhaupt existierten. Ich las, wie man einfache Tränke braut und wie man einen Trank in einen anderen umwandelt. Oft sind mehrere Umwandlungen nötig, und ich begriff, dass zum Brauen von Tränken gut durchdachte Planung vonnöten ist. Manchmal ist einer der Tränke, die man auf dem Weg zu seinem Ziel durchläuft, eine Zutat, die man zu einem späteren Zeitpunkt benötigt. Später beobachtete ich genau Máedocs Handgriffe, während er am Kessel arbeitete. Ich entwickelte ein Gefühl für die Alchemie, ohne auch nur einmal einen Trank gebraut zu haben.

Eines Tages, kurz nach der Wintersonnenwende und etwa ein halbes Jahr, nachdem meine Lehre bei Máedoc begonnen hatte, brach klirrende Kälte über die Küste der Einsamkeit herein. Es schneite ohne Unterbrechung. Die Äste der Fichten bogen sich unter den Schneemassen durch, und tat man auch nur einen Schritt vor die Tür, so stand man knietief im Schnee. Das hielt Máedoc jedoch nicht davon ab, seine Pflichten zu erfüllen. Auch an diesem Tag war er wieder allein draußen unterwegs. Die Temperaturen mussten weit unter dem Gefrierpunkt liegen, und egal wie viele Holzscheite ich nachlegte, das Feuer im Kamin vermochte die Kälte nicht aus der Hütte zu vertreiben. Zwar verabreichte Máedoc mir regelmäßig grian, doch noch schien ich weit davon entfernt zu sein, meine innere Sonne ohne fremde Hilfe zu kontrollieren.

Ich stellte mich vor den Kamin und drehte mich wie ein Braten am Spieß, den es von allen Seiten zu rösten galt. So ließ sich die Kälte einigermaßen ertragen. Dabei kam ich nicht umhin, immer wieder einen Blick in den Kessel zu werfen, dessen blassgrüner Inhalt über dem Feuer brodelte. Die Flammen konnten dem Trank weder schaden, noch verdunstete er, so viel hatte ich begriffen. Er befand sich im Ruhezustand und konnte erst dann wieder verändert werden, wenn man das Feuer mit dem richtigen Pulver fütterte. Wenn ich mich nicht sehr irrte, waren nur wenige Handgriffe nötig, um ihn in grian zu verwandeln. Genauso leicht ließe er sich in seinen jetzigen Zustand zurückführen. Ich zögerte. Würde Máedoc es merken? Er hatte grian schon unzählige Male hergestellt. Ein weiteres Mal würde am Gesamtbild des Kessels nicht viel verändern. Alles was ich brauchte, war eine Prise pulverisierter Vulkanwurz – davon hatte Máedoc ein ganzes Glas –, ein oder zwei getrocknete Lorbeerblätter, die zu dutzenden von der Decke hingen, und einen Schuss Honigwein. Ich ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt breit und spähte hinaus. Ein eisiger Luftzug schnitt mir im Vorbeiwehen ins Gesicht und ließ meine Zähne klappern. Ich sah ohnehin nur weißes Schneegestöber, also schloss ich die Tür wieder. Máedoc war noch nicht lange fort, und für gewöhnlich dauerte es mehrere Stunden, bis er zurückkehrte. Kurzentschlossen holte ich das Glas mit der pulverisierten Vulkanwurz aus dem Regal, nahm eine Prise und streute sie in die Flammen. Sie fauchten wütend, geradezu als wüssten sie, dass ich etwas Verbotenes tat, und züngelten wie die Tentakel eines Seeungeheuers am Rumpf eines Schiffes am Kessel empor. Ich stellte das Glas zurück und nahm den Honigwein vom Tisch, zog den Korken heraus, schnupperte und verzog das Gesicht. Ich gab einen Schuss in den Kessel, woraufhin sein Inhalt schlagartig aufhörte zu sieden. Dann schob ich einen Hocker vor den Kamin, nahm den Rührstab vom Haken und rührte mehrmals im Uhrzeigersinn. Allmählich fing die blassgrüne Flüssigkeit wieder an zu sieden. Wenn ich mich nicht irrte, würde sie gleich eine honiggelbe Farbe annehmen.

Stattdessen wurde sie trüb. In der Mitte des Wirbels, den mein Rühren erzeugte, entstand eine milchige Färbung, die sich allmählich ausbreitete und die bis dahin klare Flüssigkeit weiß färbte. Ich verspürte einen Kloß im Hals und versuchte, Ruhe zu bewahren. Vielleicht, wenn ich ein bisschen weiterrührte …

Als nächstes fing der Trank an zu dampfen. In seinem Zentrum wuchs eine weiße Nebelsäule heran. Ich nahm den Rührstab heraus, stieg vom Hocker und wich zurück. Mit vor Entsetzen weit geöffneten Augen beobachtete ich, wie die Nebelsäule bis unter die Hüttendecke stieg. Was hatte ich getan? Máedoc würde mich verbannen. Ich war so vermessen gewesen, so arrogant, dass ich glaubte, die Alchemie aus Büchern zu beherrschen. Nun hatte ich das Kunstwerk meines Lehrmeisters verdorben.

Die Nebensäule verharrte eine Zeit lang wabernd. Dann begann sie, an der Spitze auseinanderzugehen wie ein Springbrunnen. In meinem von Panik vernebelten Verstand regte sich eine Erinnerung. Etwas, das ich in Máedocs Büchern gelesen hatte. Aber ja! Dieses Phänomen trat typischerweise auf, wenn man einen Trank im Ruhezustand zu schnell und nur kreisförmig rührte. Die Komponenten vermischten sich nicht richtig. Stattdessen wanderten die Schweren zur Kesselwand, die Leichten in die Mitte, wo sie sich verbanden und zu jener springbrunnenartigen Rauchsäule verdampften. Wintergras und eine Prise gemahlenen Eisenerzes im Feuer konnten aushelfen.

Ich kletterte über einen Stuhl auf die Tische. Darauf bedacht, keines der Instrumente umzustoßen, reckte ich mich und pflückte ein paar Wintergrashalme, die dort zum Trocknen hingen. Dann kletterte ich vom Tisch, nahm ein Glas mit gemahlenem Eisenerzpulver aus dem Regal und eilte zum Kessel. Ich warf das Wintergras hinein und gab den Flammen eine Prise des Pulvers. Mit klopfendem Herzen wartete ich.

