Читать книгу Dreizehn. Der Gletscher. Band 4 - Carl Wilckens - Страница 9
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Alionas Erscheinung wirkte surreal im flackernden Licht von Waterstones Gasleuchte. Wie hatte ich sie nicht bemerkt? Selbst im Schlaf blieb meine Intuition wachsam, und das seitlich geschlitzte Kleid, das sie trug, war nicht gerade dazu gemacht, sich leise zu bewegen. Vielleicht war ich schlicht übermüdet.
Ich unterdrückte den Impuls, ihr mit der Machete zu drohen. Ich hatte nicht vergessen, wie Esper mit einer simplen Geste mein Herz vergiftet hatte. Doch Aliona war vielleicht die Einzige, die wusste, wie ich Emily zurückholen konnte. Ich stellte mich besser gut mit ihr.
Rocío sah mich und Aliona abwechselnd an. Wie zufällig fiel ihr das Haar über das lädierte Auge, sodass es die Verätzung verdeckte, die sie sich zugezogen hatte, als ihr tragbares Minilabor, eine braune Umhängetasche, in Flammen aufgegangen war. »Kennst du sie?«
Ich nickte. »Das ist Aliona«, sagte ich und begegnete dem Blick der Hibridia. Obwohl es windstill war, wehte der Mantel aus Schatten um ihre Schultern fast so, als triebe er schwerelos im Wasser. »Ich möchte dich etwas fragen.«
»Du möchtest wissen, wie Esper mich ins Leben zurückholte, um selbiges mit deiner Schwester zu tun«, sagte Aliona zu meiner Überraschung. »Lasst mich euch etwas zeigen.« Mit vielsagendem Lächeln nickte sie zu der Treppe zu ihrer Rechten. Rocío und ich sahen uns an. Nur das Licht von Waterstones Gasleuchte stand zwischen mir und der Dunkelheit. Erlosch es, bräche sie über mich herein. Sie würde den menschlichen Teil meiner Persönlichkeit ersticken und mich in eine mörderische Bestie verwandeln, die in jedem eine potentielle Gefahr sah. Obwohl Waterstone uns garantiert hatte, dass das Gas der Leuchte noch einige Stunden vorhalten würde, waren Rocío und ich stillschweigend übereingekommen, sobald wie möglich an die Oberfläche zurückzukehren.
Die Alchemistin schien zu ahnen, was in mir vorging. Mit einer knappen Geste bat sie Aliona zu warten. Obwohl von ihrem Minilabor nicht mehr viel übrig war, fehlte es ihr nicht an dem, was sie brauchte, um das Feuer unter ihrem Kessel zu entzünden und seinen Inhalt in jenen Trank zu verwandeln, der mir die Runenmatrix zeigen würde. Während ich aus der Kelle trank, spürte ich Alionas neugierigen Blick. Sicherheitshalber füllte Rocío ein Glas mit dem Trank, verkorkte ihn und reichte ihn mir. Schließlich nickte ich ihr zu, und wir folgten der Hibridia die Treppe hinab in einen dunklen Gang. Im Schein von Waterstones Lampe bemerkte ich quadratische Öffnungen in der Decke, durch die Erde und Schutt hereingestürzt waren. Nach und nach blühten Runen in dem unterirdischen Bauwerk auf. Solange mich die goldenen Schriftzeichen begleiteten, würde ich ich selbst bleiben, auch wenn Waterstones Gasleuchte verlosch. Erfahrungsgemäß hielt die Wirkung von Rocíos Trank mehrere Stunden an. Im Flüsterton erzählten mir die Runen die Geschichte dieses Ortes. Der Wunsch, stehen zu bleiben und ihnen zu lauschen, wurde nur von meiner Neugierde darauf übertroffen, wohin Aliona uns bringen mochte.