Langsam schrumpfte die Dampfsäule in sich zusammen. Ich stellte mich wieder auf den Hocker und rührte erneut – dieses Mal langsam und mehrmals durch die Mitte. Stumm flehte ich, dass der Trank nun jene honiggelbe Farbe annähme. Und dann passierte es: Die milchige Verfärbung verblasste. Der Trank wurde klar und sah schließlich aus wie Apfelwein. In triumphaler Geste stieß ich die Fäuste in die Luft. Mein Herz hämmerte immer noch, nun aber hoffnungsvoll. Wieder kletterte ich auf den Tisch, pflückte zwei getrocknete Lorbeerblätter und kehrte zum Kessel zurück. Ich zerbröselte sie darüber, nahm den Rührstab zur Hand und rührte. Einmal im Uhrzeigersinn, einmal durch die Mitte. Nach kurzer Zeit nahm der Trank die für grian typische Farbe erstarrender Schmelze an. Mit zitternden Händen hängte ich den Rührstab wieder an die Wand, nahm die Kelle zur Hand und füllte ein Fläschchen mit dem Trank. Wie Máedoc es mich gelehrt hatte, überprüfte ich Farbe und Geruch. Alles schien zu stimmen. Ich atmete tief ein und wieder aus und trank die Flüssigkeit. Anschließend wartete ich, während ich in mich hineinlauschte. Normalerweise stellte sich die Wirkung des Trankes erst nach wenigen Augenblicken ein. Nun aber schienen die Sekunden zäh wie Baumharz dahinzufließen. Wenn ich einen Fehler gemacht hatte, hatte der Trank bestenfalls keine Wirkung. Schlimmstenfalls würde er mich umbringen.

Und dann spürte ich sie: meine innere Sonne! Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen, während ich kurz die Augen schloss und die Wärme in meine Hände und Füße strömen ließ. Ich hatte mich nicht geirrt! Nun galt es, den Trank in den Ruhezustand zurückzuführen. Dazu brauchte ich lediglich etwas frisches Quellwasser, Fichtensamen und Sonnensalz für das Feuer. Die Fichtensamen mengte ich zuerst dem Trank bei, rührte ein paar Male gegen den Uhrzeigersinn und gab anschließend einen Schuss Quellwasser hinzu. Nun war es wichtig, nicht mehr zu rühren. Ich zählte stumm bis hundert und streute schließlich eine Prise Sonnensalz ins Feuer. Die Flammen nahmen ihre normale Farbe an, und als ich mich auf den Hocker stellte, sah ich, dass auch der Trank wieder blassgrün geworden war. Inzwischen hatte mein Herzschlag sich beruhigt. Ich stieg vom Hocker und schob ihn an seinen angestammten Platz, wischte den Rührstab sauber und füllte eine Wanne mit Schnee. Während der Schnee schmolz, stellte ich alle Gläser und Flaschen, die ich den Regalen entnommen hatte, an ihren Platz zurück. Anschließend wusch ich den Rührstab mit dem Schneewasser und leerte die Wanne aus dem Fenster. Nichts deutete noch daraufhin, dass ich mich an Máedocs Kessel vergriffen hatte.

Als der Druide zurückkehrte, hockte ich neben dem Kamin und las eine Kurzgeschichte aus seiner Sammlung. Natürlich war mir nicht kalt, doch wollte ich, dass Máedoc keinen Verdacht schöpfte.

»Wie ist es dir ergangen, Norin?«, fragte er, hängte den Bärenpelzmantel an die Wand und trat vor den Kamin.

»Gut«, sagte ich mit nicht ganz so fester Stimme wie gewollt. Máedoc runzelte die Stirn, die Augen in den Kessel gerichtet. Er nahm den Rührstab vom Haken und fing an, darin zu rühren. Mit klopfendem Herzen wartete ich. Dann sah er zu mir und sagte: »Lass uns das Abendessen zubereiten. Geh und hol noch ein paar Holzscheite.« Er deutete auf den Vorratsstapel, der sich dem Ende neigte. Ich nickte erleichtert und lief zur Tür hinaus. Máedoc hatte nichts bemerkt, aber das Risiko war es definitiv nicht wert gewesen. Ich schwor mir, nie wieder heimlich den Kessel zu benutzen. Ich bemerkte erst, dass ich vergessen hatte, mir eine Jacke überzuziehen, als ich mit einem Stapel Holzscheite auf den Armen in die Hütte zurückkehrte.

»Lass mich deine Hände fühlen, Norin«, sagte Máedoc. Das Herz sank mir in die Hose. Ich legte die Holzscheite auf dem Boden ab und streckte widerwillig die Hände aus, die trotz der klirrenden Kälte draußen glühend warm waren. Máedoc umfasste sie und sah mir ins Gesicht. Ich konnte förmlich hinter seine Stirn blicken, während er eins und eins zusammenzählte. Würde er mir verzeihen können, was ich getan hatte?

Die Mundwinkel des Druiden zuckten, und ein Lächeln legte sich über seine Lippen. »Du hast es also geschafft«, sagte er. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, und schwieg. »Du hast die Kontrolle über deine innere Sonne ohne grian erlangt. Glückwunsch, Norin. Nur wenigen gelingt dies nach so kurzer Zeit.« Ich schluckte schwer und meinem schlechten Gewissen zum Trotz versuchte ich mich an einem Lächeln. »Von nun an wird es nicht mehr nötig sein, dass ich dir diesen Trank zubereite. Schaffst du es einmal, schaffst du es wieder. Ich bin stolz auf dich.« Das Herz wurde mir schwer. Wenn er mich je wieder frieren sah, wüsste er, dass ich meine innere Sonne in Wahrheit nicht kontrollierte.

Während der folgenden Monate nutzte ich die Zeitfenster, in denen mein Lehrmeister seinen Pflichten als Wächter des Waldes nachging, um grian zu brauen. Damit der Kesselpegel nicht auffällig sank, füllte ich nie mehr als drei Fläschchen ab. Aus Angst, mein Vorrat könne aufgebraucht sein, wenn ich Máedoc das nächste Mal auf einen seiner Ausflüge begleitete, nahm ich den Trank nur zu mir, wenn sich sonst nicht verbergen ließe, dass ich fror.