Wir gelangten bald an eine weitere Treppe, die von dem Gang abzweigte. Nach nur wenigen Stufen begann sie, sich in engen Kurven hinabzuschrauben. Befanden wir uns in einem verschütteten Turm? Während wir der schier endlosen Wendeltreppe folgten, sprach Aliona: »Die Stadt, die ihr Treedsgow nennt, wurde auf den Ruinen von Ad Etupiae errichtet, der wohlhabendsten Metropole des antiken Kontinents. Einst gab es hier den Stern von Ad Etupiae. Mit der Götterdämmerung stürzten die Berge rundherum ein und begruben diesen Ort unter sich.« Ich konnte hören, dass sie lächelte. »Ein Jammer, dass ihr ihn nie zu Gesicht bekommen werdet.«
Der Treppengang mündete schließlich in einen Saal, so weit, dass das Licht von Waterstones Lampe nicht ausreichte, um ihn auszuleuchten. Nur anhand der Runen ließ sich erahnen, wo die Wände links und rechts von uns waren. Vor uns …
»Bei Lotin«, flüsterte Rocío. Auch mir stockte der Atem. Was zunächst ausgesehen hatte wie bizarr geformte Arkadengänge, stellte sich als mehrere Dutzend turmhohe Bücherregale heraus. Das Licht von Waterstones Gasleuchte verlor sich in den Gängen dazwischen. Die Auren der Bücher schienen vor goldenen Runen zu bersten. In der Ferne verschmolzen die Schriftzeichen zu einem einzigen goldenen Licht. Vor jedem Zugang zu den Gängen stand eine Kabine, deren Zweck sich mir nicht erschließen wollte. Dahinter versperrte ein Eisengitter den Weg.
»Die Bibliothek von Ad Etupiae«, verkündete Aliona und breitete in feierlicher Geste die Arme aus. Ihre Stimme hallte von den Wänden wider. »Seit Jahrtausenden schützt eine synaígische Formel diesen Ort vor dem Verfall. Meiner Einschätzung nach gibt es immer noch genug Energie, um ihn weitere tausend Jahre zu konservieren.« Sie wandte sich zu uns um. »Wenn ihr an diesem Ort nicht die Antworten auf eure Fragen findet, dann an keinem.«
»Und?«, fragte ich kühl und sah Aliona herausfordernd an. Sie hatte uns zu einem Heuhaufen geführt und mitgeteilt, dass irgendwo dort die Nadel läge, die wir suchten. »Kannst du uns wenigstens sagen, wo das Buch ist, das wir suchen?«
Alionas Augen blitzten dunkel. »Ich habe dir ein Geschenk gemacht, Godric End«, sagte sie und kam bedrohlich langsam näher. »Ich verstoße bereits gegen das Gebot der Neutralität, und zwar aus reinem Wohlgefallen. Wenn du das nicht zu würdigen weißt, vergeude nicht länger meine Zeit.« Direkt vor mir kam sie zum Stehen. Sie war fast so groß wie ich. Ein Geruch nach Nelken umgab sie, so dezent, dass ich mich fragte, ob es ein Parfüm war oder ihr eigener Körpergeruch. Etwas an der Art, wie sie mich anfunkelte, ließ mich ahnen, dass sie gefährlicher war, als sie wirkte. Sie brauchte keine Drohung aussprechen, um mich wissen zu lassen, dass sie mich wie Esper mit einer knappen Geste töten konnte. Allerdings brauchte es umgekehrt auch nicht viel mehr.
Provokant furchtlos begegnete ich ihrem Blick. »Du lügst«, sagte ich. »Man muss kein Menschenkenner sein, um zu wissen, dass jemand wie du nichts aus Wohlgefallen tut.« Einige Sekunden lang maßen wir uns mit Blicken. Wie bei meiner ersten Begegnung mit Limbania stellte ich fest, dass die Gefahr, die von dieser Frau ausging, mich nicht einschüchterte, sondern anzog.