Von Rund zu Rund wurde es schwerer, Máedocs Trank in grian und wieder zurück zu verwandeln. Wann immer der Druide seinen Kessel benutzt hatte, stand ich vor einer neuen Herausforderung. Auch wenn er sich im Ruhezustand befand, so musste ich doch berücksichtigen, welche Tränke davor gebraut worden waren. Aufmerksamer denn je verfolgte ich jeden Handgriff des Druiden. Die ständige Angst, erwischt zu werden, begleitete mich überallhin wie ein Folklore, der sich an meinen Rücken klammerte. Die Sorge ließ mich viele Nächte lang schlecht schlafen. An manchen Morgen, nachdem ich stundenlang mit offenen Augen dagelegen hatte, überlegte ich, zu Máedoc zu gehen und ihm zu gestehen.

Dann, eines Tages, als der Wind den Duft des nahenden Frühlings herbeitrug, änderte sich die Lage. Wieder einmal ließ Máedoc mich allein. Während ich hinter der Hütte Holz hackte, wie er es mir aufgetragen hatte, ging ich im Kopf bereits die Schritte durch, die nötig waren, um grian herzustellen. Da spürte ich meine innere Sonne, ganz ohne, dass ich den Trank zu mir genommen hatte. An diesem Tag, mehrere Monate, nachdem Máedoc fälschlicherweise angenommen hatte, dass ich grian nicht mehr brauchte, erlangte ich zum ersten Mal ohne fremde Hilfe die Kontrolle über sie. Ich hielt in meiner Arbeit inne. Von einer Sekunde zur anderen war die Angst fort. Monatelang hatte ich ihr Gewicht mit mir herumgetragen. Sie war so alltäglich geworden, dass ich jetzt, da sie mir vom Rücken gerutscht war, das Gefühl hatte zu schweben. Ich hatte es geschafft! Máedoc hatte nichts bemerkt, und ich konnte meine Lehre ganz normal fortsetzen. Ich atmete aus, wandte das Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zu und genoss ihre Wärme. Mit einem Lächeln auf den Lippen und dreimal so kräftig wie zuvor setzte ich meine Arbeit fort.

Während des folgenden Monats fand ich etwas über mich heraus, das mich selbst überraschte. Ich langweilte mich. Die ständige Angst, Máedoc könne mich erwischen, war nicht nur eine Belastung gewesen, sondern auch eine Herausforderung. Máedocs Lektionen waren interessant, aber nicht genug, um meinen Wissensdurst zu stillen. Warum erlaubte er mir nicht, Tränke zu brauen? Warum ließ er mich so oft allein in seiner Hütte zurück, wo die Stunden ungenutzt verstrichen? Mehrmals, während ich ihn dabei beobachtete, wie er einen Trank braute, bemerkte ich, dass er Fehler machte. Keine schlimmen Fehler, doch machten sie seine Tränke weniger wirkungsvoll und verschlechterten das Gesamtbild des Kessels. Ich sprach ihn nie darauf an. Welcher Erwachsene würde sich schon von einem siebenjährigen Jungen belehren lassen? Doch der Mythos der Weisheit, der Máedoc umgeben hatte, verblasste. Es juckte mir in den Fingern, einen eigenen Kessel zu beginnen. Eines Tages konnte ich mir nicht verkneifen, etwas zu sagen.

Máedoc arbeitete konzentriert an seinem Kessel. Es handelte sich wohl um einen komplizierten Trank; jedenfalls kompliziert genug, dass er gar nicht erst versuchte, mich einzubeziehen. Ich hielt mich im Hintergrund auf wie ein Schatten. Es dauerte nicht lange, bis ich wusste, woran er sich versuchte: an einem Wärmedünger, der es Pflanzen ermöglichte, auch bei Frost zu gedeihen. Allerdings nahm der Kesselinhalt nicht die sonnengelbe Farbe an, die in Máedocs Büchern beschrieben wurde, und auch der Geruch ähnelte weniger Gold-Lauch als Lavendel. Statt in Sonnenlicht gereiftem Quellwasser hatte Máedoc geschmolzenen Schnee verwendet, was durchaus vertretbar war, wenn man eine Prise Zahnmehl einer giftigen Gelbnatter ins Feuer streute. Auch das hatte Máedoc getan, und dennoch nahm der Kessel nicht den gewünschten Zustand an. Mir brannte auf der Zunge, von dem zu berichten, was ich in einem abgelegenen Winkel von einem seiner Bücher gelesen hatte. Vor etwa drei Runden hatte Máedoc einen Schlaftrunk angerührt und dazu in Mondlicht gereifte Mohnblumenmilch verwendet. Nun machte es aber einen Unterschied, ob man die Mohnblumenmilch in einem Winter- oder einem Sommermond reifen ließ, wie ein Alchemist namens Ivain der Hexer durch eine langjährige Versuchsreihe festgestellt hatte. Dies hatte keinen Einfluss auf den Schlaftrunk gehabt, weshalb Máedoc – sofern er überhaupt von Ivains Forschungsergebnissen wusste – die Versuche des Hexers vermutlich als unbedeutend abgetan hatte. Ich jedoch erinnerte mich an das Gesetz einer anderen Alchemistin: Das Gesetz der Erhaltung wirksamer Substanzen von Nurien, der Gelehrten. Dieses Gesetz besagt, dass eine wirksame Substanz, die keinen Einfluss auf den Trank nimmt, im Kessel verbleibt, bis ein Trank gebraut wird, mit dem sie sich verbinden kann. Mit anderen Worten: Das Wintermondlicht nahm nun Einfluss auf Máedocs Dünger und machte ihn unbrauchbar. Dieser Einfluss konnte neutralisiert werden, wenn man das Zahnmehl der giftigen Gelbnatter mit dem Glühstaub eines Irrlichtes vermischte, bevor man es ins Feuer streute. Vorsichtig schlug ich Máedoc vor, genau dies zu tun.

Der Druide schüttelte den Kopf. »Wie kommst du nur auf solche Ideen, Norin?«, murmelte er, die Stirn in konzentrierte Falten gelegt. »In der Alchemie ist nichts dem Zufall überlassen. Man kann nicht einfach willkürlich irgendwelche Dinge ausprobieren.« Ich war versucht, ihm zu gestehen, dass ich in seinen Büchern gelesen hatte. Der Druide seufzte. »Im letzten Jahr hat es funktioniert, aber ich werde es wohl gut sein lassen müssen.«

Als Máedoc mich das nächste Mal allein ließ, stellte ich den Dünger her, an dem er gescheitert war. Die vielen Monate, während derer ich grian aus den unmöglichsten Ausgangslagen des Kessels hatte brauen müssen, hatten mir das nötige Selbstvertrauen im Umgang mit der Alchemie verliehen. Anschließend führte ich den Kessel in den Ruhezustand zurück und träufelte den Dünger über das Beet hinterm Haus. Falls Máedoc überhaupt auf den Gedanken käme, ich könnte dahinterstecken, würde ich behaupten, dass der Dünger vom letzten Jahr noch wirken musste. Die Erkenntnis, dass Máedoc nicht unfehlbar war, gab mir den Mut zu lügen. Ich schätzte ihn und seine Lehre. Doch ich erkannte bald, worin er sich von den Autoren seiner Bücher, die zu meinen heimlichen Lehrmeistern geworden waren, unterschied. Für ihn war die Alchemie eine Kunst, keine Wissenschaft, und bis zu einem gewissen Maße gab ich ihm Recht. Mit dem, was es zu forschen gab, könnte man vermutlich ganze Bibliotheken füllen. Die schiere Menge an Möglichkeiten machte es ausgeschlossen, die Alchemie systematisch zu erlernen. Und doch konnte es hilfreich sein, sein künstlerisches Verständnis für diese Disziplin mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu ergänzen.

An Beltane, etwa ein Jahr, nachdem meine Lehre begonnen hatte, führte Máedoc mich zu einem weiteren im Wald verborgenen Steinkreis. Die Sonne malte goldene Flecken auf den moosbedeckten Waldboden und versprach, dass es ein warmer Tag werden würde. Vogelgezwitscher und das Trommeln eines Spechts begleiteten uns. Der Morgennebel hatte sich verzogen und der Geruch nach würzigen Tannennadeln hing in der Luft.

»Dieser Steinkreis ist kein synaígischer Ort«, erklärte der Druide und berührte einen der drei Feldsteine mit seinem Stab. »Er wurde von unseren Ahnen errichtet. Siehst du die Knotenmuster?« Auf jeder dem Zentrum zugewandten Fläche der Feldsteine war mit schwarzer Farbe ein normarisches Knotenmuster abgebildet. Jedes war mit einem anderen Symbol kombiniert worden: einer Bärentatze, zwei ausgebreiteten Schwingen und einem heulenden Wolfskopf. »Du hast bereits am eigenen Leib erfahren, dass wir Talente in uns tragen, derer wir uns nur bewusst werden müssen. Magische Orte wie dieser Steinkreis bergen weitere Talente, die wir in uns aufnehmen können. Wähle ein Tier, das dein Begleiter werden soll. Lege deine Hand auf die Tatze, wenn es der Bär sein soll, auf die Schwingen für die Krähe oder auf den Wolf. Die Tiere sind unsere Freunde, Norin.«

»Warum töten und essen wir sie dann?«, fragte ich und musterte der Reihe nach die Knotenmuster.

»Indem wir die Tiere essen«, erklärte Máedoc, »leben sie in uns weiter. Wir nehmen alles in uns auf, das sie je erfahren haben. Das Leben endet nicht ohne Grund, junger Norin. Um zu wachsen, müssen wir leiden. Doch das Leid hinterlässt Narben, macht uns älter. Der Tod am Ende eines langen Lebens ist eine Erlösung. Er befreit uns von all den Narben, die uns das Leben zugefügt hat. Unser Herz hört auf zu schlagen, ja, aber wir verschwinden nicht einfach. Pflanzen und Würmer ernähren sich von unserem Leib, nehmen uns in sich auf. Tiere fressen die Pflanzen, andere Tiere fressen jene, die uns in sich aufgenommen haben. Bald sind wir ein Teil von allem und unser Leid verliert sich in endloser Weite.«

Ich trat ins Innere des Steinkreises und fühlte mich schlagartig leichter. Ein Kraftstrom schien hier dem Boden zu entspringen und der Schwerkraft entgegenzuwirken. Der Wald wurde dunkel. Die Bäume und Máedoc waren nur noch als schwarze Schemen zu erkennen. Die Feldsteine hingegen schienen nun direkt vom Sonnenlicht angestrahlt zu werden. Ich glaubte, ein Flüstern zu hören, als forme das Rascheln von Laub Worte im Wind. Ich drehte mich einmal um die eigene Achse. Bär, Krähe oder Wolf. Wer sollte mein Begleiter sein? Ich sah zu dem Feldstein mit der Bärentatze. Máedoc trug eine Tätowierung von genau diesem Symbol auf der linken Brust. Also hatte er sich für den Bären entschieden? Ich hätte ihn fragen sollen. Nun schien es unmöglich, auch nur ein Wort hervorzubringen. Die Kraft dieses Ortes erfüllte mich, hemmte mein Denken. Ich fühlte, dass ich den Steinkreis nicht verlassen konnte, ehe ich eine Entscheidung getroffen hatte. Ich atmete tief ein und tat einen Schritt auf den Bären zu. Das Flüstern schwoll an, der Wald wurde noch dunkler und der Stein erstrahlte so hell, als käme das Licht nun aus ihm selbst. Keines der drei Tiere war so stark wie der Bär. Ein Wolf könnte ihn allenfalls im Rudel schlagen. Die Krähe aber war zweifellos am schwächsten. Dafür konnte sie fliegen. Sie konnte Dinge sehen, die Wolf und Bär verborgen blieben. Konnte Botschaften und kleine Gegenstände überbringen und einen Gegner aus der Luft überraschen. Ich wandte mich um und blickte zum Feldstein der Krähe. Er war ebenfalls dunkler geworden, doch als ich näher trat wurde er so hell wie zuvor der des Bären. Das Flüstern veränderte sich. Ich ging weiter, bis ich direkt davorstand, und wusste, dass ich mich entschieden hatte. Ich streckte die Hand aus und legte die Handfläche auf das Knotenmuster.

Im selben Moment erwachten brennende Schmerzen wie tausend Nadelstiche auf meiner linken Brust. Ich öffnete den Mund zu einem Schrei, doch der Schmerz und die alles ausfüllende Kraft dieses Ortes erstickten den Laut und mein Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem Polster aus Moos nicht weit vom Steinkreis entfernt. Máedoc saß zwischen Farn und Schwefelporlingen auf einem umgestürzten Baumstamm. Dank seines pilzüberwucherten Mantels fügte er sich nahtlos in seine Umgebung. Ich richtete mich auf und zuckte zusammen, als Schmerz in meiner linken Brust aufflammte. War ich verwundet? Ich lüpfte mein Hemd und staunte nicht schlecht, als ich eine Tätowierung ähnlich der Máedocs auf meiner linken Brust entdeckte: ein normarisches Knotenmuster kombiniert mit dunklen Schwingen.