Alionas Mundwinkel zuckten. »Oh, Godric«, sagte sie, als spräche sie mit einem Jungen. Sie hob eine Hand und berührte die Kerbe in meiner Augenbraue. »Wenn du wüsstest … Du bist nichts weiter als ein Werkzeug einer höheren Macht. Ein äußerst wichtiges, zugegebenermaßen. Esper bereut bis heute, dich nicht getötet zu haben, als er die Gelegenheit dazu hatte.«
»Du könntest das für ihn erledigen«, entgegnete ich. »Oder irre ich mich?«
»Gewiss könnte ich das.« Aliona zeigte ein süßes Lächeln, das nicht zu ihren Worten passen mochte. »Jeder von uns hat das Töten auf seine ganz eigene Weise perfektioniert. Leider ist es bis heute eine unserer nützlichsten Fähigkeiten. Doch das Gesetz der Neutralität verbietet es mir.«
»Es hat Esper nicht davon abgehalten, mich zu vergiften.«
»Du hast ihn mit einer Waffe bedroht«, erwiderte die Hibridia. »Sein Leben war in Gefahr. Damit hattest du mit dem Gesetz gebrochen. Mein Bruder hat lediglich das Gleichgewicht wiederhergestellt. Nein, ich bin nicht hier, um dich zu töten. Ich bin hier, um dir einen kleinen Schubs in die richtige Richtung zu geben.« Ihre Hand ruhte nun auf meiner Brust. Ihr Gesicht hatte einen mütterlichen Ausdruck angenommen. »Unsere Wege werden sich gewiss wieder kreuzen, Godric. Du bist unsereins ähnlicher, als du ahnst. Freiwillig würdest du in keine Schlacht ziehen. Jedoch verfolgst du deine Ziele mit einer solchen Verbissenheit, dass du nicht merkst, wenn du in die Kriege anderer verwickelt wirst.« Die Hibridia wandte sich ab und verließ den Lichtkreis von Waterstones Gasleuchte. Ich blickte ihrer Gestalt nach, die nach nur wenigen Schritten nahtlos mit der Dunkelheit verschmolz, und lauschte ihren leiser werdenden Schritten und deren Echo. War ich wirklich jemandes Werkzeug? Und wenn schon … Was interessierte mich, wenn mich jemand benutzte, solange ich bekam, was ich wollte? Ich sah zu Rocío, die Aliona mit finsterer Miene hinterher sah. Sie bemerkte meinen Blick und bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck.
»Was für eine Hexe«, kommentierte sie.
Ich hob die Brauen. »Hexe?«
»Hast du sie nicht gesehen? Ihr schwarzes Kleid, die schwarzen Handschuhe, der Lippenstift. Sie sieht aus, als wäre sie auf dem Weg zum Blutfest eines Vampirbarons. Warum putzt sie sich so heraus?«
»Was weiß ich«, erwiderte ich desinteressiert und ließ den Blick über die Bücherregale schweifen. Ich war zu müde, um auch nur einen Gedanken an eine solche Banalität zu vergeuden. »Lass uns nach oben zurückkehren. Ich werde alle Hilfe brauchen, die ich auftreiben kann, um hier zu finden, was wir brauchen.« Waterstone würde diesen Ort gewiss mit Begeisterung auskundschaften. Abgesehen davon brauchte ich Schlaf. Es musste schon weit nach Mitternacht sein. In der vergangenen Nacht hatte ich nur wenige Stunden unruhigen Schlafs in der Welt hinter den Spiegeln gefunden. Die Runen in der Dunkelheit um uns herum flüsterten und kreisten in den Auren ihrer jeweiligen Gegenstände, dass mir schwindelig wurde.
»Ich wette, sie gefällt dir«, sagte Rocío, während wir uns auf den Rückweg machten.
»Hm-hm«, machte ich, ohne auch nur den Sinn ihrer Worte zu verstehen.
»Muss die Art sein, wie skrupellos sie bereit ist zu töten«, fuhr die Alchemistin fort. Sie klang bitter. »Ich wette, ihre Aura ist genauso schwarz wie deine.« Erst jetzt, da sie es erwähnte, fiel mir auf, dass Aliona keine Aura gehabt hatte. Wie verbarg die Hibridia sie?
Rocíos Worte fielen auf keinen fruchtbaren Boden. Das Einzige, was sie erntete, war Schweigen, und so verstummte auch sie.
»Wir müsse weiter nach rechts, denke ich«, sagte sie nach einer Weile frostig.