Der Ruf einer Krähe hallte durch den Wald – ein dreifaches Krächzen – und mir war, als hieße sie mich willkommen.

»Du hast dich für die Krähe entschieden«, sagte Máedoc feierlich und erhob sich von dem Baumstamm. »Steh auf, junger Norin.« Darauf bedacht, Arm und Schulter auf der linken Seite nicht zu belasten, erhob ich mich. »Du bist der Berufung eines Druiden soeben einen Schritt nähergekommen. Von nun wirst du alle drei Jahre zu Beltane die Kraft eines anderen Steinkreises kennenlernen. In genau neun Jahren, wenn du dein sechzehntes Lebensjahr vollendet haben wirst, legst du die Prüfung des Druiden ab: Du wirst mit nichts als einem Messer bewaffnet gegen einen ausgewachsenen Bären kämpfen. Nach dieser Prüfung wirst du ein Druide sein oder tot. Wenn unsere Ahnen dir die Kraft geben, den Bären zu besiegen, wirst du dir aus seinem Fell einen Mantel machen, der dich als einen der unsrigen ausweist.« Aus irgendeinem Grund beunruhigten mich diese Aussichten nicht. Vielleicht, weil der Tag der Prüfung noch in ferner Zukunft lag. Mit sechzehn Jahren wäre ich zu einem Mann herangewachsen. Ich hatte viel Zeit, um mich vorzubereiten, und ich vertraute Máedoc, dass er mir ein guter Lehrmeister sein würde. Gewiss würde er bis dahin weitere Talente in mir geweckt haben, und solange ich nicht ausgerechnet gegen Maturnus kämpfen müsste, sollte ich die Prüfung bestehen können.

»Du wirst bei der Prüfung keine Tränke verwenden dürfen«, sagte Máedoc, während wir durch den Wald zurück zu seiner Hütte gingen, »aber dein Begleiter – die Krähe – wird dir helfen.« Ich verzog das Gesicht, und Máedoc schmunzelte. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Aber täusche dich nicht. Novizen, die sich für den Bären entscheiden, müssen die Prüfung ohne ihren Begleiter bestehen. Sie können nicht von ihm verlangen, dass er jemanden seinesgleichen tötet.«

»Ihr habt den Bären gewählt, nicht wahr?«, fragte ich mit Blick dorthin, wo die Tätowierung auf Máedocs Brust unter seinem Bärenpelzmantel verborgen lag. Der Druide nickte. »Was bedeutet es, einen Begleiter zu haben?«

»Das Tier, für das du dich entschieden hast, ist dein Verbündeter«, erklärte Máedoc. »Verwechsle es nie mit einem Diener! Ich werde dich lehren, mit ihm zu kommunizieren, aber sei dir im Klaren: Die Krähe wird dich immer nur so gut behandeln wie du sie. Doch genug der ernsten Themen. Heute ist Beltane. Geh zu deiner Mutter und hilf ihr, das Fest vorzubereiten. Und dann iss und trink und steck etwas in Brand, wie es die Tradition verlangt.«

Von diesem Tag an braute Máedoc mir regelmäßig feanna, einen Trank, der mir die Kontrolle über das Talent gab, das mir der Steinkreis verliehen hatte. Auch wenn ich nicht mit den Krähen kommunizieren konnte, so spürte ich doch ihre Anwesenheit; und sie die meine. Ihr Krächzen verstummte, wenn sich die Wirkung von feanna in mir entfaltete, und ich fühlte, wie sie aufmerksam mit den Köpfen ruckten.

Feanna war deutlich komplizierter herzustellen als grian, was mich aber nicht davon abhielt, es zu versuchen. Allerdings ließ ich mir Zeit. Wieder einmal beobachtete ich Máedoc genau. Sobald ich allein war, blätterte ich in seinen Büchern auf der Suche nach Artikeln über feanna. Zwei Monate später braute ich den Trank zum ersten Mal selbst.

Weitere drei Jahre meiner Lehre verstrichen, ohne dass Máedoc mir erlaubte, mich daran zu versuchen, Tränke zu brauen. An Beltane kam etwas in unser Dorf, das viele seiner Bewohner ihrer Lebtage nicht zu sehen bekommen hatten. Der Festtag fiel auf einen Last, was bedeutete, dass ich die Nacht in der Hütte meiner Mutter verbracht hatte. Mehrmals erwachte ich, weil ein heftiges Synaígiegewitter tobte. Am Morgen weckte mich mein aufgeregt pochendes Herz. Heute würden wir endlich zu jenem Steinkreis gehen, der mir das Talent verleihen würde, mit meinem Tierbegleiter zu kommunizieren. Als ich wenig später zu Máedocs Hütte aufbrach, sah ich es: vor unserer Küste ankerte ein Schiff. Es war eine Handelskogge, nichts Besonderes, doch ich für meinen Teil hatte noch nie ein größeres Schiff gesehen. Es hatte ein Rah- und ein Vorsegel, die beide eingeholt waren. Seitlich an seinem hölzernen Rumpf befanden sich drei kleine Schaufelräder, die dem Gefährt Ähnlichkeit mit einem sechsrädrigen Karren verliehen.

»Es ist ein Synaígieschiff aus Numium«, erklärte Morven, einer der Fischer, als ich ihn danach fragte. Er hatte eine finstere Miene aufgesetzt. »Siehst du die Schaufelräder? Sie werden mit synaígischer Energie angetrieben. So können sie fahren, auch wenn es windstill ist. Das Gewitter von gestern Nacht hat sie überrascht, und der Antrieb ist ihnen durchgebrannt.« Entgeistert blickte ich zu dem Schiff. Die Synaígie zu gebrauchen, war eine Sünde, doch die Besatzung des Schiffes machte keinen Hehl daraus, noch schien es Grund zur Sorge zu geben, sie könnten wie die Frau im Steinkreis enden. So wie Morven über die Technologie des Schiffes gesprochen hatte, schien die Synaígie nichts weiter als eine Form von Energie zu sein, nicht das Bewusstsein einer höheren Macht.

»Wie lange werden sie bleiben?«, fragte ich.

Morven zuckte die Achseln. »Nur so lange, bis die ihren Antrieb repariert haben«, sagte er. »Sittenloses Pack! Was haben diese Numiumer erwartet, wenn sie sich mit synaígischer Technologie abgeben? Aber wir können sie wohl kaum an Beltane zurückweisen. Außerdem bezahlen sie gut.«

Sobald ich in Máedocs Hütte angelangt war, berichtete ich ihm von dem Schiff.

»Ich habe schon davon erfahren«, sagte der Druide abweisend. »Gehen wir, Norin. Ein weiterer Steinkreis wartet auf uns.«

Ich zögerte. »Druide Máedoc! Dieses Schiff … es wirkte so … selbstverständlich. So, als ob die Numiumer genau wüssten, was sie tun.«

Máedoc drehte sich zu mir um. »Und?«, fragte er. In diesem einen Wort schwang eine Warnung mit. Ohne dass er es aussprach, wusste ich, dass ich mich auf dünnem Eis bewegte.

»Dieses Schiff fährt ohne Wind und ohne Ruder«, sagte ich gequält, »und scheinbar besteht keine Gefahr für seine Besatzung.«

»Die Synaígie«, setzte Máedoc an und seine Augen blitzten drohend, »ist ein verbotenes Element. Hast du verstanden, Norin?« Ich nickte und senkte beschämt den Kopf. Und dennoch kam ich nicht umhin, mich zu fragen, wieso.

Der Druide ging vor mir in die Hocke, sodass wir uns auf Augenhöhe befanden, und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Die Technologie der Numiumer mag dir nützlich erscheinen«, sagte er versöhnlich, »aber vergiss niemals: Die Energie, mit der sie ihr Schiff antreiben, ist ein Bewusstsein. Es lauert darauf, die Kontrolle über alles und jeden zu bekommen, und wann immer wir die Synaígie gebrauchen, gestehen wir ihr ein kleines Bisschen dieser Kontrolle zu.«

Ich schluckte schwer. »Ich verstehe, Druide Máedoc.«

Mein Lehrer nickte zufrieden. »Nun lass uns gehen. Heute ist ein besonderer Tag für dich, Norin, denn heute wirst du dem Kreis der Arboris beitreten.«

»Dem was?« Ich hob den Blick und sah mit Erleichterung, dass der finstere Ausdruck aus Máedocs Augen verschwunden war.

»Du wirst sehen«, sagte er und erhob sich. »Gehen wir.«

An diesem Tag führte Máedoc mich in einen unbekannten Bereich des Waldes. Irgendwann gelangten wir an eine von mächtigen Bäumen umringte Lichtung, in deren Zentrum ein weiterer Steinkreis stand.

»Dies sind die Arboreten«, sagte Máedoc und wies mit weiter Geste auf die Baumriesen rundherum. »Es sind Mammutbäume, eine Sorte, die normalerweise nur in weit entfernten Kontinenten wächst. Es gibt keine Erklärung dafür, wie sie hierhergelangten.« Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte auf zu den Ästen der Baumriesen, die sich wie Tentakel aus ihren mächtigen Stämmen schlängelten.

Wir gingen zu dem Steinkreis im Zentrum der Lichtung, einem Ring aus katzengroßen Steinbrocken, in deren Mitte ein über drei Meter hoher Megalith in den Himmel ragte.

»Muss ich wieder etwas wählen?«, fragte ich, den Blick an die Spitze des Steinblocks geheftet.

»Nein«, sagte Máedoc. »Du musst nur in die Mitte treten und die Hand auf den Stein legen.« Ich atmete tief ein und trat in den Ring aus Steinen. Wie beim letzten Mal verdunkelte sich die Welt um mich herum. Obwohl die Sonne am Himmel stand, und es ein wolkenloser Tag war, lag nun ein dunkler Schatten über der Lichtung. Mit jedem Schritt, den ich auf den Megalith zutat, wurde die Dunkelheit dichter. Die Steine hingegen fingen an zu strahlen, zuletzt hell wie die Sonne. Je näher ich dem Zentrum des Steinkreises kam, desto deutlicher hörte ich das Flüstern des Windes aus den Kronen der Arboreten. Es kam von allen Seiten, überlagerte sich zu einem Chor raschelnder Stimmen. Doch anstatt zu einem weißen Rauschen zu verschmelzen, war jede Stimme ein weiteres Klangbild, das sich wie die Schicht eines bunten Kupferstiches in das Gesamtbild einfügte. Als ich unmittelbar vor dem Megalith stand, verstand ich sie. Sie flüsterten meinen Namen! Norin … Norin … Mein Herz schlug schmerzhaft stark, und ich atmete schwer, als hätte ich soeben einen Sprint zurückgelegt. Ich hob die Hand und während ich mit der Handfläche dem Megalith immer näher kam, wurde das Flüstern der Bäume stetig lauter. Norin … Norin … In dem Moment, da ich die kühle, glatte Oberfläche des Steins berührte, ertönte ein Krachen wie von einem Baum, den ein Blitz der Länge nach spaltete. Ich zuckte zurück. Ein armlanger Ast, der geradewegs aus dem Himmel zu fallen schien, landete im Rund des Steinkreises auf dem weichen Gras.

Von einer Sekunde zur anderen war die Dunkelheit von der Lichtung gewichen. Das Flüstern war verstummt, und die Steine leuchteten nicht mehr. Mein Herzschlag und Atem beruhigten sich. Mein Blick fiel auf den Ast. Er musste von einem der Mammutbäume stammen, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, wie er hier, so weit entfernt von den Stämmen, gelandet war. Fast schien es, als habe einer der Bäume ihn hinübergeworfen.

Ich ging zu dem Stück Holz und sammelte es ein. Erst jetzt bemerkte ich, dass es kein gewöhnlicher Ast war. Er war schnurgerade und obwohl er zweifellos von den Mammutbäumen stammte, war seine Oberfläche so glatt und robust wie geschliffenes Fichtenholz. Am Auffälligsten jedoch war ein Bernstein, der aus einem seiner Enden ragte, als wäre das Harz dort ausgetreten und noch zu Lebzeiten des Baumes versteinert. Er verlieh dem Ast das Aussehen einer kürzeren Version von Máedocs Stab. Ich hob ihn auf und sah zu dem Druiden. Mein Lehrmeister nickte mir zu, und ich verließ den Steinkreis.