»Ich weiß. Aber dort ist etwas!« Rocío folgte meinem Fingerzeig und bemerkte scheinbar erst jetzt die pulsierende Aura von etwas auf dem Boden: ein Buch. Schlagartig verflog meine Müdigkeit. Hatte Aliona am Ende doch die Nadel für uns gefunden? Wir traten näher. Der Titel auf dem Einband war in Runenschrift verfasst. Durch das dritte Auge betrachtet leuchtete sie und flüsterte mir ihre Bedeutung zu:
Erwachen
Die Memoiren von Norin, dem Unbezwungenen
Gründer der neuen Welt
Teil 1
Das klang nicht nach einem alchemistischen Rezept. Ich schlug das Buch auf und ein zusammengefaltetes Stück Papier fiel heraus. Ich faltete es auseinander und erkannte, dass es sich um eine Karte von Dustrien handelte. Die Städte waren nicht dort, wo sie sein sollten. Auch die Namen, die mir die Runen zuflüsterten, stimmten nicht mit den Karten überein, die ich kannte. Numium, Tabulon, Noviomaridum, Ad Etupiae …
Letzteres war eine Stadt dort, wo Treedsgow ist. Hatte Aliona nicht erwähnt, dass Ad Etupiae die wohlhabendste Metropole des antiken Kontinents gewesen war? Es musste eine Karte des antiken Dustriens sein.
Ich blätterte um und sah, dass der Inhalt des Buches von Hand verfasst worden war. Ich las die ersten beiden Sätze: Das ist das Ende. Das Ende der Welt, so wie wir sie gekannt haben.
Stirnrunzelnd betrachtete ich noch einmal die Titelseite.
Erwachen …
Möglicherweise erwähnte dieser Norin doch irgendwo, wie man jemanden mithilfe der Alchemie ins Leben zurückholte. Ich klemmte mir das Buch unter den Arm und nickte dorthin, wo sich irgendwo der Zugang befinden musste, durch den wir hereingelangt waren.
Eine halbe Stunde später erreichten wir die Oberfläche und kehrten zurück zum Haus von Professor Waterstone. Rocío zog sich wortlos in das Zimmer zurück, das der Professor ihr zugeteilt hatte, und ich betrat den Raum, den ich mir mit Jasper teilte. Nachdem der Izzianer mehrere Viertel lang in der Welt hinter den Spiegeln gefangen gewesen war, schlief er nun zum ersten Mal wieder auf dieser Seite. Er wälzte sich unruhig hin und her, wobei er unablässig murmelte: »Lass mich raus. Lass mich raus!« Ich boxte ihm gegen die Schulter, woraufhin er sich nach Luft schnappend aufsetzte und hektisch umblickte.
»Du bist nicht mehr auf der anderen Seite«, sagte ich. Jasper murmelte einen Fluch in seiner Muttersprache und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Ich verstaute Norins Autobiographie in der Schublade meines Nachttisches, zog mich aus und legte mich ins Bett. Hatte ich bis zu diesem Moment geglaubt, dass ich dringend Schlaf nachholen musste, so begriff ich jetzt, dass ich nicht zur Ruhe kommen würde. Das Geflüster der Auren und die goldenen Schriftzeichen, die sich auch dann nicht ausblenden ließen, wenn ich die Lider schloss, hängten sich an mein Bewusstsein wie Auftriebskörper, die verhinderten, dass es im Meer der Träume versank. Ich dachte an Emily. Wie verzweifelt war meine Hoffnung wirklich? Vielleicht stimmte, was Aliona sagte. Womöglich ließ mir jemand Williams Tagebuchseiten zukommen, um mich für seine Zwecke zu benutzen. Bei diesem Gedanken regte sich mein finsterer Kern. Solange mir dieser jemand zu Emily verhalf, war mir egal, dass er mich benutzte. Sollte die Person mir jedoch falsche Hoffnungen machen, dann Gnade ihr Zuris.
Meine Gedanken kehrten zu dem Buch zurück. Hatte Aliona es dorthin gelegt? Oder jener Unbekannte, dessen Werkzeug ich war? Vielleicht enthielt es eine Antwort. Ich musste es lesen. Aber erst brauchte ich Schlaf. Schlaf … Schlaf …
Ich stöhnte genervt, als Jasper im benachbarten Bett wieder anfing zu murmeln. Ich setzte mich auf, holte das Buch aus der Schublade und schlug es auf. Unter gewöhnlichen Umständen hätte ich in der Dunkelheit kein Wort lesen können. Durch das dritte Auge jedoch betrachtet schienen die Schriftzeichen von innen heraus zu leuchten. Sie zu lesen, war, wie einer Lesung zu lauschen.
Ich blendete Jaspers von kurzen panischen Schreien durchzogenes Murmeln aus und tauchte ein in die Geschichte von Norin, dem Unbezwungenen.