»Du bist nun ein Arboris«, sagte er feierlich. »Du wirst bald lernen, die Sprache der Bäume zu verstehen, und eines Tages wirst du mit ihrer Hilfe mit deinem Tierbegleiter kommunizieren können. Deinen Stab solltest du von nun an immer bei dir tragen. Beschütze ihn so gut, wie du als Druide die Bäume beschützen wirst. Falls du ihn verlierst oder er zerstört wird, kannst du die Arboreten um eine zweite Chance bitten. Verwehren sie sich dir, wirst du nicht in den Kreis der Druiden aufgenommen.« Ich nickte mit ernster Miene. »Noch ist er nicht zu vielem zu gebrauchen, aber wenn du einem Naturgeist begegnest, wird er in deinen Stein einziehen und dir neue Möglichkeiten eröffnen.«

»Was meinst du damit?«, fragte ich und betrachtete ehrfurchtsvoll den Stab.

»Nun, zum Beispiel bin ich mir sicher, dass bereits ein Sonnengeist in deinem Stein wohnt«, sagte Máedoc. »Streiche mit der Hand durch die Luft darüber und sprich latha.« Ich tat, wie er mir aufgetragen hatte, und der Bernstein erstrahlte in goldenem Licht. »Mit dem Wort stad löschst du ihn wieder. Es gibt weitaus mächtigere Geister an den verborgenen Orten unseres Planeten. Sie sind Teil des dritten Elements, also der materiellen Welt, und wenn du die richtigen findest, kannst du mit ihrer Hilfe wahre Wunder wirken.«

Während wir zu Máedocs Hütte zurückkehrten, ruhte mein Blick fast unablässig auf meinem neuen Besitz. Wenige Zentimeter unterhalb des Bernsteins ragten zwei dünne Zweige aus dem Holz, an dem die Nadeln einer Fichte grünten. Máedocs Stab hingegen stammte ganz eindeutig von einer Eiche, wie seine Blätter verrieten.

»Viele Wege führen zum Ziel, junger Norin«, sagte Máedoc, als ich ihn danach fragte. »Als du dich für die Krähe entschieden hast, hast du einen anderen Weg eingeschlagen als ich damals. Deshalb erhieltest du auch einen anderen Stab von den Arboreten.«

»Werde ich später noch einen bekommen?«, fragte ich.

»Wie kommst du darauf?«

»Meiner ist sehr klein«, erwiderte ich und hielt den Stab empor. »Noch ist er genau richtig, aber wenn ich groß bin, brauche ich einen großen Stab wie du.«

»Der Stab wird mit dir wachsen«, antwortete Máedoc. »Er lebt, junger Norin, und er ist jetzt mit dir verbunden.«

Während wir durch den Wald gingen, glaubte ich, das Flüstern der Arboreten verfolge mich. Erst als wir die Hütte erreichten und ich den Wind hörte, der durch das Laub von Máedocs Eiche strich, wurde mir klar, dass ich es mir nicht nur eingebildet hatte. Das Rascheln klang wie immer, doch verstand ich es nun, als hätte ich binnen eines Vormittags eine fremde Sprache gelernt.

Norin, flüsterte die Eiche. Ich blieb stehen und starrte sie an.

»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte Máedoc. Ich sah mit aufgerissenen Augen zu ihm, zu verstört, um den Schalk in seinem Blick blitzen zu sehen.

»Der Baum«, sagte ich. »Er spricht zu mir!« Máedoc nickte, und das Lächeln hinter seinem struppigen Bart verriet mir, dass ich nicht verrückt geworden war.

»Das ist die Gabe der Arboris«, sagte er. »Auch die Tiere besitzen sie. Die Bäume sind die Schnittstelle zwischen ihnen und uns Menschen.« Eine Brise ließ das Laub der Eiche erzittern, und sie verriet mir flüsternd ihren Namen: Eidolon.

Am Abend warf ich, wie es die Tradition verlangte, einen verbrauchten Gegenstand in den brennenden Holzhaufen, den die Dörfler während der vergangenen Runde in der Dorfmitte aufgeschichtet hatten: ein Hemd, aus dem ich herausgewachsen war, zu abgerissen, um es weiter zu verschenken. Anschließend holte ich etwas Hefeteig, wickelte es um das Ende eines langen Stocks und hielt es über die Glut des Feuers. Es war die Aufgabe der Kinder, das Brot über dem Freudenfeuer zu backen, während die Frauen kochten. Zu Beltane bereiteten sie ein Bankett aus köstlichen Speisen zu, das eines Königs würdig gewesen wäre: gebratener Fisch in Honigmarinade, mit fremdländischen Kräutern verfeinerte Butter, Ziegen- und Schafskäse, Schalen gefüllt mit süßen Äpfeln und Birnen, Kuchen, Wein, Bier und Saft und natürlich das Stockbrot der Kinder. Der Geruch der Speisen vermischte sich mit dem Rauch des Feuers. Kinnon, der Sänger, und sein Sohn spielten eine fröhliche Melodie auf ihren Leiern. Trotz allem herrschte keine ganz so ausgelassene Stimmung wie sonst. Die Fremden aus Numium hatten Kisten mit Waren zum Tausch im Hafen abgestellt und obwohl sie versicherten, dass sie in den nächsten Tagen weiterziehen würden, prophezeiten viele düster, dass sie und ihre schändliche Technologie das Dorf vergifteten.

Auch jetzt trug ich den Stab bei mir. Inzwischen wusste jeder, dass ich Máedocs Lehrling war. Mein Lehrmeister hatte mich vorgewarnt, dass das Leben eines Druiden das eines Außenseiters war. Trotzdem hatte ich festgestellt, dass zumindest die Erwachsenen mich nicht als solchen behandelten – insbesondere die Alten. Sie erzählten gerne, und ich mochte es, ihnen zuzuhören. Man lernte bisweilen interessante Dinge. Brent, der Spieler, hatte mir gezeigt, wie man beim Münzspiel betrog. Nicht, dass er es je getan hätte, wie er mir versichert hatte. Doch wenn man einen Betrüger entlarven wollte, musste man wissen, wie er vorging. Una, die Falsche, eine alte Frau, die ich seit Beginn meiner Lehre mit Tränken von Máedoc zur Behandlung ihrer Gicht versorgte, erzählte mir bei jedem Besuch, wie man vorgab, jemand anderes zu sein. Sie sei einst mit einer Gruppe von Spielleuten durch Normar gereist und hätte in der Blüte ihres Lebens oft auf der Bühne gestanden.

Sogar Otis, der Trinker, hatte etwas an mich weitergegeben und mir gezeigt, wie man ein Loch in einem Fischerboot flickte.

Die Kinder jedoch wechselten nur selten ein Wort mit mir. An manchen Tagen waren flüchtige Blicke ihrerseits das einzige Anzeichen dafür, dass sie mich überhaupt wahrnahmen. Aus Angst, zurückgewiesen zu werden, wagte ich nicht, mich zu ihnen zu gesellen.

So auch heute: Während ich das Stockbrot über der Glut drehte, schielte ich zu ihnen hinüber. Die Jungs hatten sich wie immer um ihren Anführer, den großen Pit, versammelt und lachten und rauften und ärgerten die Mädchen. An Tagen wie Beltane störte es mich, der Außenseiter zu sein. Für gewöhnlich war ich froh, meine Zeit nicht mit sinnlosen Streichen zu vergeuden, wie Steine auf Hasen zu werfen oder Klopfmännchen zu spielen. Nun aber fühlte ich mich einsam.

Eines Abends, etwa zwei Runde später, als ich an Healthhain auf dem Weg zur Hütte meiner Mutter den Hafen durchquerte, sah ich ihn und die übliche Schar seiner Nachläufer. Sie standen um eine der mannshohen Kisten herum, die größtenteils wieder an Bord des Schiffes gebracht worden waren.

Ich war schon an ihnen vorbei, als Pit rief: »Sonderling.« Ich blieb stehen und wandte mich um. Aller Blicke ruhten auf mir. »Komm her, Sonderling.« Trotz des Spitznamens wirkten seine Worte einladend. Wenn dies der Preis war, um dazuzugehören, würde ich ihn ohne Weiteres zahlen. Schließlich nannten sie den kleinen Lugh auch Würstchen. Nervös mit dem unteren Ende meines Stabes spielend trat ich näher. Der alte Erin hatte mir einen Ledergurt angefertigt, den ich mir über die Schulter legte, sodass ich den Stab auf dem Rücken tragen konnte.

»Morven meint, die Numiumer reisen morgen ab«, sagte er und nickte zum Schiff. »Wir wollen etwas von ihrem Kram klauen. Bist du dabei?« Ich schwieg entgeistert. In den Gesichtern der anderen spiegelte sich gespannte Erwartung. Sie wollten mich testen. Wollten wissen, ob ich ein Feigling war. Oder eine Petze. Ich schluckte. Stehlen war falsch. Aber vielleicht konnte ich mir mit ein bisschen Mut einen Namen unter den Jungen machen.

Ich nickte.

»Wusste ich doch, dass du ein mieser kleiner Dieb bist«, sagte Pit mit jäh finsterer Miene. Er gab zwei anderen Jungen ein Zeichen, die an mir vorbeigingen und sich hinter mir positionierten. »Was hast du denn da für einen albernen Stab?« In einer schnellen Bewegung grabschte er an meinem Gesicht vorbei nach dem Stab und zog ihn aus der Lederschlaufe.

»Nicht!«, rief ich und wollte vorstürmen. Doch die beiden Jungen hinter mir hielten mich an den Schultern zurück. »Lasst mich los!«

Pit drehte den Stab im Licht der untergehenden Sonne. »Versuchst du diesem Druidenkauz nachzueifern?«, fragte er spöttisch. »Hast du auch schon Spinnen in der Hose?« Die anderen Kinder lachten.

»Hab ich nicht!«, rief ich und kämpfte gegen den Griff der Jungen an. »Gib ihn zurück!« Aber Pit grinste nur. Er ging zu der Kiste und bedeutete einem seiner Freunde, eine Räuberleiter zu formen. Mit einem Fuß in den verschränkten Händen seines Helfers öffnete Pit den Deckel der Kiste und warf meinen Stab hinein.

»Nein!« Mit einem kräftigen Ruck gelang es mir, mich loszueisen. Pit sprang auf den Boden zurück und sah mit belustigter Miene zu mir, während ich auf der Suche nach einer Möglichkeit, in die Kiste zu gelangen, darum herumrannte. Schließlich begann ich unter schallendem Gelächter der Umstehenden an den Eisenbeschlägen emporzuklettern. Bäuchlings rutschte ich über die Kante und fand mich im Innern der Kiste wieder. Sie war bis zur Hälfte mit Spanschachteln unterschiedlicher Größe gefüllt. Ich entdeckte den Stab in einem Spalt zwischen den Stapeln. Draußen johlten die Kinder: »Sonderling, Sonderling, wir werden dir ein Liedchen sing’.« Ich hockte mich hin und streckte meinen Arm in den Spalt. Meine Finger schlossen sich um den Bernstein … »Hast ein Herz für Tiere groß und viele Spinnen in der Hos’.« Ich wurde rot vor Wut und Scham.

»Hee, Kiinder!«, rief plötzlich jemand mit dem unverkennbaren Akzent der Numiumer. »Weg von der Kisteee!« Ich erstarrte. Wenn der Numiumer mich hier drin fand, würde er denken, ich hätte ihn bestehlen wollen. Die Kinder riefen erschrocken, und ein gutes Dutzend Paar Füße rannte trommelnd in alle Richtungen davon. Ich kauerte mich in der Kiste zusammen und gab keinen Ton von mir. Draußen fluchte jemand in einer fremden Sprache. Etwas scharrte. Sollte er den Deckel zuschlagen, würde ich auf mich aufmerksam machen müssen. Noch aber bestand eine kleine Chance, dass ich ungeschoren davonkam.

Eine Zeit lang hörte ich nichts. Auch keine Schritte, die sich entfernten. Waren sie vom Rauschen der Wellen verschluckt worden? Ich kroch zur Kistenwand und spähte durch einen Spalt. Niemand war zu sehen. Vorsichtig lugte ich über den Rand der Kiste. Auch nichts. Sollte ich tatsächlich Glück haben?

Im nächsten Augenblick senkte sich ein Schatten über mich herab. Ich hatte gerade noch Zeit, mich umzudrehen und den Kistendeckel zu sehen, der auf mich zufiel, als er mir auch schon auf den Kopf schlug.

Dreizehn. Der Gletscher. Band 4

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